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Ladenhüter oder notwendige Innovation?

Arm trotz Arbeit! Ein Reizthema für Wirtschaft und Politik. Der Mindestlohn treibt einen Keil in die Große Koalition. Christ- und Sozialdemokraten sind hoffnungslos zerstritten, wie die Armutslücke im Niedriglohnbereich geschlossen werden kann. Sollen Unternehmer tarifliche Mindestlöhne zahlen - wie es die SPD fordert oder muss der Staat die Lücke schließen, wie es die Union bevorzugt?

Von Dietmar Reiche | 29.03.2008
    Anette Kramme, SPD-Bundestagsfraktion: "Es ist verheerend, wenn der Staat über Arbeitslosengeld II Lohndumping mitfinanzieren soll. Es ist Zeit für Mindestlöhne und das in großer Menge und im großen Umfang."

    Laurenz Meyer (CDU), Wirtschaftspolitischer Sprecher der Unionsfraktion: "Vier von fünf Arbeitgeber haben deshalb keine Angst vor Mindestlöhnen, weil sie ordentliche Löhne zahlen, sonst wären wir auch nicht eines der teuersten Länder auf der Welt."

    Otmar Schreiner, Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD: "Es hat was zu tun, mit einem Funken Anstand, dass Menschen, die arbeiten, auch davon leben können. Das ist der Kern."
    Die hektische Diskussion über Mindestlöhne zeigt, dass die alten Mechanismen der Wirtschaftspolitik nicht mehr wirken.
    Wachstum schafft Arbeit schafft Wohlstand: Dieser Dreiklang ertönt am unteren Ende der Lohnskala nicht mehr automatisch. Trotz Rekordbeschäftigung in Deutschland mit fast 40 Millionen Erwerbstätigen kommt der Aufschwung nicht bei allen Menschen an. Reinhard Bispinck, Tarifexperte des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts WSI:

    "Auf Grund der sehr zurückhaltenden Lohnpolitik ist der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Volkseinkommen zurückgegangen. Die sogenannte Lohnquote ist seit dem Jahr 2000 von 73 auf 66 Prozent gesunken. Das ist ein regelrechter Absturz der Lohnquote."

    Hinzu kommt: Die Kosten für Energie und Lebensmittel steigen rasant. Der Staat greift den Bürgern über die indirekten Steuern tief ins Portemonnaie. Dazu sagte Paul Kirchhof, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht im Deutschlandfunk:

    "Wir haben ein Problem der sozialen Gerechtigkeit - einmal, weil die Umsatzsteuer, die indirekte Steuer, so hoch ist. Das trifft die kleinen Leute mit den kleinen Einkommen. Das trifft die Familie, die ihr ganzes Einkommen konsumieren müssen, um die Kinder ernähren zu können. Und dann muss ja auch derjenige, den wir im Einkommensteuerrecht verschonen, weil er zu wenig Einkommen erzielt, Umsatzsteuer zahlen. Das heißt, die Umsatzsteuer wirkt dort als eine soziale Schieflage."
    Eine Schieflage, die die Gewerkschaften nicht mehr ausgleichen können. Sie sind zu schwach, um im Niedriglohnbereich höhere Tarife durchzusetzen, sagt Reinhard Bispinck, vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut WSI. Nicht zuletzt, weil sie Mitglieder verloren haben - und ihren Verhandlungspartner!
    Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht von einer Verbandsflucht der Unternehmer. Einige von ihnen haben die Arbeitgeberverbände verlassen. In Gesamtdeutschland werden nur noch 63 Prozent der Betriebe durch einen Tarifvertrag erreicht, in Ostdeutschland sogar nur jeder zweite. Den Schwarzen Peter schiebt Bispinck allerdings der Politik zu. Mit der Agenda 2010 habe die ehemalige, rot-grüne Bundesregierung die Spielregeln im Niedriglohnbereich grundlegend verändert.

