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Kurzzeit-Physik
Die Kürze des Augenblicks

Es begann mit Eadweard Muybridge. 1878 hatte der schrullige Brite ein Pferd an zwölf Fotokameras vorbeilaufen lassen. Ergebnis war eine legendäre Bildfolge: Erstmals zeigte sie detailliert, wie ein Pferd galoppiert und dabei einen Moment lang mit allen vier Hufen vom Boden abhebt. Sein Versuch gilt nicht nur als Vorläufer des Kinofilms, sondern auch als Geburtsstunde einer neuen Disziplin – der Kurzzeit-Physik.

Von Frank Grotelüschen | 01.01.2012
Bei einer Auktion werden Muybridges Bilder versteigert.
Fotografieren, was das menschliche Auge nicht wahrnimmt. Darum ging es dem Fotografen Eadweard Muybridge. Zum Beispiel den Moment, wenn ein Pferd mit allen vier Hufen vom Boden abhebt. (picture alliance / empics / Jane Barlow)
Die Experimentierhalle ist riesig. Sie gehört zu einer weltweit einzigartigen Wissenschaftsmaschine – dem Hamburger Röntgenlaser Flash. Gerade ist Joachim Schulz zur Tür hereingekommen. Doch was der Physiker sieht, gefällt ihm gar nicht: Ein anderes Forscherteam ist viel zu spät mit seinem Experiment fertig geworden und baut erst jetzt seine Apparatur ab. Schulz kann nur untätig danebenstehen und zuschauen.

"Unser Experiment steht da hinten in der Ecke und wartet darauf, angebaut zu werden."

30 Forscher aus mehreren Ländern stehen in den Startblöcken. Ihr Ziel: ein Experiment mit außergewöhnlichen Röntgenblitzen. Blitze, die der Flash-Laser wie am Fließband abfeuert. Blitze, die kurz sind, unfassbar kurz. Schulz:

"Man muss sich das im Prinzip wie Scheiben aus Licht vorstellen. Keine langen Strahlen mehr, sondern Lichtlinsen."

Das Experiment von Schulz und seinen Leuten ist nur ein Beispiel für einen Forschungstrend: hin zu immer kleineren Zeitintervallen, immer kürzeren Zeitspannen – Zeitlupenaufnahmen der Extreme. Mittlerweile machen die Apparate der Physiker Schnappschüsse im Bereich von Femtosekunden. Eine Femtosekunde sind 10-15 Sekunden – der millionste Teil einer Milliardstelsekunde. Zeitskalen, auf denen sich die grundlegenden Prozesse der Materie abspielen: Ein Sonnenstrahl trifft auf das Blattgrün einer Pflanze und bringt dort blitzschnelle Reaktionen in Gang – die Photosynthese. Im menschlichen Körper klappen Proteine auf – ein Teil des lebenswichtigen Stoffwechsels. Und in Atomen springen Elektronen von einer Energiestufe auf die nächste – der Quantensprung wird messbar.

Unsere fünf Sinne sind nicht ansatzweise in der Lage, derart rasante Prozesse zu erfassen: Das menschliche Auge kann pro Sekunde maximal 30 Lichtreize voneinander unterscheiden, als ein nervöses Flackern. Bei mehr als 30 Lichtblitzen nimmt es ein kontinuierliches Bild wahr, ein stetiges Leuchten also. Genau davon profitiert die Fernsehtechnik: 50 Bilder pro Sekunde reichen, um die Illusion eines bewegten Bildes zu erzeugen. Um diese Grenzen der Wahrnehmung zu überwinden, bedarf es der Hilfe der Technik. Die Grundzüge dafür entstanden vor über 100 Jahren – im Wilden Westen der USA.

Kalifornien, 1872. Leland Stanford ist ein wichtiger Mann in dem jungen Bundesstaat. Ein Eisenbahnunternehmer, steinreich. Zwei Jahre lang war er kalifornischer Gouverneur, später wird er eine der arriviertesten Hochschulen der USA gründen – die Stanford-Universität. Seine Leidenschaft aber gilt den Pferden.

