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Kurze Lunte an der Klimabombe?

Umwelt. - Pünktlich zu den anstehenden Wahlen im Vereinigten Königreich entdeckt Premier Tony Charles Lynton Blair die Klimapolitik neu und erhebt die Abwehr der Erderwärmung zur Chefsache. Derweil diskutieren Experten im südenglischen Exeter, wann der letzte Punkt der Rückkehr im Treibhaus Erde erreicht sein wird und ob sich die Entwicklung überhaupt noch aufhalten lässt. Eine neue Studie behauptet, den Fahrplan der steigenden Temperaturen genau zu kennen.

Von Volker Mrasek |
    Die USA und Australien lehnen das Kioto-Protokoll zwar strikt ab. Doch was manchmal vergessen wird: beide haben die Klima-Rahmenkonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet – so wie 187 weitere Länder der Erde. Die globale Vereinbarung ist schon 15 Jahre alt. Schon damals verständigten sich alle Vertragsstaaten auf ein erklärtes Ziel, nämlich zu vermeiden, dass es – Zitat – "zu einer gefährlichen Beeinflussung des Klimasystems durch den Menschen kommt." Doch wann genau wird es "gefährlich"? Bei welcher Menge Treibhausgase in der Atmosphäre? Bei welcher bodennahen Lufttemperatur?

    Es ist sehr schwierig, da genaue Zahlen zu nennen: eine exakte Temperatur oder Treibhausgas-Menge. Aber wir wissen, dass es im Klimasystem zu Prozessen kommen kann, die unumkehrbar sind...

    ...konstatiert Richard Betts, Physiker und Meteorologe im Hadley-Zentrum für Klimavorhersage und -forschung im englischen Exeter. Schwellenwerte für eine riskante Erwärmung hat denn auch bis heute noch niemand festgelegt. Doch jetzt stehen erstmals Zahlen im Raum. Und die besagen: Die Erde dürfe sich im Mittel um höchstens zwei Grad Celsius erwärmen, verglichen mit dem Jahr 1750, als die Industrialisierung gerade losging. Bei mehr als zwei Grad plus bestehe die Gefahr, dass der Klimawandel entgleite. Ernteverluste und Wasser-Engpässe würden dann immer stärker und könnten nicht mehr gestoppt werden. Auch für manche Ökosysteme sei das Limit dann überschritten, etwa für Korallenriffe. Ihre Lebensgemeinschaften zerbrächen, wenn das Meerwasser zu warm werde. Das alles steht im ersten Bericht einer neu gegründeten Internationalen Task Force gegen den Klimawandel. Das Bündnis besteht aus drei Forschungsinstituten in Großbritannien, Australien und den USA. Wie die Autoren schreiben, sichteten sie die vorhandenen Klimastudien und leiteten daraus die kritische Temperaturschwelle von zwei Grad plus ab – als Schätzwert "auf Grundlage der besten verfügbaren Daten", so die Forscher. Doch wie verlässlich sind solche Schätzwerte? Noch einmal Richard Betts:

    Wir sind noch weit davon entfernt, exakte Schwellwerte anzugeben. Es gibt viele Unsicherheiten, gerade in einem so komplexen System wie dem Klima.

    Auch die Autoren selbst räumen ein: Kein Ausmaß der Klimaerwärmung könne wirklich als "sicher" gelten. Nicht einmal das gegenwärtige. Das sehe man zum Beispiel an der Arktis, wo der Klimawandel "schon heute negative Folgen" habe, weil er dort schneller voranschreitet als sonst wo. Laut dem Bericht dauert es unter Umständen nicht mehr lange, dann sind die zwei Grad plus erreicht. Um 0,8 Grad Celsius hat sich das Klima bereits erwärmt seit vorindustrieller Zeit. Und eine Umkehr des Trends ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Die Welt verbrennt immer mehr Kohle, Öl und Gas; entsprechend nehmen die Kohlendioxid-Emissionen immer stärker zu – und nicht etwa ab. Auch Betts und seine Kollegen vom Hadley-Zentrum nennen in aktuellen Studien jetzt kritische Klima-Schwellenwerte, mit aller Vorsicht. Einer liegt bei plus 2,7 Grad Celsius. Das sei der Punkt, an dem der Eispanzer Grönlands beginne, abzuschmelzen. Einmal in Gang gekommen, sei ein solcher Prozess nicht mehr umkehrbar, fürchten Klimaforscher. Allerdings läuft er wie in Zeitlupe ab: Nach den Prognosen am Hadley-Zentrum würde es mehrere tausend Jahre dauern, das grönländische Festlands-Eis komplett abzutauen. Folgen für den Meeresspiegel hätte die Gletscherschmelze aber von Beginn an. Zurzeit dehnen sich die Ozeane wärmebedingt um ein bis zwei Millimeter pro Jahr aus. Das Schmelzwasser des Grönland-Eises würde den Meeresspiegel um zusätzliche fünf Millimeter jährlich steigen lassen, jedenfalls nach den Berechnungen des Hadley-Zentrums. Die neuen Schätz- und Schwellenwerte kommen gerade recht zum Auftakt der Klimakonferenz in Exeter. Dort wollen sich die geladenen Forscher und Politiker klar darüber werden, bei welchen Treibhausgasmengen sich das Klima noch stabilisieren lässt. Und wie man dieses Ziel überhaupt erreichen kann – trotz stetig steigender Kohlendioxid-Emissionen.