    "Wir haben heute sechs Millionen Beschäftigte, die unterhalb der Niedriglohnschwelle arbeiten, und wir haben über vier Millionen Beschäftigte, die unter 7,50 Euro pro Stunde verdienen. Und die neuesten Analysen zeigen, dass in den vergangenen zwei Jahren die Zahlen - auch in Folge von Hartz IV."
    Die Lohnskala hat der Staat nach unten geöffnet. Für Arbeitslose ist seitdem jede vom Staat vermittelte Arbeit zumutbar. Die Folge: das Arbeitsangebot steigt, die Löhne geraten ins Rutschen. Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft Köln.

    "Außerdem müssen wir sehen, dass im Zuge der Arbeitsmarktreformen ein gewisser Druck entstanden ist. Nun wird viel mehr Arbeit im gering-qualifizierten Bereich nachgefragt, weil die Leute auch vielleicht im höher qualifizierten Bereich keine Arbeit mehr bekommen und somit in das untere Segment des Arbeitsmarktes rutschen. Von daher geraten die Löhne allein auf Grund der Nachfrage ins Rutschen. Das hat mit den Unternehmen nichts zu tun, sondern einfach damit, dass das Reservoir der Arbeitsanbieter einfach größer geworden ist."

    2,5 Millionen Arbeitnehmer zählt der Deutsche Gewerkschaftsbund, die weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Bruttoeinkommens verdienen - und damit unter die Armutsgrenze rutschen, obwohl sie einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen.

    Deshalb fordern die Gewerkschaften einen gesetzlichen Mindestlohn für alle. Kein Lohn unter 7,50 Euro pro Stunde, lautet die Botschaft. An der Spitze der Kampagne stehen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Deren Mitglieder sind besonders stark von den Niedriglöhnen betroffen, denn sie arbeiten im Hotel- und Gaststättengewerbe, Gebäudereiniger- und Friseurhandwerk, im Einzelhandel, Gartenbau und im Bewachungsgewerbe.
    Wenn das Lohneinkommen zum Leben nicht reicht, muss der Staat die Lücke schließen. Das ist bislang die geltende Rechtslage und Position der Union. Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnt den flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn ab, denn sie argumentiert, dass die Unternehmen überfordert werden und wieder Stellen streichen.

    "Wir haben ein Mindesteinkommen in Deutschland, das ja durch die Hartz IV-Sätze und das Arbeitslosengeld II definiert ist. Umso mehr Kinder man hat, umso mehr kann man dann natürlich vom Staat erwarten. Das ist richtig so. Ich glaube, wir müssen auch darauf achten, dass die 3,5 Millionen Menschen, die noch arbeitslos sind, auch eine Chance auf einen Arbeitsplatz bekommen und das muss immer in einer Balance sein."

    Auf der einen Seite stehen rund 3,5 Millionen Arbeitslose, auf anderen 1,3 Millionen Menschen, die Hartz-IV-Leistungen bekommen, trotz Beschäftigung. Ökonomen weisen aber darauf hin, dass es sich nicht nur um Vollzeitbschäftigte handelt. Es seien vor allem geringfügig Beschäftigte wie Rentner, Schüler, Studenten und registrierte Arbeitslose, die ein Zusatzeinkommen erzielen, heißt es beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Auch das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft Köln unterstreicht, dass Vollzeitbeschäftigte mit Niedriglöhnen in der Minderheit seien. Hagen Lesch:

    "Die vollzeitbeschäftigten Aufstocker liegen bei 380.000. Ganzjährig aufstocken müssen von den Vollzeitbeschäftigten weniger als 100.000. Das sind also Zahlen, die jetzt nicht unbedingt erwarten lassen, dass Unternehmen im großen Maße Löhne jetzt senken, weil sie jetzt irgend eine Form von Marktmacht haben, dass kann ich aus diesen Zahlen sicherlich nicht ableiten."

    Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bestätigt diese Zahlen, rechnet aber damit, dass die Zahl der vollzeitbeschäftigten Aufstocker in Zukunft stark steigen wird, nicht zuletzt, weil die Arbeitgeber Gefallen am neuen Niedriglohnmodell gefunden haben. Betreiben die Unternehmen Lohndrückerei zu Lasten des Steuerzahlers?