"Leland Stanford, who bread horses, wanted to know…"

Stephen Herbert, Experte für die Anfänge der Filmkunst:

"Stanford, der selber Pferde züchtete, war von folgender Frage fasziniert: Wenn ein Pferd schnell trabt – hat es dann zu irgendeinem Zeitpunkt alle vier Hufe in der Luft? Eine Frage, die damals unter den Experten höchst umstritten war. Um sie zu klären, wandte sich Stanford an einen Fotografen und beauftragte ihn, ein Pferd beim Traben zu fotografieren. Eine ziemlich knifflige Sache mit der damaligen Technik."
Am Anfang war die Nassplatten-Fotografie
Der Name des Fotografen: Eadweard Muybridge. Geboren 1830 in Kingston an der Themse unweit von London. Ein unsteter Geist, ehrgeizig und besessen. Ein Glücksritter. Als Muybridge 1872 auf Leland Stanford trifft, nimmt sein Leben eine entscheidende Wendung. Der steinreiche Stanford, der unbedingt wissen will, ob ein Pferd beim schnellen Trab gleichzeitig alle Viere vom Boden hebt, stellt dem Photographen – sollte er die Frage klären – ein hübsches Sümmchen in Aussicht. Doch mit den damaligen Kameras ist es unmöglich, derart schnelle Bewegungen auf Platte zu bannen. Muybridge muss sich etwas einfallen lassen. Herbert:

"Da war zunächst mal die Chemie. Damals verwendete man noch die Nassplatten-Fotografie. Nur: Für das, was Muybridge vorhatte, brauchte er sehr empfindliche Nassplatten. Er hat also wahrscheinlich etwas an ihrer chemischen Zusammensetzung verändert. Ein weiteres Problem: Die meisten Kameras besaßen damals gar keinen Verschluss. Um die Platte zu belichten, nahm man einfach eine Kappe von der Linse und steckte sie ein paar Sekunden später wieder drauf. Für seine Zwecke musste Muybridge einen Kameraverschluss erfinden mit einer sehr kurzen Verschlusszeit. Und soweit es sich heute sagen lässt, schaffte Muybridge Verschlusszeiten von zwei Tausendstel, vielleicht sogar einer Tausendstelsekunde. Extrem schnell für die damalige Zeit."

1874 wird das Projekt abrupt unterbrochen. Muybridge entdeckt: Seine Frau hat einen Liebhaber in der kalifornischen Armee. Am 17. Oktober sucht er ihn auf und spricht:

"Guten Abend, Herr Major. Ich heiße Muybridge, und hier ist die Antwort auf den Brief, den sie meiner Frau geschrieben haben!"

Muybridge hebt sein Gewehr, drückt ab und tötet den Major mit einem Schuss. Herbert:

"Muybridge wurde zwar freigesprochen – die Richter meinten, die Tat sei durch das Motiv begründet gewesen. Dennoch zog er es vor, das Land zu verlassen und für eine Weile nach Guatemala und Panama zu gehen. Erst 1877 kam er zurück und setzte sein Pferdeprojekt auf Stanfords Ranch in Palo Alto fort."

Endlich kann Eadweard Muybridge den entscheidenden Schritt machen: Er stellt zwölf Kameras in einer Reihe auf. Jede von ihnen wird durch eine Art Stolperdraht ausgelöst, den der Fotograf in den sandigen Boden verlegt hat – dort, wo das Pferd entlanglaufen soll. Stephen Herbert:

"Als das Pferd dann an den Kameras vorbeitrabte, berührte es einen Stolperdraht nach dem anderen und löste dadurch die Kameras aus."

Das Ergebnis: Die erste Bilderfolge der Welt. Sie gilt als Vorläufer des Kinofilms – und als Geburtsstunde der Kurzzeit-Physik.

