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Kys

Tatjana Tolstaja hat einen ausgeprägten Sinn für Sarkasmus und Selbstironie. Die Großnichte des berühmten Romanciers Lew Tolstoi und Enkelin des Schriftstellers Alexej Tolstoi gilt seit langem als eigenständige Erzählerin von Weltrang. Aber erst jetzt hat die Fünfzigjährige unter dem geheimnisvollen Titel Kys ihr Romandebüt vorgelegt. Am Ende des Buches zählt sie die vielen Stationen auf, an denen er in vierzehn Jahren entstanden ist oder vielmehr entstanden sein soll: "Moskau – Princeton – Oxford – Tiree, Hebriden – Athen – Panormo – Fjodor-Kusmitschsk – Moskau – 1986 – 2000." Fjodor–Kusmitschsk heißt der fiktive Schauplatz ihres Romans. Er ist soeben bei Rowohlt Berlin in der Übersetzung von Christiane Körner erschienen.

Sabine Baumann | 22.08.2003
    Für das neue Genre hat Tatjana Tolstaja auch einen überraschend andersartigen Stil entwickelt. Während ihre Erzählungen in einer höchst verdichteten Sprache gehalten sind, in jenem gehobenen Ton, für den das Russische den Begriff "Literatursprache” geprägt hat, wirkt die Sprache ihres Romans auffällig ungeschliffen und kontrastreich. Die Hauptfigur Benedikt, ein unbedeutender Schreiber in einem fantastischen Moskau der Zukunft, und die so genannten "Schätzchen” oder Durchschnittsbürger dieser Welt, verwenden ebenso wie die von ihnen ausgebeuteten "Transgeburten” eine einfache, derbe Ausdrucksweise. Hierfür stand ein spezifisch dörflich–bäuerlicher Dialekt Pate, den Tolstaja als Kind von ihrer Amme gehört hat. Die Übersetzerin, der im Deutschen hierfür kein direktes Äquivalent zur Verfügung steht, hat einen überzeugenden Ton gefunden, in dem Märchen und ländliche Redeweisen mitschwingen:

    Auf sieben Hügeln erstreckte sich das Städtchen Fjodor-Kusmitschsk, das heimatliche Fleckchen, und Benedikt schritt fürbass, dass der frische Schnee unter seinen Füßen knirschte, freute sich an der Februarsonne, betrachtete wohlgefällig die vertrauten Gassen. Da und dort standen Reihen von schwarzen Isbas, hinter hohen Pfahlzäunen und hinter Toren aus behaunen Brettern; auf den Pfahlspitzen trockneten Steintöpfe oder Holzkannen. Wer einen stattlichen Terem hat, der hat auch gewaltige Kannen, und mancher stülpt gar ein ganzes Fass auf den Pfahl, dass es ins Auge sticht: Ihr Schätzchen, ich bin reich! So einer zockelt dann nicht zu Fuß zur Arbeit, der fährt unbedingt im Schlitten einher und schwingt die Knute; und vor den Schlitten ist eine Transgeburt gespannt, die rennt mit trappelnden Walenki, blass im Gesicht, schaumbedeckt, mit raushängender Zunge. Kommt zur Arbeits-Isba gerast und bleibt da wie angewurzelt auf ihren vier Beinen stehen, bloß die zottigen Flanken gehen hin und her: ch-ch, ch-ch.

    Die "Vorigen”, unsterbliche Wesen aus dem alten Russland vor dem großen Knall, wie in "Kys” die atomare Katastrophe von Tschernobyl heißt, benutzen hingegen ausgestorbene Begriffe ihrer untergegangenen Hochkultur. Benedikt und die mit diversen Spätfolgen geschlagenen Schätzchen verstehen davon nichts mehr und geben sie deshalb verballhornt wieder. Einzelne dieser Begriffe sind im Text in Großbuchstaben wiedergegeben, etwa jene Dinge, an die Benedikts Mutter sich erinnert, wie etwa OSFALT, ROHRKETEN oder die OHNIWERSITÄTSAUSBILDUNK, die es nun nicht mehr gibt, denn Russland ist primitiver und nach dem Urteil der Autorin zugleich asiatischer geworden:

    ... wir gehen vom Städtchen aus vor allem nach Osten. Dort sind lichte Wälder, steht hohes, saftiges Gras. In dem Gras wachsen zarte azurblaue Blümchen: Wenn man sie pflückt, und einweicht, und ausschlägt, und durchkämmt, dann kann man daraus Garn spinnen und Linnen weben. Mütterchen selig war umständlich in diesem Gewerbe, es wollte ihr nicht recht gelingen. Sie zwirnte den Faden und weinte, sie webte das Linnen und vergoss Tränen. Und sagte, vor dem Großen Knall wär alles anders gewesen. Da ging man, sagte sie, ins GOSCHÄFT und nahm sich, was man wollte, und was einem nicht gefiel, das ließ man stehen, nicht so wie heute. Dies GOSCHÄFT war so was wie ein Magazin, bloß gabs da mehr Güter, und das Gut wurde nicht am Magazin-Tag ausgegeben, nein, die Tür stand den ganzen Tag über offen.

