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"La Bohème" in Amsterdam
Renato Palumbos Geniestreich

Unter der Regie des Australiers Benedict Andrews zeigt die niederländische Staatsoper in Amsterdam Puccinis "La Bohème". Die jungen Darsteller machen ihre Sache erstaunlich gut. Szenisch ist die Amsterdamer "Bohème" schlichtes Unterhaltungstheater. Künstlerisch ist ihr die musikalische Deutung Renato Palumbos meilenweit voraus.

Von Christoph Schmitz |
    Über Jahrhunderte ist die Opernkunst immer wieder mit Frischzellenkuren verjüngt worden. Eine der wichtigsten Therapien war Giacomo Puccinis "La Bohème" kurz vor 1900. Auf geniale Weise hat der Komponist – er ging auf die 40 zu – die Formen der italienischen Musiktheatertradition amalgamiert. Französische Leichtigkeit und Singbarkeit hatten ihn inspiriert bei der Auflösung der starren Abfolge von Rezitativ, Arioso und Arie, von Solo-, Ensemble- und Chorgesang.
    In "La Bohème" geht alles permanent ineinander über und auseinander hervor. Puccinis Musik ist ein atmender Organismus. Ständig wechseln die Tempi, die Klangfarben, immer wieder kommen Verzögerungen und Steigerungen, unablässig pulsiert es im Einklang mit den Atmosphären der Handlungsorte, der Künstlerbude und der Straßen- und Restaurantszenen im Pariser Studentenviertel Quartier Latin. Im Sekundenstil reflektieren Orchester und Sänger die Stimmungen, Launen und Gefühlsausbrüche der bettelarmen und feiernden Künstler, die sich immer wieder neu verlieben und die genauso schnell in Beziehungsstress geraten. Und natürlich gibt es das große Drama von Anfang an, die Liebe zwischen dem Schriftsteller Rodolfo und der lungenkranken Arbeiterin Mimì, die ja am Ende von der Schwindsucht hinweggerafft wird.
    Dafür entwickelt Puccini eine herzzerreißende Klagemusik. Aber dennoch interessieren ihn genauso die kleinen unspektakulären Ereignisse, ein Lichtreflex, ein Wassertropfen, ein Alltagsgeräusch auf der Straße, ein Gesang um die Ecke, ein Blick. Die Poesie des vermeintlich Nebensächlichen ist Puccinis Sache. Und all das macht das Niederländische Philharmonische Orchester unter der Leitung von Renato Palumbo lebendig. Sensibel ist ihre musikalische Deutung und beweglich - und zupackend, wenn es sein muss. Bei allem Sinn für die zahllosen Details gerät der musikalische Fluss nie ins Stocken. Zügig zieht die Zeit dahin, gehen die Jahre der Jugend vorüber, ist sie mit einem Mal alles vorbei, unwiderruflich.
    Auf den internationalen Bühnen sind die Künstler nahezu unbekannt
    Der Brasilianer Atalla Ayan als Rodolfo und die Italienerin Grazia Doronzio singen mit jugendlichem Elan und klarem Tempre ihre Partien. Schauspielerisch wirkt die Sopranistin allerdings so verhalten, dass man ihr die großen Emotionen kaum abnimmt. Mit sehr jungen Sängern hat die Niederländische Nationaloper die Hauptrollen alle besetzt. Auf den großen internationalen Bühnen sind diese Künstler nahezu unbekannt. Sie machen ihre Sache erstaunlich gut. Dirigent Renato Palumbo webt sie auf subtile Weise in den Klangorganismus Puccinis ein. Der australische Regisseur Benedict Andrews hat die künstlerische Bohèmienszene von Paris aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ins spätere 20. Jahrhundert verlegt. Im Internetzeitalter sind wir zwar nicht, Rodolfo tippt noch in eine antike Schreibmaschine, aber die winterkalte Ateliermansarde ist bauhausnüchtern konzipiert.
    Auf einem Propangaskocher wird die Medizin für Mimì erwärmt, in Plastiktüten wird der Billigfraß rangeschleppt. Im Grunde hat Benedict Andrews aber nur optisch einen Zeitsprung gemacht. Seine Inszenierung sieht zeitgenössisch aus, ist es aber nicht. Einen kritischen Blick in die Psychen der lockeren Jungs und Mädchen wagt er nicht. Trennt sich Rodolfo von Mimì wirklich nur, weil er kein Geld für ihre Medikamente hat und aus Liebe zu ihr will, dass sie sich mit einem Mann mit dickem Konto liiert? Oder will sich Rodolfo das Mädchen schnell vom Hals schaffen, weil es krank ist und er ungestört arbeiten und sich vergnügen möchte? Auch die soziale Misere der Künstler und Billigjobber interessieren die Regie nicht. Sie klebt an der heiteren und melodramatischen Oberfläche. Szenisch ist die Amsterdamer "Bohème" schlichtes Unterhaltungstheater. Künstlerisch ist ihr die musikalische Deutung meilenweit voraus.