"Als Stanford die Ergebnisse sah, war er ziemlich überrascht: Die Stellung der Beine beim Trab war ganz anders als erwartet. Aber die Fotografien bewiesen eines: Im schnellen Trab hebt das Pferd mit allen Vieren vom Boden ab!"

Joachim Schulz: "Es gab hier und da mal Verzögerungen. Aber jetzt steht alles so, wie es stehen sollte."
Durchleuchtete Viren und Mikroben
Die Flash-Halle in Hamburg. Endlich haben Joachim Schulz und seine Leute ihre Apparatur an den Riesenlaser anschließen können. Das Herzstück: eine Art mutierter Kühlschrank. Schulz:

"Unsere Hauptkammer. Die Kammer nennen wir Bauhaus wegen des geraden und einfachen Designs."

Bauhaus ist luftleer gepumpt, es herrscht ein Milliardstel des normalen Luftdrucks. Durch Fenster kann man in das Innere blicken. Von vorn kommen die Blitze aus dem Laser. Hinten sind drei Spezialkameras montiert. Sie nehmen das von den Proben gestreute Röntgenlicht auf.

"Das sind im Prinzip dieselben Kameras, die man heutzutage in Digitalkameras benutzt. Aber sie sind gekühlt auf -80 Grad, um das Rauschen zu vermeiden."

Der Aufbau soll die kleinsten Lebewesen überhaupt durchleuchten – Viren und Mikroben. Ein Beschleuniger, 300 Meter lang, bringt winzige Elektronenpakete bis fast auf Lichtgeschwindigkeit und lenkt sie dann in meterlange Spezialmagnete. Diese zwingen die Elektronen auf eine Slalombahn, wodurch die Teilchen Röntgenblitze aussenden – stark gebündelt und extrem kurz. Schulz:

"Wenn man normale Röntgenaufnahmen machen würde mit langer Belichtung, würden die Zellen kaputtgehen, bevor man genug Licht drauf gestreut hat, um ein Bild zu sehen. Wir versuchen das zu umgehen, indem wir den Strahl so kurz halten, dass die Zelle abgebildet wird, bevor sie kaputt geht."

Als wollte man ein Kartenhaus fotografieren und der Kamerablitz wäre so stark, dass er das Kartenhaus zum Einstürzen brächte. Das Bild kann nur etwas werden, wenn Blitz und Kamera extrem schnell sind – so schnell, dass die Aufnahme im Kasten ist, bevor das Kartenhaus in sich zusammenfällt.

Die trabenden Pferde von Eadweard Muybridge – sie sind der Startschuss für das Einfrieren kleinster Momente. Nachfolgende Generationen verfeinern die Technik und können immer kürzere Zeitspannen auflösen.

50 Millisekunden: Ein Specht, der seinen Schnabel 20 Mal pro Sekunde in den Baum hackt.

20 Millisekunden: Der Kolibri, der 50 Mal in der Sekunde mit den Flügeln schlägt.

0,7 Millisekunden: Die Mücke, deren Flügelpaar rund 1500 Mal pro Sekunde vibriert.
Stoppuhr für Atome und Moleküle
Doch nicht nur mit Kameras macht man sich auf die Jagd nach immer kürzeren Augenblicken. Bis heute haben Forscher eine Vielzahl anderer Verfahren entwickelt – insbesondere, um Geschehnisse im Mikrokosmos zu verfolgen. Denn je kleiner ein Objekt, umso schneller seine Bewegungen: Mücken schlagen schneller mit den Flügeln als Kolibris oder gar Albatrosse. Und Atome und Moleküle reagieren deutlich schneller miteinander als alles, was man aus der Alltagswelt kennt. Statt um tausendstel geht es um Billiardstelsekunden – Femtosekunden. 1987 gelingt Forschern am California Institute of Technology in Pasadena ein Durchbruch: Das Team um den Chemiker Ahmed Zewail entwickelt eine ultraschnelle Stoppuhr für die Welt der Atome und Moleküle.

