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Kursiv: Überraschend aktuell

Wer vor 30 Jahren nach Brokdorf zog, um sich im Strahl der Wasserwerfer waschen zu lassen, hatte Robert Jungks Buch "Der Atomstaat" in der Tasche. Und auch heute noch lohnt sich ein Blick in diesen Klassiker der politischen Literatur.

Von Georg Ehring | 20.09.2010
    Atome für den Frieden unterscheiden sich nicht prinzipiell von Atomen für den Krieg. Mit dieser provozierenden These brachte Robert Jungk im Jahr 1977 eine neue Richtung in die Debatte über die Atomkraft: Nicht nur die Technik sei höchst riskant und im Grunde nicht beherrschbar. Viel schlimmer noch sei die Gefahr eines "Atomstaats": Als Nebenwirkung der notwendigen Überwachung der Nuklearanlagen drohe eine umfassende Überwachung der Menschen.

    Generationenlang andauernde radioaktive Zerfallsvorgänge mit ihren Strahlengefahren für alles Lebendige müssen von da an sorgfältigst und in Permanenz kontrolliert werden. Jahrzehnte-, Jahrhunderte-, Jahrtausendelang. Überschreitet die Zahl zu bewachender Installationen und Entsorgungslager einen bestimmten Punkt, so muss strenge "Überwachung" und "Kontrolle" über einen sehr langen Zeitraum hinweg das politische Klima prägen.
    Und darauf kam es Jungk an - mehr noch als auf die Atomtechnik selber. Die Gefahr, dass etwas schief gehen, Saboteure sich Zutritt zu Atomreaktoren verschaffen oder spaltbares Material in unbefugte Hände geraten könnte, werde als Rechtfertigung für eine immer weiter gehende Einschränkung von Freiheitsrechten missbraucht.

    Staat und Wirtschaft werden immer mehr einer großen Maschine gleichen, und es kann nicht gestattet werden, dass man ihr Funktionieren stört. Das verlangt der "Sachzwang". Einzelne oder gar Gruppen, die sich widersetzen könnten, werden "gesiebt", "zermalmt", "ausgerottet", "auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen", "als rückständig angeprangert" oder - das Wort stammt von einem Professor der Informationstechnik - "amputiert".
    Demgegenüber steht für Jungk die Anti-Atom-Bewegung für eine menschlichere Gesellschaft. In sieben Kapiteln schildert er, wie die Atomtechnologie Menschen und mit ihnen die Gesellschaft als Ganzes verändert - zum Beispiel Arbeiter und Manager in Reaktoren und Wiederaufarbeitungsanlagen, Terroristen, die mit neuen Möglichkeiten größere Zerstörungen anrichten können, und Anwohner und scheinbar unbeteiligte Bürger, die sicherheitshalber überwacht werden müssen. Es ist die Schilderung von Schicksalen, die das Buch spannend und lesbar und die Argumente nachvollziehbar macht. Jungk liefert nicht nur sachliche Belege, sondern will vor allem den Leser an seinen subjektiven Gedanken und Einschätzungen teilhaben lassen.

    Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumzukunft mit sich bringen muss, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt an ihrer Verharmlosung mit. Es gibt Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen muss, eine Entwicklung zu steuern und das zu verhindern, was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gebracht hat.
    Vielleicht hat die Kraft der Gefühle geholfen. Jedenfalls kann man 33 Jahre nach der Veröffentlichung sagen, dass manches anders gekommen ist als Jungk damals befürchtete.

    Der Atomstaat ist nicht entstanden - zwar müssen Nuklearanlagen auch heute mit großem Aufwand geschützt werden, doch dies prägt nicht das Klima der Gesellschaft. In Bezug auf die ungelösten technischen Probleme der Kernenergie ist das Buch manchmal überraschend aktuell - viele Fragen harren auch heute noch einer Lösung. Es reicht, hier auf die ungelöste Frage der Endlagerung von radioaktivem Abfall zu verweisen.

    Auch wenn "Der Atomstaat" keine Realität geworden ist - Robert Jungks Buch war eine Pionierleistung, wenn es darum ging, über die gesellschaftlichen Folgen neuer Techniken nachzudenken. Die Frage, was die Technik mit den Menschen macht, bleibt aktuell.

    Georg Ehring war das über: Robert Jungk: "Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit". Von diesem Buch hat es mehrere Ausgaben gegeben, sie sind allesamt nur noch antiquarisch zu erhalten.