    So deutlich will Joachim Möller, Direktor des IAB, das nicht sagen, aber:

    "Es liegt der Verdacht nahe, dass einige Unternehmen einen Vertrag zu Lasten Dritter abschließen. Dass heißt, sie bauen ihr Geschäftsmodell auf einem niedrigen Lohn auf, um ihre Arbeitnehmer quasi zu ermuntern, sich einen Aufstockungsbetrag dann von der Arbeitsagentur zu holen. Und dieser Vertrag zu Lasten Dritter ist auf Dauer nicht hinnehmbar und mit einem Mindestlohn würde man diese Situation deutlich entschärfen."
    Ein Rat, der bei den Sozialdemokraten gern gehört wird. Der Mindestlohn eignet sich für den Wahlkampf. Nach den schmerzhaften Einschnitten durch die Agenda 2010 kommen Themen wie "Soziale Gerechtigkeit" beim Wähler gut an. Die Partei "Die Linke" hat es vorgemacht, die SPD gespalten und eilt nun unter der Führung von Oskar Lafontaine von einem Wahlerfolg zum nächsten, auf Bundesebene und zuletzt in den Landesparlamenten von Hessen, Hamburg und Niedersachsen.
    Wohl wissend um den Wählerschwund, der sich da abzeichnete, schärfte die SPD in den vergangenen Monaten ihr soziales Profil, suchte wieder die Nähe zu den einst verprellten Gewerkschaften. Im Oktober 2007 beschloss der SPD-Bundesparteitag nach 18 Jahren ein neues Grundsatzprogramm, mit der Forderung nach existenzsichernden Mindestlöhnen. SPD-Chef Kurt Beck sagte, die Politik müsse

    "die Löhne wieder auf eine anständige Basis bringen und den Tarifvertragsparteien die Grundlage geben, anständige Tarifverträge abzuschließen. Aber wenn sie keine Kraft mehr dazu haben, dann hilft das alles nicht und diese Kraft wollen und müssen wir ihnen wieder verleihen: durch Mindestlöhne, durch Regelungen, dass mit Leih- und Zeitarbeit nicht Lohndrückerei betrieben werden kann."