"Wir wollten den Verlauf einer chemischen Reaktion in Echtzeit beobachten. Glücklicherweise gab es damals eine enorme Entwicklung bei den Lasern. Und indem wir diese neuen Kurzzeit-Laser auf chemische Reaktionen anwandten, konnten wir sehen, wie diese Reaktionen im Femtosekunden-Bereich ablaufen."

Mitte der 80er Jahre gibt es Laser, die extrem kurze Blitze erzeugen können – Femtosekunden-Blitze, gerade mal den millionsten Teil einer Milliardstelsekunde lang. Eine ideale Stoppuhr für eine chemische Reaktion. Zewail:

"Am Anfang muss man die Moleküle an den Start stellen. Danach kommt der Startschuss, er erfolgt mit dem ersten Laserblitz und startet die Reaktion. Kurz danach schießen wie einen zweiten, schwächeren Laserpuls auf die Moleküle. Mit ihm können wir beobachten, was passiert ist. Und indem wir den Abstand zwischen dem ersten und dem zweiten Laserblitz variieren, können wir für jeden Zeitpunkt der Reaktion einen Schnappschuss machen."

Wie bei einer Diashow werden die Schnappschüsse aneinander gehängt. Schritt für Schritt zeigt sie, wie die Reaktion abgelaufen ist.

1000 Femtosekunden. Wasserstoff reagiert mit Kohlendioxid – eine Reaktion, die in der Atmosphäre und bei der Verbrennung geschieht.

200 Femtosekunden: Retinal, ein Farbstoffmolekül im Auge, ändert unter Lichteinfall seine Struktur.

50 Femtosekunden: Der Farbstoff Chlorophyll nimmt die Energie des Sonnenlichts auf.

1999 erhält Ahmed Zewail den Nobelpreis für Chemie. Er hat einen völlig neuen Forschungszweig begründet, die Femtochemie. Heute arbeitet man am Caltech an einer nicht minder spektakulären Technik: David Flannigan, ein Kollege von Ahmed Zewail, zeigt auf eine mannshohe Metallsäule. Sie fußt auf einer Kuppel mit lauter Fenstern und Schleusen.

"Hier schießen wir Laserblitze in das Mikroskop. Die Blitze treffen auf einen Kristall und schlagen dort kurze Elektronenpakete heraus. Diese Pakete lenken wir dann auf die Probe. Mit einem zweiten Laser regen wir die Probe an und starten damit die Stoppuhr. Sie kennen die galoppierenden Pferde von Eadward Muybrigde? Wir nutzen dasselbe Prinzip! Nur viel schneller, mit Femtosekunden. Und nicht mit Pferden, sondern mit viel kleineren Gebilden – mit Atomen."

Ein Elektronenmikroskop, das Filme vom Mikrokosmos aufnimmt. Es sind richtige Bilder und nicht nur abstrakte Daten wie bei den Laserverfahren, die Ahmed Zewail ursprünglich entwickelt hatte. Flannigan:

"Was wir uns zum Beispiel anschauen ist: Wie schmilzt ein Kristall? Das kann extrem schnell passieren, und mit unserem Apparat können wir in Echtzeit verfolgen, wie sich die Atome im Kristall bewegen und seine Form verändern. Oder wir haben Reibungsprozesse studiert und konnten einen kleinen Kristall beobachten, wie er rasend schnell über die Oberfläche eines anderen schlittert – wichtige Grundlagen für die Nanotechnologie."

Noch steckt das filmende Elektronenmikroskop in der Entwicklung. Doch Flannigan hofft, dass es sich bald als wertvolles Forschungsinstrument etabliert.
Manipulierter Blitz
Hamburg, die Halle von Flash, dem Röntgenlaser. Das Experiment von Joachim Schulz und seinem Team läuft. Mit dabei die Biochemikerin Charlotte Uetrecht von der Universität Uppsala in Schweden. Sie steht bei Bauhaus, der quadratischen Vakuumkammer, und kontrolliert, ob der feine Strahl ungehindert durch eine Düse in die Kammer spritzt. Dieser Strahl enthält das, was die Forscher mit ihren ultrakurzen Röntgenblitzen durchleuchten wollen.
"Im Moment ist ein sehr großer Virus drin, ungefähr 500 Nanometer Durchmesser. Das ist der größte derzeit bekannte Virus. Und dementsprechend heißt der auch Megavirus. Ist aber alles ganz sicher. Der befällt nur Amöben. Also für uns kein Problem."

