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Lärm und Stille

Als medizinisches Problem, als erhebliche Umweltbelastung wird Lärm schon lange diskutiert. Welche Bedeutung aber haben Lärm und ebenso Stille für das Leben, für die Psyche, für gesellschaftliches Zusammenleben in verschiedenen Kulturen und Religionen?

Von Andrea und Justin Westhoff | 02.07.2009
    Alarm, Brausen, Brummen, Donner, Dröhnen, Explodieren, Gellen, Hallen, Heulen, Klappern, Klingeln, Klirren - unsere Sprache verfügt über jede Menge lautmalerischer Begriffe für das Phänomen Lärm:

    Knallen, Knattern, Kreischen, Pfeifen, Piepsen, Poltern, Prasseln, Quietschen, Rabatz, Radau, Rasseln, Rattern, Scheppern, Schreien, Sirren, Tosen, Trubel, Tumult, Wummern, Zetern, Zischen.

    Was "Lärm" aber genau ist, lässt sich ganz schwer sagen. Der Gesetzgeber orientiert sich an der Lautstärke, gemessen in Dezibel, um - zu Recht - etwas gegen körperliche Schäden zu unternehmen. Trotzdem sagt die Psychologin Brigitte Schulte-Fortkamp, Professorin für Akustik an der TU Berlin:

    "Man kann den Lärm nicht in Pegeln messen. Man kann den Lärm natürlich messen, aber man misst ihn in psychischen Reaktionen oder Verhaltensweisen. Und das bedeutet, dass es gar nicht so laut sein muss."

    Ein leise tropfender Wasserhahn raubt uns den Schlaf. Das viel lautere Rauschen des Meeres beruhigt dagegen - meistens. Lärm ist eine Empfindung, nicht nur subjektiv, sondern auch situationsabhängig - durchaus ein Fall für Psychologen also. Die Psychoakustik arbeitet mit der Definition "unerwünschter Schall". So kann fast jedes Geräusch zu Lärm werden - wenn es zum Beispiel eine angenehme Situation stört, unterbricht.

    Beim Sonntagsspaziergang im Park erfreut das vielstimmige Vogelgezwitscher die Gemüter, gilt oft sogar als Synonym für Ruhe und Erholung. Früh um vier allerdings, wenn man sich schlaflos im Bett wälzt ...

    Psychoakustik befasst sich neben den Empfindungen von Lärm auch mit dessen Wirkungen auf den seelischen Zustand. Ursprünglich hatte er eine geradezu überlebenswichtige Funktion für den Menschen, die sich noch in dem Begriff selbst zeigt: "Lärm" ist verwandt mit dem französischen "A l'arme", also "Zur Waffe". Großer Krach signalisiert dem Körper: "Flieh" oder "Greif an". Dazu werden die entsprechenden Hormone ausgeschüttet. Brigitte Schulte-Fortkamp:

    "Es gibt einige Studien, die zum Beispiel sagen, dass Jugendliche, die besonders aggressiv sind, sehr häufig, sehr starken Schallbelastungen ausgesetzt sind - oder waren, in ihrer Kindheit schon. Irgendwann schlägt das schon in Aggressivität um."

    Lärm stört außerdem die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit. Und auch die Kontakt-, insbesondere die Hilfsbereitschaft nimmt ab in lauter Umgebung. Das haben Feldforschungen schon in den 80er-Jahren gezeigt.

    "Das heißt, das gesamte Verhaltensgefüge verändert sich in stark lärmigen Situationen."

    Aber der Mensch leidet nicht nur unter Lärm, er liebt ihn auch: Heimwerkergeräte mit 100 Dezibel - da steckt Kraft dahinter! Mit dem Musikpegel steigt die Partystimmung! Die Tröten in Fußballstadien bringen es auf 130 Dezibel; das entspricht der Lautstärke eines startenden Düsenjets.
    "Leise" wird oft mit "alt, krank, weichlich" assoziiert, "laut" dagegen mit "sportlich, jung, dynamisch".

    Den unerwünschten Schall produzieren immer die andere; oder - wie Kurt Tucholsky es ausdrückte:

    Der eigene Hund macht keinen Lärm - er bellt nur.

    Die psychologische Lärmforschung nimmt auch die Lust am Lärmen in den Blick:

    "Menschen werden ja auch sehr laut, wenn sie schimpfen oder sich ärgern. Zum Beispiel ist es ja auch schwer, seine Freude leise auszudrücken, wer sagt schon: [flüstert] 'Ich freu mich'. Also man schreit es ja quasi hocherfreut hinaus; und das heißt also, ein bisschen laut muss der Mensch schon sein. Er hat ja schließlich auch seine Stimme - und die hat ein großes Potenzial."

    Das erste Lebenszeichen - ein Schrei. Am Ende dagegen: Totenstille! Lärm machen oder sich bewusst Lärm aussetzen, das kann auch aufputschende Wirkung haben. In Kriegs- und Gewaltsituationen zum Beispiel: Das Schlagen der Schwerter gegen die Schilde, der Schlachtruf, das Trommeln beim Angriff; die geschrienen Befehle oder heulenden Sirenen - so soll ein Rausch erzeugt werden, der die Angst überdeckt.

    Heute wird Lärm als "Droge" eher in Diskotheken, bei Rockkonzerten oder über Kopfhörer konsumiert.

    Letztlich ist die Lust am Lärmen aber nur im Zusammenhang mit Stille zu verstehen. Der Musiker John Cage hat 1951 Stille in eine Komposition gefasst - er meint nämlich:

    "The material of music is sounds and silence."