    Bislang scheiterten die Sozialdemokraten mit ihren Plänen für einen flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn an den Bedenken der Unionsfraktionen. Einen Kompromiss fand die SPD zuletzt im Entsendegesetz. Das Gesetz hat schon über zehn Jahre auf dem Buckel und schützte ursprünglich deutsche Bauarbeiter vor Dumpinglöhnen ausländischer Konkurrenten. Dieses Gesetz wird nun für andere Branchen geöffnet. Darauf hat sich der Koalitionsausschuss Mitte des vergangenen Jahres geeinigt. Inzwischen sind das Bauhauptgewerbe, das Dachdecker- und Elektrohandwerk, das Gebäudereingerhandwerk und das Maler- und Lackierhandwerk mit eigenen Branchen- Mindestlöhnen im Entsendegesetz fest verankert.
    Voraussetzung ist, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften einer Branche, in der mindestens die Hälfte der Arbeitnehmer durch Tarifverträge gebunden ist, auf einen Mindestlohntarifvertrag verständigen. Diesen können sie dann beim Bundesarbeitsminister einreichen und für allgemeinverbindlich erklären lassen.
    Noch bis Montag können sich interessierte Branchen beim Ministerium melden. Die Bilanz bisher ist mager: Statt der ursprünglich erwarteten zehn bis zwölf Branchen haben lediglich vier Branchen ihr Interesse beim Arbeitsminister angemeldet: Die Zeitarbeitsbranche, die privaten Forstunternehmen, die Großwäschereien und nun die Wach- und Sicherheitsdienste. Die Entsorgungsbranche will eventuell im Laufe des Jahres nachziehen.
    Für Wirtschaftszweige und Regionen, in denen es keine Tarifverträge gibt oder nur schwache Tarifbindung besteht, will die Koalition einen Mindestlohn auf anderem Wege ermöglichen. Sie will das Mindestarbeitsbedingungsgesetz von 1952 reaktivieren und für den Mindestlohn modernisieren. Ein mit sechs unabhängigen Experten besetzter Hauptausschuss prüft, ob in einer tarifungebundenen Branche Mindestlöhne nötig sind. Der dazugehörige Fachausschuss legt dann fest, wie hoch der Mindestlohn sein soll. Doch der Deutsche
    Gewerkschaftsbund hält das modernisierte Mindestarbeitsbedingungsgesetz für einen zahnlosen Tiger. Die Vorschläge müssten immerhin durch zwei Ausschüsse und vom Bundeskabinett gebilligt werden, sagt DGB-Tarif Experte Reinhard Dombre. Da komme kaum was durch.
    Die Hoffnung ruhen also auf dem Entsendegesetz, allerdings sind auch Zweifel angebracht. Auch wenn Bundesarbeitsminister Scholz beteuert, mit seinem Gesetzesentwurf den Kompromissvorschlag der Koalition eins zu eins umgesetzt zu haben, bremst die CSU das Vorhaben. Bundeswirtschaftsminister Glos hat die Ressortabstimmung auf Eis gelegt, das Verfahren gestoppt. Nach dem umstrittenen Post-Mindestlohn sei ein Dammbruch bei der Zeitarbeit zu befürchten, schrieb Glos Ende des vergangenen Jahres an die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Bedenken des Wirtschaftsministers waren nicht unbegründet. Die Zeitarbeitsbranche stand wenig später beim Arbeitsminister Scholz vor der Tür.
    Zwei der drei großen Zeitarbeitsverbände - der Bundesverband Zeitarbeit BZA und der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen IGZ - mit zusammen rund 600.000 Beschäftigten - wollen einen Mindest-Stundenlohn in Höhe von 7,31 Euro im Westen und von 6,36 Euro im Osten für die gesamte Branche festschreiben.
    Dadurch würde aber der bestehende Tarifvertrag ungültig, den der dritte Verband der Branche, der "Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister", AMP, mit den Christlichen Gewerkschaften abgeschlossen hat. Dabei liegt die Vergütung zwar nur unwesentlich unter der der Konkurrenz. Die Christlichen Gewerkschaften mit ihren gerade mal 300.000 Mitgliedern stehen aber im Ruf, maßgeschneiderte Haustarifverträge mit den Arbeitgebern abzuschließen, um die Tarifverträge der DGB-Gewerkschaften zu unterbieten.
    Die Union lehnt das Vorhaben der beiden großen Zeitarbeitsverbände ab und beruft sich dabei auf das erstinstanzliche Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts zum umstrittenen Postmindestlohn, der seit Anfang des Jahres ebenfalls für die gesamte Branche für allgemeinverbindlich erklärt wurde.
    Nach der Rechtsauffassung des Berliner Verwaltungsgerichts kann die Allgemeinverbindlichkeit nur für die Bereiche gelten, in denen es keine Tarifverträge gibt. Obwohl Bundesarbeitsminister Scholz umgehend Berufung eingelegt hatte und das Urteil nicht rechtswirksam ist, will die CDU/CSU dieses Urteil in der weiteren Gesetzgebung berücksichtigen. Laurenz Meyer, wirtschaftspolitischer Sprecher der Union.

    "Wir werden unsere Hand nicht dazu reichen, existierende Tarifverträge per Gesetzgebung zu brechen. Das ist die Position, die jetzt zu überdenken ist auch anhand des jetzigen Gerichtsurteils."

    Auf solch taktische Manöver will sich die SPD erst gar nicht einlassen, sonst drohe ein Wettlauf der Mini-Gewerkschaften, die den knappen Tarifraum besetzen und den Mindestlohn über das Entsendegesetz blockieren würden, wie es die GNBZ, die Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste mit ihren 1300 Mitgliedern vorgeführt habe.