In der Vakuumkammer treffen die Röntgenblitze auf die feinsten Tröpfchen. Ist alles richtig eingestellt, steckt in jedem Tröpfchen ein einziges Megavirus. Joachim Schulz beobachtet einen Bildschirm: Alle zehn Sekunden leuchtet ein bunter Fleck auf dem Monitor auf – ein Röntgenblitz hat ein Virus getroffen. Schulz ist zufrieden.

"Die Bilder sehen gut aus, soweit man das beurteilen kann. Im Moment läuft das Experiment ziemlich automatisch. Im Moment läuft es gut."

Zunächst sind es Streubilder, also noch keine richtigen Bilder aus dem Innenleben des Megavirus. Die Streubilder müssen erst mit Computerhilfe in die richtigen Aufnahmen umgerechnet werden. Und das wird Monate dauern.

Universität Kassel, das Labor von Matthias Wollenhaupt. Sein Team interessiert sich für schwingende Moleküle. Ein Molekül etwa aus zwei Atomen kann man sich vorstellen wie zwei Kugeln verbunden mit einer Metallfeder. Tippt man dieses Gebilde an, fängt es ähnlich an zu schwingen wie ein Pendel. Nur: Moleküle sind mikroskopisch klein und schwingen deshalb extrem schnell. Um diese Schwingungen beobachten zu können, brauchen die Forscher Laserblitze, die nur wenige Femtosekunden lang sind.

"Die müssen so kurz sein, weil die molekulare Vibration genau auf dieser Zeitskala stattfindet. Das ist so, als wenn sie den Herrn Vettel fotografieren wollten und hätten eine Kamera, die nur eine Dreißigstelsekunde aufmacht – dann kriegen sie ein unscharfes Bild. Wenn Sie ein scharfes Bild haben wollen, brauchen sie eine Tausendstelsekunde – also ein Bild, das der Bewegung angemessen ist. Und die molekulare Bewegung findet auf der Zeitskala von einigen 100 Femtosekunden statt. Deswegen brauchen sie einen entsprechend kurzen Blitz."

Allerdings wollen die Forscher die Molekülschwingungen nicht nur beobachten, sondern auch kontrollieren, also gezielt steuern. Und das, erklärt der Physiker Matthias Wollenhaupt, läuft etwa so wie bei einer Schaukel auf dem Spielplatz.

"Stellen Sie sich das Kind auf der Schaukel vor. Wenn Sie ihm richtig Energie geben wollen, müssen Sie im richtigen Takt anschubsen. Sonst bremsen Sie ab. "

Die Schaukel entspricht dem Molekül. Das Anschubsen durch die Elternhand steht für den kurzen Laserblitz, der das Molekül anregt. Doch nur, wenn der Laserblitz genau im richtigen Takt, also im richtigen Augenblick anschiebt, fängt das Molekül an zu schwingen. Um diesen richtigen Augenblick exakt zu treffen, müssen die Physiker ihre Laserblitze extrem präzise kontrollieren können. Das passiert im Laserlabor, und zwar im sogenannten Pulsformer – einer Box kaum größer als ein Umzugskarton. Hier schießen die Laserblitze ein und treffen auf ein Gitter mit mikroskopisch feinen Ritzen, sagt Wollenhaupts Kollege Jens Köhler.

"Das arbeitet ähnlich wie ein Prisma, spaltet das Licht in die verschiedenen Farben auf. Wir können unser Spektrum in 640 Einzelbereiche aufspalten und jeden dieser Bereiche separat und unabhängig voneinander kontrollieren."

