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"La Bohème" in Bremen
Die Kunst des Recycelns

Die Bremer Neuinszenierung von Giacomo Puccinis "La Bohème" überzeugt mit einem kompetenten Ensemble, meint Frieder Reininghaus. Markus Poschner und Benedikt von Peter schaffen damit die Voraussetzungen, Theater wieder zu einem kulturell-gesellschaftlichen Magneten zu machen.

Von Frieder Reininghaus |
    Die Fragen nach der ästhetischen Gegenwart dieser Oper, die ihrer Herkunft nach ganz dem 19. Jahrhundert angehört, spielen allemal eine zentrale Rolle. Dass der murksende Maler Marcello, der noch unerprobte Literat Rodolfo, der mit grotesken Mucken gelegentlich zu Geld kommende Musiker Schaunard sowie der intransigente Philosoph Colline in Jeans und Klamotten aus dem Second Hand Shop ihre aussichtslose Berufssituation mit übertriebener Lustigkeit kompensieren, ihre Bedürftigkeit für Freiheit erachten und sich fortgesetzt mit Farbe beklecksen, erscheint nicht als das entscheidende Ferment der Modernisierung dieser Oper. Es sind die Kehrtwendungen in der Hauptsache und die gravierenden Aussparungen, die die Aktualität plausibilisieren: Hier gilt’s nicht dem "Leben der Bohème" (so der Originaltitel der Libretto-Vorlage), sondern den Kunstbemühungen einer als Strandgut des Kulturbetriebs vorfindlichen Bohème, die ganz von hier und heute ist.
    Die vier Repräsentanten dieser Spezies treten zunächst rotzig-trotzig-selbstbewusst an die Rampe und fangen an, den Raum mit Tisch, Stühlen und ärmlichem Hausrat zu füllen. Ihre gute Laune ist erkennbar sarkastisch - ein Optimismus der Verzweiflung, ein Trotz der Erfolglosigkeit und eine zynische Form des Alternativ-Seins. Sie spielen körperbetonte kindische Spiele, die teilweise so etwas wie Kunstproduktion darstellen. Benedikt von Peters Kunst der Aussparung nimmt ihren Anfang damit, dass Mimi nicht auftritt.
    Kein annähernd so kompetentes Ensemble in anderen Häusern
    Nadine Lehner singt seitwärts hinter einem Gaze-Vorhang mit blitzsauber klarem, angenehm leicht geführten, bei den Kulminationspassagen aber auch hinreichend dominanten Sopran von der zartesten Erwartung, den ersten Erfüllungen und Enttäuschungen der Liebe. Sie erscheint als Projektion des Literaten. Luis Olivara Sandoval singt die Partie des Herzensbrechers Rodolfo, spielt dabei den Kollegen die Szene der Annäherung vor; Freund Marcello steigt auf das Rollensingspiel ein. Das verfremdet die trivial-anrührende Szene auf verblüffende Weise.
    Im zweiten Akt bricht das künstlerische Quartett nicht wirklich ins Nobelrestaurant MOMOS auf, sondern nimmt das Weihnachtsfestessen aus der Sahnesprühdose auf der kahlen Tischplatte zu sich. Chor und Kinderchor dringen als Stimmen der kauf- und festfreudigen Pariser durch die Straßenschlucht hinauf in den Olymp des kunstliterarischen Elends. So manches große und ungleich teurere Haus verfügte in den letzten Jahren bei seinen "Bohème"-Vorstellungen über kein annähernd so kompetentes Ensemble.
    Die große Ernüchterung kommt im dritten Akt mit dem Bericht über die Entzweiung von Rodolfo und Mimi sowie deren Erkrankung an Tuberkulose - die Sopranistin schreitet ganz in Schwarz über die Bühne, als Botin des eigenen Todes. Dieses überwirklich-reale Erscheinen wiederholt sich im letzten Akt, in dem keine gute Laune mehr aufkommen will: Mimi kommt zum Sterben, dem die vier jungen Männer fassungslos gegenüberstehen. Die Dachstübchenhocker- und Bordsteinschwalbengesellschaft der Pariser 1840er-Jahre ist im Milieu eines Prekariats des jetzigen Jahrzehnts anlandet, gerade auch dadurch, dass das Werk die ursprünglich vorgesehenen Wechsel der Schauplätze nicht mehr mit vollzieht, sondern die Szene gleichsam künstler- und kunstimmanent beatmet. So schafft man die Kunst des Recycelns und die Voraussetzung dafür, dass das Theater wieder zu einem kulturell-gesellschaftlichen Magneten wird!