    In Tatjana Tolstajas düsterer und zugleich urkomischer Antiutopie über ein Russland, das von seiner eigenen ebenso wie von der europäischen Tradition abgeschnitten und auf eine primitive Lebensweise reduziert ist, leben die Menschen von verstrahlten Pflanzen und Mäusen. Ihr einziger Ausweg sind ihre Erinnerungen und ihre Fantasie.

    Russland ist für Tolstaja immer noch eine geschlossene Welt, in der beispielsweise die Tschetschenen, aber auch die jüdische Bevölkerung, kurz alle Andersartigen als Bedrohung wahrgenommen werden. Kein Wunder, dass die psychologisch versierte Autorin sich auf die Paranoia konzentriert. Die Titelfigur ihres Romans, die Kys, ist ein unsichtbares, katzenartiges Wesen, das im dunklen Wald nördlich der geschlossenen Stadt lebt und sie bedroht. Die Kys tritt als Personifizierung unserer Ängste auf, glaubt Tatjana Tolstaja doch mit C. G. Jung, dass unser Unterbewusstsein stets von Ungeheuern erfüllt ist. Ihr Schreiber Benedikt horcht ständig in sich hinein und wird die Ungeheuer der Kindheit nicht los. Er ist ein oberflächlich harmloser Bursche, ein Träumer, dabei aber ein unerträglich dickfelliger, primitiver Egoist. Es herrscht Zensur, der Besitz von Büchern ist verboten, als alleiniger Autor sämtlicher Werke der Weltliteratur gibt sich ein tyrannischer, in Wirklichkeit aber mickriger und natürlich schamlos Plagiat betreibender Herrscher aus. Obwohl etwa die bemitleidenswerte, von unzähligen Hahnenkämmen entstellte Warwara Benedikts dumpfe Sehnsucht nach echter Erkenntnis verspürt und sich bemüht, ihn zu geheimen Lesungen einzuladen, heiratet er niemand anderen als die Tochter des gefürchteten Geheimdienstchefs. Dadurch bekommt er zwar privilegierten Zugang zu dessen riesiger Bibliothek aus konfiszierten Büchern, aber da er sie ohne Sinn und Verstand liest, wie er schon vorher unzählige Gedichte auf Befehl des Herrschers kopiert hat, ohne sie zu begreifen, kommt er dem Sinn des Lebens nicht näher.

    Die Kapitelüberschriften des Romans deklinieren die Buchstaben des kyrillischen Alphabets von As bis Ischiza durch. Das Ergebnis ist eine postmoderne Enzyklopädie des russischen Lebens und der russischen Literatur, die in unzähligen Zitaten und Liedern ein Eigenleben im Text führt. Der Leser kann, anders als der Romanheld, im Chaos der Texte ebenso rührend Tiefsinniges wie hinreißend Komisches finden, wie der Blick auf das Bücherbord des dämonischen Schwiegervaters zeigt. Dort stehen nebeneinander:

    Kafka, Kartoffeln und andere Knollen, Karten des Sternenhimmels, Die Kama. Ein Strom und seine Häfen, Kluger Bauer – dumme Gans, Komm und sieh ... gelesen; Was fliegt denn da?, Wang Meng, Die Wüste Gobi, Der Weltraum wartet! ... Mord in Mesopotamien, Mord im Orient-Express, Der Mord an Kirow ... Das Mitanni-Reich ... Lirum larum Löffelstiel, Limonow, Die Lipolyse bei Säugetieren – alles gelesen ...

    Zwar gelangt Benedikt von dieser Parodie einer Bibliothek in das Allerheiligste des obersten Tyrannen und jubelt schon voller Vorfreude auf das Buch, in dem steht, wie man leben soll. Doch da kommt alles anders in einer explosiven Wendung, mit der Tatjana Tolstaja ihren wahrhaft furiosen Auftakt als Romanschriftstellerin beschließt.