Kontrollieren bedeutet, dass Köhler in seinem Pulsformer jede der 640 Farben einzeln manipulieren kann. Zum Beispiel lässt er manche Farben einen weiteren Weg zurücklegen als andere. Dadurch kommt es zu Laufzeitunterschieden zwischen verschiedenen Farben. Anschließend werden die Farben wieder zu einem Lichtblitz vereinigt. Der Clou: Der manipulierte Blitz hat eine ganz andere Form als der ursprüngliche. Und die Physiker können ihren Pulsformer sogar so einstellen, dass aus einem einzigen Puls zwei aufeinanderfolgende werden, oder fünf oder sogar 9. Das Entscheidende dabei: Jens Köhler kann den zeitlichen Abstand zwischen den Pulsen extrem präzise einstellen.

"Das können wir mit dieser Präzision von 300 Zeptosekunden. Das ist Weltrekord."

300 Zeptosekunden – das ist weniger als der milliardste Teil einer Milliardstelsekunde. Eine neue Dimension in der Kurzzeitphysik. Mit einfachen Kalium-Molekülen haben die Physiker ihre Methode bereits getestet - reine Grundlagenforschung. Doch vielleicht lässt sich mit dem Verfahren eines Tages sogar Geld verdienen, und zwar in der chemischen Industrie: Hier könnten die hochpräzisen Laserblitze Reaktionen in Gang bringen, die sonst nie und nimmer ablaufen würden. Das Ergebnis könnten Materialien sein mit wundersamen Eigenschaften, oder Medikamente, die eine Krankheit gezielt bekämpfen, aber kaum Nebenwirkungen zeigen. Wollenhaupt:

"Wir können nicht vorhersagen, ob es das in Zukunft gehen wird oder nicht. Aber wir arbeiten dran. Das ist eine der Motivationen, die wir haben."
Zurück in Hamburg. Die Experimente am Röntgenlaser Flash sind erledigt. Zwei Monate später sitzt Joachim Schulz in seinem Büro und zeigt auf den Bildschirm.

"Wir haben insgesamt 30.000 Aufnahmen vom Megavirus genommen. Und eine erste Untersuchung von den Bildern hat gezeigt, dass ungefähr zehn Prozent davon wirklich gut sind und verarbeitet werden können."

Dann klickt Schulz weiter – das vorläufige Ergebnis. Ein Bild von Megavirus, dem größten Virus der Welt, aufgenommen mit den ultrakurzen Röntgenblitzen von Flash.

"Sie sehen ein bisschen aus wie Tröpfchen, die aber an sechs Seiten abgeflacht sind. Das Besondere ist, dass wir nicht nur die Schale sehen, sondern wir versuchen auch, das Innere des Virus zu sehen. Wir haben hier einen Vergleich mit einer Aufnahme vom Elektronenmikroskop. Das Elektronenmikroskop sieht eine gleichmäßig ausgeleuchtete Schale, während wir im Inneren dieser Viren rote, sehr intensive Bereiche sehen."

Vermutlich jene DNA-Moleküle und Proteine, mit denen das Virus, das im April 2010 überhaupt erst in Chile entdeckt worden war, seinen Wirt infiziert – eine Amöbe. Noch sind die Aufnahmen zu unscharf. Die Forscher werden weiter tüfteln müssen, um ihr Ziel zu erreichen – 3D-Bilder, bei denen das Innenleben von Viren und Zellen im Detail zu erkennen ist.
Die kürzeste aller Zeitspannen
Femtosekunden, also 10-15 Sekunden. Attosekunden, 10-18 Sekunden. Und sogar Zeptosekunden: 10-21 Sekunden. Erstaunliche Größenordnungen, in denen die Forscher heute mit ihren Laserapparaturen experimentieren. Doch sind es auch die kürzesten Zeitspannen, die man in der Wissenschaft kennt? Oder spielen sich in der Natur sogar noch schnellere, noch kürzere Prozesse ab? Ja, meinen die Experten – etwa in der Welt der Elementarteilchen, der kleinsten Materiebausteine überhaupt.