    "Wenn wir jetzt darüber reden, was wir in den neuen Entsendegesetzentwurf reinpacken, dann kann es nicht sein, dass da nachher drin steht, es gilt immer nur der Tarifvertrag, der die niedrigsten Niveaus anbietet, sondern es müssen Kriterien vereinbart werden, die einen repräsentativen Tarifvertrag markieren, #

    sagt Andrea Nahles, Sprecherin für Arbeit und Soziales bei der SPD. Der Wettbewerb unter den Gewerkschaften nimmt aber zu. Weil die Verhandlungen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi scheiterten, hat am Donnerstag das Wach- und Sicherheitsgewerbe gemeinsam mit der christlichen Konkurrenzgewerkschaft "Öffentlicher Dienst und Dienstleistungen" die Aufnahme ins Entsendegesetz beantragt. Verdi forderte für die 170.000 Beschäftigten der Branche einen Mindestlohn von 7 Euro 50. Das war den Arbeitgebern zu viel. Sie wollen in Ostdeutschland nur 5,75 Euro pro Stunde zahlen. In Westdeutschland liegt der Satz bisher bei mindestens 6 Euro 30.
    In der Postbranche beschäftigt der Streit zwischen den althergebrachten Gewerkschaften und der neuen Konkurrenz mittlerweile sogar die Justiz. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi stellte Anfang März eine Strafanzeige gegen die "Gewerkschaft Neue Brief- und Zustelldienste" Der Vorwurf: Die Arbeitgeber kauften sich eine Gewerkschaft um niedrigere Löhne durchzusetzen.
    Ein Erfolgsmodell ist der branchenspezifische Mindestlohn durch das Entsendegesetz wegen der geringen Resonanz bisher nicht, zumal Ärger aus Brüssel droht. Die Europäische Union prüft eine Beschwerde des niederländischen Postdienstleisters TNT. Der geplante Mindestlohn von 9,80 Euro für deutsche Briefzusteller verstoße gegen europäisches Recht, heißt es in der Beschwerde von TNT.
    Doch welche Folgen hätte ein Mindestlohn? Die Mehrzahl der deutschen Ökonomen ist skeptisch. Die Präsidenten der sieben führenden, wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute fürchten durch die staatliche Lohnfestsetzung eine Beschädigung der "marktwirtschaftlichen Ordnung in ihren Grundfesten".
    Ein gesetzlicher Mindestlohn vernichte Arbeitsplätze, warnen die Ökonomen. Besonders im Osten werde der Beschäftigungsabbau erschütternde Ausmaße annehmen. Dort verdient ein Viertel und im Westen ein Zehntel weniger als den von den Gewerkschaften geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Nach Schätzungen des IFO-Instituts wären 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Gefahr. Drei Prozent aller Jobs in Deutschland.

    In dieses von der Wissenschaft gezeichnete Szenario will die . jüngste Studie des neuen Direktors des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Prof. Joachim Möller, so recht nicht passen. Er hat über den Mindestlohn im deutschen Bauhauptgewerbe geforscht. Das Ergebnis: Im Osten kam es zu Arbeitsplatzverlusten, im Westen hingegen zu positiven Effekten.

    "Er darf schon so hoch angesetzt sein, dass er beißt, wie man sagt in der Literatur, dass er bindend ist. Aber er darf nicht zu hoch sein in dem Sinne, dass er zu nah an den mittleren Lohn herankommt. Dann führt es zu Verwerfungen, die Arbeitsplätze kosten.

    Möller empfiehlt in Deutschland einen gesetzlichen, aber regional unterschiedlichen Mindestlohn. Fünf Euro pro Stunde für Ostdeutschland, 6,50 Euro für Westdeutschland. Ausnahme: Kein Mindestlohn für Jugendliche. Sie werden durch zu hohe Löhne vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt, das zeigen die schlechten Erfahrungen in Frankreich.
    Doch der gesetzlichen Mindestlohn in dieser einfachen und schlichten Form wird es in Deutschland geben. Dass aber auch der branchenspezifische Mindestlohn nur so gut ist wie seine Tarifpartner, zeigt das Bauhauptgewerbe. Die Pionierbranche des tariflichen Mindestlohnes. Dort stehen nach elf Jahren die Zeichen auf Sturm. In Ostdeutschland läuft der Mindestlohntarifvertrag für die rund 130.000 Beschäftigten Ende August aus und die Zeit drängt. Kommt eine Einigung nicht rechtzeitig zu Stande, gilt als wahrscheinlich, dass der Bau-Mindestlohn im Herbst nach elf Jahren schlicht ausläuft.