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Kurt Sontheimer: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik

In vielen Publikationen hat sich Kurt Sontheimer mit Standardwerken sowie mit vielen Aspekten der deutschen Politik und Gesellschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auseinandergesetzt. So auch in seinem überarbeiteten und wieder neu aufgelegten Buch

Matthias von Hellfeld | 06.10.2003
    Kurt Sontheimer - vor wenigen Wochen wurde er 75 Jahre alt – ist ein exzellenter Kenner der Geschichte der Bundesrepublik. Bis zu seiner Emeritierung galt er als eine der Größen seines Faches, der die Entwicklung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland entscheidend mitprägte, zunächst am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und später dann als Ordinarius am Geschwister-Scholl-Institut in München.

    Die nun wieder verfügbare Geschichte der Adenauer-Ära basiert auf einer ersten Veröffentlichung, die kurz nach der deutschen Wiedervereinigung erschienen ist. Sontheimer hat sie um zahlreiche Forschungsergebnisse ergänzt, so dass ihm eine ebenso aktuelle wie gut lesbare und kundige Darstellung der ersten Jahre unserer Republik gelungen ist.

    Einer etwas eigenwilligen Gliederung folgend stehen am Anfang kurze Portraits der entscheidenden Akteure der Adenauer–Ära. Neben dem "Alten aus Rhöndorf" sind das vor allem der erste Bundespräsident Theodor Heuss und der sozialdemokratische Oppositionsführer Kurt Schumacher, die in den jeweils unterschiedlichen Rollen der jungen und von der nationalsozialistischen Vergangenheit schwer belasteten Republik ihren prägenden Stempel aufdrückten. Es war das Zusammenspiel dieser drei politischen Repräsentanten, die am Anfang der Erfolgsstory namens "Bundesrepublik" standen. Während sich der Liberale Theodor Heuss durch seine sorgsam aufrecht erhaltene Überparteilichkeit aus der Tagespolitik heraushielt, führten die parlamentarischen Rededuelle zwischen Adenauer und Schumacher dem deutschen Volk die politischen Alternativen plastisch vor Augen. Das nicht immer reibungslose Zusammenspiel zwischen Regierung und Opposition wurde so zum demokratischen Normalfall und Stabilisator der Nachkriegsjahre:

    Repräsentierte Kurt Schumacher die nicht zum Zug gekommene politische Alternative, Theodor Heuss den verfassungspolitischen Konsens, auf den die neue Demokratie sich zu bewegte, so repräsentierte Konrad Adenauer eine von Erfolg gekrönte Politik, die der Bundesrepublik ihren Standort in der Weltpolitik, ihrem politischen System Stabilität und ihren Bürgern wachsenden Wohlstand und zunehmende Sicherheit verlieh. (S.21)

    Auf dieser Basis, die sich von den Weimarer Verhältnissen ebenso abhob wie sich die junge Republik vom Nationalsozialismus distanzierte, beschreibt Sontheimer im Folgenden die Geschichte der Adenauer–Ära bis zu dem von der eigenen Partei erzwungenen Rücktritt des ersten Kanzlers am 11. Oktober 1963. Aber er belässt es nicht bei der Beschreibung der politischen Ereignisse, von denen es in den ersten 14 Jahren wahrlich genügend Aufregendes zu berichten gibt. Sontheimer interessiert auch die Sozialstruktur des neuen Staates, seine kulturelle und künstlerische Entwicklung und nicht zu letzt die Entwicklung der Verfassungsorgane, die den politischen Weg der Bundesrepublik lenkten.

    Schließlich macht Sontheimer vier große Kontroversen aus, um die in der Kanzlerschaft Adenauers gerungen wurde. Das war zum einen die Wiederbewaffnung der Republik, die von den einen als Remilitarisierung abqualifiziert und von den anderen als deutscher Wehrbeitrag im Kalten Krieg gegen den sich in diesen Jahren ebenfalls etablierenden Ostblock verharmlost wurde. Zum anderen stritten die Antipoden der öffentlichen Meinung um die Kanzlerdemokratie, die vom Grundgesetz vorgesehen war und von Adenauer in einer Art und Weise ausgeübt wurde, die den von ihm gegängelten Ministern kaum Luft zum Atmen ließ. Über allem schwebte der Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit, der in vielen Reden beschworen, aber kaum politisch bekämpft wurde. Am schärfsten aber war die Kontroverse um die Frage der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

    Während die SPD einen strikten Vereinigungskurs fuhr und jede Form der Westintegration der Bundesrepublik als Hemmnis für das vorrangige Ziel der Wiedervereinigung brandmarkte, ließ Adenauer keinen Zweifel an seiner Strategie, die auf eine möglichst rasche und möglichst endgültige Bindung der Bundesrepublik an den Westen hinauslief:

    Er wollte die Bundesrepublik so eng wie möglich an den Westen binden, zum einen, weil sie auf diesem Wege am ehesten zu einem gleichberechtigten souveränen Staat werden konnte (...) und zum anderen, weil allein diese Westbindung, insbesondere der militärische Schutz durch die westliche Vormacht USA, Deutschlands Sicherheit gewährleisten konnte. (S. 187)

    Ohne Zweifel hatte die Westintegration im politischen Konzept Adenauers Vorrang vor der Wiedervereinigung. Daraus ist ihm häufig der Vorwurf gemacht worden, ihn habe das Schicksal des anderen Deutschland nicht genügend interessiert. Als der Bundeskanzler im August 1961 scheinbar umgerührt seinen Bundestagswahlkampf fortsetzte, während in Berlin die Mauer hochgezogen wurde, war dieser Vorwurf besonders deutlich zu hören. Neuere Forschungen räumen aber nun mit diesem Urteil auf. Tatsächlich war Adenauer davon überzeugt, dass die deutsche Wiedervereinigung dann eine echte Chance bekäme, wenn sich die krisenhaften Entwicklungen im sowjetischen Herrschaftsbereich ausweiteten und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine weitere Konfrontation mit dem Westen für die Machthaber in Moskau schwierig, wenn nicht unmöglich machen würden. Die politischen Entwicklungen haben ihm zu Lebzeiten nicht Recht gegeben, doch sind seine Überlegungen bedenkenswert, weil genau diese Ursachen – wenn auch 30 Jahre später – zur Beendigung des Ost-West-Konflikts und zur deutschen Einheit geführt haben:

    Wenn Adenauer von Wiedervereinigung sprach, dann hatte er immer nur die Einbeziehung des anderen Deutschland in eine westliche Demokratie im Sinn, nicht eine Fusion im Sinne einer unguten Mischung von kommunistischer und westlicher Ordnungsprinzipien und erst Recht kein vom Westen losgelöstes neutrales Deutschland. (S. 192)

    Die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 ist ungefähr so verlaufen, wie sie sich Adenauer vorgestellt hat – kein Wunder also, dass sich Helmut Kohl auch in diesem Sinne ganz als Enkel des ersten Kanzlers der Bundesrepublik gefühlt und verstanden hat.

    Das lesenswerte Buch Kurt Sontheimers wird durch einige Quellentexte abgerundet, die auch jüngeren Lesern das politische Flair der Gründerjahre unserer Republik vor Augen führt. Und wem das nicht genügt, der sei auf die Literaturangaben verwiesen, mit deren Hilfe man sich tiefer in die Geschichte der Adenauer – Ära einarbeiten kann.