"Wenn Sie ein Proton nehmen, das einen Durchmesser hat von etwa einem Femtometer, dann sind die Zeiten, die ein Quark benötigt, um diesen Durchmesser zu durchlaufen, etwa 10-23 Sekunden."

Wilfried Buchmüller, Physiker am Forschungszentrum Desy in Hamburg. 10-23 Sekunden, zehn Yoctosekunden – das ist rund zehn Millionen Mal schneller als die schnellsten chemischen Reaktionen. Und noch rasanter dürfte es zu Anbeginn der Zeit vor sich gegangen sein – beim Urknall. Als vor 13,7 Milliarden Jahren unser Universum geboren wurde, wechselten sich verschieden Phasen unvorstellbar schnell ab.

10-33 Sekunden: Das Universum, anfangs kleiner als ein Atomkern, wächst inflationär, also mit Überlichtgeschwindigkeit, auf die Größe einer Apfelsine.

10-30 Sekunden: Die ersten Elementarteilchen bilden sich: die Quarks und ihre Antiteilchen, die Antiquarks.

10-27 Sekunden: Eine Asymmetrie zwischen Teilchen und Antiteilchen tritt auf den Plan – und sorgt dafür, dass die Materie über die Antimaterie dominiert. Nur deswegen gibt es Sterne und Planeten.

Danach geht es deutlich langsamer zu: Zehn Sekunden nach dem Urknall formen sich die ersten Atomkerne, nach 400.000 Jahren die ersten Atome, nach einigen hundert Millionen Jahren die ersten Sterne.

Die allerkürzeste Zeitspanne aber, mit denen Physiker wie Wilfried Buchmüller herumrechnen, ist noch einmal deutlich kürzer als alles, was in der Natur existiert. Buchmüller:

"Die kleinste Zeit, an die man als Physiker denkt, ist die Planck-Zeit von 10-43 Sekunden."

Jenseits von 10-43 Sekunden fällt das Raumzeit-Kontinuum in sich zusammen – und damit jener Rahmen, in dem sich alle Gesetze der Physik bewegen. Was jenseits von 10-43 Sekunden passieren mag, ob es kleinere Zeitspannen überhaupt geben kann – das ist derzeit nichts als reine Spekulation.

Und Eadweard Muybridge? Was ist aus ihm geworden, dem Wildwest-Pionier der Kurzzeit-Physik? Seine Sequenz des galoppierenden Pferdes ist heute weltberühmt. Ähnlich die anderen Bilderfolgen, die er Ende des 19. Jahrhunderts wie ein Besessener aufnimmt: Schweine, Büffel und Elefanten in Bewegung, dazu Studien von fechtenden Athleten und graziösen Aktmodellen. Der große Erfolg aber bleibt Muybridge verwehrt. Zwar erfindet er eine Art Taschenprojektor, mit dem er seinen Bildern das Laufen beibringt. Doch den entscheidenden Schritt, sagt Muybridge-Experte Stephen Herbert, lässt der Visionär aus.

"Aus irgendwelchen Gründen verfolgte er die Idee, seine Bildfolgen in größeren Theatern vorzuführen, nicht weiter – ganz im Gegensatz zu anderen Leuten. Und die läuteten wenig später das Zeitalter des Films ein."

Letztlich kehrt Muybridge an seinen Geburtsort Kingston zurück. Dort stirbt er, alles andere als wohlhabend, 1904. Ein Besessener mit einem Lebenslauf wie geschaffen für Hollywood. Herbert:

"Es gab schon mal zwei Drehbücher für Hollywood-Filme. Ein drittes ist in Entwicklung, mit Andy Serkis als Regisseur. Der Titel: 'Freezing Time'. Im diesem Jahr sollen die Dreharbeiten losgehen. Action, galoppierende Pferde, der Wilde Westen, Schießereien, ein Mord – In dem Stoff ist alles drin, was einen guten Hollywood Film ausmacht."