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Kursiv: "Von den Menschen erzählen und von ihrem Schmerz"

Den Vorwurf des Völkermords an den Armeniern weist die Türkei bis heute zurück. Erst seit wenigen Jahren werden in der türkischen Literatur Stimmen hörbar, die sich mit dem Schicksal der anatolischen Armenier auseinandersetzen und mit der Last dieser Vergangenheit. Einen Meilenstein setzte dabei die Rechtsanwältin Fethiye Cetin 2004 mit ihrem Buch "Anneannem" - zu deutsch "Meine Großmutter". Susanne Güsten hat es gelesen und die Autorin getroffen.

    Die Geschichte ihrer armenischen Großmutter erzählt Fethiye Cetin, aber zugleich auch ihre eigene Geschichte - denn bis ins Erwachsenenalter wusste Fethiye Cetin selbst nichts von ihren armenischen Wurzeln. Wie Millionen andere Türken war sie zum Stolz auf die glorreiche türkische Nation erzogen worden und rezitierte als Schülerin an Nationalfeiertagen begeistert patriotische Gedichte über die ruhmreiche Vergangenheit der Türken. Als ihre Großmutter kurz vor ihrem Tod das Geheimnis lüftete, dass sie als armenisches Kind von einem türkischen Offizier aus dem Deportationszug gerettet und von seiner Familie aufgezogen worden war, zog diese Enthüllung der Enkelin zunächst den Boden unter den Füßen weg.

    Ich hatte nicht die Kraft, weiter zuzuhören. Nur mit äußerster Anstrengung konnte ich mich davon abhalten, schreiend und weinend davonzulaufen. Was meine Großmutter mir da erzählte, passte zu nichts von dem, was ich wusste. Es stellte die Welt auf den Kopf und zerschlug alle meine Werte in tausend Trümmer.
    Jahre brauchte Fethiye Cetin, um diesen Schock zu verarbeiten, dann schrieb sie alles nieder. Dass ihre Geschichte an ein Trauma rührt, das die türkische Identität bis heute tief prägt, zeigt der Erfolg ihres Buches, das vier Jahre nach Erscheinen schon in der achten Auflage ist - in der Türkei ist das eine Sensation. Anders als andere Autoren, die sich mit dem Schicksal der Armenier befassen, hat Fethiye Cetin es nicht mit der Staatsanwaltschaft zu tun bekommen, wegen Beleidigung des Türkentums oder ähnlicher Vorwürfe. Auch keine einzige negative Kritik ist erschienen, berichtet die Autorin:

    "Weil es eine menschliche Geschichte ist, glaube ich, berührt es die Menschen tief. Gegen eine Lebensgeschichte gibt es einfach nichts zu sagen. Und genau deswegen habe ich das Buch ja geschrieben."
    Weil sich die türkischen Leser mit ihr identifizierten, konnte Fethiye Cetin ihnen das Schicksal ihrer Großmutter Heranusch und die Ereignisse von 1915 mit einer Deutlichkeit schildern, die von anderen Autoren kaum akzeptiert worden wäre. In langen Passagen des Buches lässt Cetin ihre Großmutter selbst berichten:

    Meine Mutter war so ängstlich darauf bedacht, beim Marsch nicht ans Ende der Kolonne zurückzufallen, dass sie immer sehr schnell ging, und weil wir nicht mitkamen, zog sie uns an den Händen mit. Hinten in der Kolonne konnten wir Menschen schreien, weinen und flehen hören. Jedes Mal ging meine Mutter dann noch etwas schneller, um uns daran zu hindern, uns umzudrehen und zurückzublicken. Am Abend des ersten Tages auf dem Marsch kamen zwei meiner Tanten von hinten vorgerannt, sie weinten hysterisch. Eine andere Tante, die Frau meines Onkels, war krank und hatte nicht mehr laufen können. Da haben die Gendarmen sie mit dem Bajonett getötet und ihre Leiche an den Straßenrand geworfen.
    So nahe und menschlich zeichnet Fethiye Cetin in ihrem Buch das armenische Mädchen Heranusch und seine Familie, dass der Leser ihren Leidensweg von innen miterlebt. Wohl kaum ein Leser, und stehe er der Völkermordsthese noch so skeptisch gegenüber, hat ohne Tränen die Szene lesen können, in der die junge Heranusch ihrer Mutter entrissen wird: Die muss alleine weiterziehen in den sicheren Tod. Kaum erträglich ist eine Passage, in der Heranuschs Großmutter zwei ihrer Enkeltöchter im Fluss ertränkt, um sie nicht halbtot am Wegrand liegen lassen zu müssen, und sich dann selbst in die Fluten stürzt. Das Schicksal einer einzigen armenischen Familie hat die Türken stärker berührt als alle historischen Dokumente oder politischen Argumente. Eine Brücke, die nur die Kunst schlagen kann, meint Fethiye Cetin:

    "Ich bin ja eigentlich Juristin. Aber den Schmerz von 1915 kann man mit der Kälte des Rechts nicht vermitteln. Ich wollte von den Menschen erzählen und von ihrem Schmerz, weil kein Gesetz, kein Prozess und keine Strafe die 1915 erlebten Schmerzen ausdrücken kann. Die Literatur ist dabei sehr wirksam. Ein Schriftsteller kann den Schmerz eines Menschen sichtbar machen, und der Leser kann ihn sehen. Darum geht es."

    Susanne Güsten über "My Grandmother. A Memoir”. So der Titel des Buches von Fethiye Cetin in der englischen Übersetzung, die gerade beim Verso-Verlag London/New York erschienen ist. Der Umfang: 114 Seiten, der Preis im Internethandel etwa 18 Euro.