Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Labyrinthische Variationen

In der Ausstellung "Labyrinthische Variationen" im Centre Pompidou-Metz wird die Idee des Labyrinths nicht illustriert. In den acht Kapiteln des Ausstellungsparcours lässt sich das Thema anhand von Werken weniger bekannten oder wiederzuentdeckenden Künstler erforschen.

Von Kathrin Hondl | 20.09.2011
    Er wisse nur so ungefähr, wie es wieder herausgeht aus dem Labyrinth, sagt der italienische Künstler und Theoretiker Gianni Pettena. Sein "Labyrinth" ist ein Raum, dessen Dimensionen nicht zu erkennen sind. Unzählige weiße Papierstreifen hängen von der Decke herab wie ein dichter Wald. Um sich einen Weg durch das weiße Dickicht zu bahnen, bekommt jeder eine Schere in die Hand. Das Abschneiden der Papierstreifen schafft Platz – und viele individuelle labyrinthische Wege durch den Raum.

    In Gianni Pettenas Performance-Installation wird die Kunst zum Parcours, zum nicht kalkulierbaren Umherirren in einem unüberschaubaren Raum – eine amüsante und abenteuerliche, aber letztlich sehr fundamentale Erfahrung von Freiheit. Und um Freiheit geht es auch ganz generell in dieser Ausstellung "labyrinthischer Variationen", sagt die Kuratorin Hélène Guenin.

    "Die Freiheit der Kunst, des Denkens, die Freiheit auch, mit der wir das Thema dieser Ausstellung angegangen sind. Umherirren ist für uns etwas sehr Positives – Umherirren bedeutet Alternativen."

    In der Ausstellung im Centre Pompidou-Metz sind kaum Bilder oder Abbildungen von Labyrinthen zu sehen. Das Thema wird nicht illustriert. Eher könnte man sagen: Die Ausstellung durchdringt die Idee des Labyrinths. Insgesamt acht Kapitel hat der – ebenfalls labyrinthische – Ausstellungsparcours, und er beginnt mit einer Hommage an Marcel Duchamp. Aus dem New Yorker MOMA ausgeliehen, hängt da das Bild "Network of stoppages" von 1914, das auf Deutsch manchmal auch "Fadensystem" genannt wird. Zu sehen ist ein Netz leicht geschwungener Linien – eine Art Labyrinth, wenn man so will. Die Linienführung hat Duchamp dem Zufall überlassen. Denn die Linien auf dem Bild entsprechen Fäden, die er aus einem Meter Höhe einfach auf seine Leinwand fallen ließ. Und vielleicht hat das labyrinthische Umherirren der Gegenwartskunst ja tatsächlich hier angefangen, bei den Konzepten und Experimenten von Marcel Duchamp zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Das Labyrinth aber ist eine universelle, archaische Form mit vielfältigen, manchmal einander widersprechenden Bedeutungen. Schon das bekannte Labyrinth der griechischen Mythologie, das Daedalus für den Minotaurus entwarf, gründete auf einem Paradox; nämlich der Frage, wie eine rationale, methodische Architektur Chaos und Orientierungslosigkeit schaffen kann. Im 20. und 21. Jahrhundert stellten sich Architekten diese Frage wieder neu – wie zum Beispiel der Ungar Yona Friedman. In labyrinthisch anmutenden Skizzen für eine "ville spatiale" entwarf er die Utopie einer Art "Raumschiff-Stadt" mit flexiblen, veränderbaren Strukturen.

    Ein anderes Kapitel der Ausstellung befasst sich mit dem – so die Überschrift – "mentalen Labyrinth". Denn, so wird der Philosoph Cornelius Castoriadis zitiert: "Denken bedeutet, ein Labyrinth zu betreten". Sichtbar werden solche Labyrinthe des Denkens etwa auf den großformatigen "Maps", also Plänen des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn: Riesige Bilder, auf denen Hirschhorn die Systeme und Gedanken von Michel Foucault, Spinoza oder Hannah Arendt auf sehr eigenwillige Weise kartographiert. Mit breiten blauen und roten Filzstiftstrichen schafft er labyrinthische Verbindungen auf fotokopierten Texten und Bildern.

    Eine Art psychisches Labyrinth der Angst zeigt dagegen der Vorspann des Hitchcock-Klassikers "Vertigo" – der knapp dreiminütige Film bildet den Auftakt für eine ganze Reihe von Arbeiten der kinetischen Kunst und Op-Art. Spektakulärer Höhepunkt der Ausstellung ist da eine Rauminstallation des Argentiniers Julio Le Parc, in der Licht und Spiegelspiele die Betrachter verwirren und verzaubern – ein in den frühen 60er-Jahren entstandenes "Labyrinth", das Freiheit einforderte:

    "Wir hatten den Eindruck, dass alles festgefahren war – erinnert sich Julio Le Parc, die Politik, die Gesellschaft, die Gewohnheiten. Nichts schien sich zu bewegen. Alles war geprägt von Abhängigkeiten; das wollten wir mit dem Labyrinth verändern, durch Instabilität und neue Erfahrungen."

    "Variations labyrinthiques" im Centre Pompidou-Metz ist eine Ausstellung, die sich sehr wohltuend von vielen anderen internationalen Themenausstellungen unterscheidet. Denn das Thema ist hier kein mehr oder minder belangloser Vorwand, um die Werke der gerade angesagten Stars des Kunstbetriebs zu zeigen. Das Thema "Labyrinth" wird vielmehr in allen seinen Dimensionen erforscht und in einer kohärenten, intelligenten Ausstellung sichtbar gemacht. Mit vielen Werken weniger bekannter oder wieder zu entdeckender Künstler, mit ihrer freien labyrinthischen Struktur ist die Labyrinth-Ausstellung in Metz eine rare Perle im internationalen Einerlei der Großaustellungen.