    Das Stück heißt "4 Minuten, 33 Sekunden". Bei der Aufführung tritt ein Musiker oder auch ein ganzes Orchester auf die Bühne, nimmt die Spielhaltung ein, und dann folgt - nichts. 4 Minuten und 33 Sekunden lang bleiben die Zuhörer sich selbst überlassen.

    Stille ist eine Atmosphäre, sagt die Psychoakustikerin Brigitte Schulte-Fortkamp:

    "Das ist abhängig von ganz vielen Faktoren. Es kommt darauf an, wo ist denn die Stille: Ist die in der Kirche oder ist die an einem Bergsee oder ist sie kurz vor dem Gewitter. Man merkt dann schon, wenn man darüber nachdenkt, dass es also in ganz besondere Situationen eingebettet ist, in die man manchmal möchte, aber andererseits, denen man auch entfliehen möchte."

    Wo Stille Geräuschlosigkeit bedeutet, bekommen die meisten Menschen sogar körperliche und seelische Probleme. Das haben Versuche im sogenannten schalltoten beziehungsweise reflexionsarmen Raum gezeigt. Hier schlucken die Wände jeden Ton, anstatt ihn zurückzuwerfen.

    "Der Körper reagiert sofort drauf, dass die akustische Information nicht mit der optischen kompatibel ist. Der reflexionsarme Raum bringt einen häufig auch dazu, dass man eigentlich mehr sich selber hört, als den Raum wahrnimmt, und das ist auch nicht gerade förderlich. Hier spiegelt sich wider, dass also die Stille, die Isolation bedeutet, eher negativ bewertet wird."

    Das Fehlen von Resonanz macht Menschen beklommen. Sie empfinden Angst, oft Verlassenheit. Das ist wohl auch der Grund, warum viele sogar die relative Stille, die heute noch möglich ist, kaum ertragen können und sich selbst "dauerbeschallen" - durch Radio, Fernsehen, Musikanlagen zuhause und MP3-Player unterwegs. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir heute den bewussten Umgang mit Stille weitgehend verlernt haben.

    In jeder Kultur bedeuten Lärm und Stille etwas anderes, wird unterschiedlich damit umgegangen - besonders deutlich zu erkennen in religiösen Riten. Mit dem Christentum zum Beispiel verbindet man eher die andächtige Stille:

    Die meisten Menschen fangen automatisch an zu flüstern, wenn sie eine Kirche betreten. Im Gegensatz dazu - das Heidenspektakel: Denn bei vielen nicht-christlichen Ritualen geht es eher laut zu. Mit Geschrei, Trommeln und Gesang sollen Götter angerufen oder böse Geister vertrieben werden.

    Aber auch im christlichen Abendland gibt es Silvesterknallerei, treibt man in vielen Dörfern mit Trommeln und Schellen Wintergeister aus. Außerdem werden im Christentum die Gläubigen mit Glockengeläut zusammengerufen und im Gottesdienst erklingt eines der lautesten Instrumente überhaupt - die Orgel!

    "Man kann nicht sagen, dass es eine Religion gibt, die viel mit Lärm zu tun haben; und andere mit Schweigen. Sie müssen in bestimmten Situationen in den Kulten schweigen - und bei bestimmten müssen Sie Geräusche oder Krach oder Lärm machen, also müssen sie laut sein","

    …sagt der Religionswissenschaftler Professor Hartmut Zinser von der FU Berlin.

    ""Wenn Sie in ein buddhistisches Kloster gehen und dort meditieren - morgens früh um vier fangen die an -, dann läuft jemand mit einem Klopfholz herum, macht einen fürchterlichen Lärm und alle werden zur Meditation gerufen. Dort hat man schweigend zu sitzen; und durch Gongschläge entsprechend wird die Periode des Meditierens beendet. Also: Schweigen oder Lärm markieren die Differenz zwischen heilig und profan."

    Allerdings hat das Schweigen - als eine Form der religiösen Stille - noch eine spezielle Bedeutung: Es ist Ausdruck besonderer Frömmigkeit, der Askese, ein Zuchtmittel also, das es in vielen christlichen und asiatischen Mönchsorden gibt. Hier geht es eigentlich ums Hören - auf die innere Stimme -, aber auch um das Gehorchen gegenüber einer höheren Macht. Und: Der Gegensatz von Schweigen und Reden demonstriert auch reale Machtverhältnisse, meint Hartmut Zinser.

    "In der Kirche redet der Pfarrer - und nicht der Gläubige. Das kann man generell sagen, dass in Religionen genau vorgeschrieben ist, wer darf reden und wer muss zuhören. Und damit werden hierarchische Differenzen markiert, vor allen Dingen auch zwischen den Geschlechtern. Nach Paulus schweige die Frau in der Gemeinde."

    So sind Lärm und Stille auch Thema der Sozialwissenschaften. Beides unterliegt einer historischen und gesellschaftlichen Entwicklung.

    Lärm gilt gemeinhin als unabänderliche Begleiterscheinung der modernen Industriegesellschaft: Das Dröhnen der Motoren, das Rattern eines Eisenbahnzuges oder das Pfeifen der Dampfmaschinen wurde gern als Sound der Moderne bezeichnet. Und manch ein Lärmgeplagter heute denkt sehnsüchtig an die guten alten Zeiten, als Pferdekutschen statt Autos durch die Straßen fuhren. Aber war es früher wirklich leiser? Dr. Frank Uekötter, Historiker am "Rachel Carson Center für Umwelt und Geschichte" in München:

    "Die Städte des Mittelalters, der frühen Neuzeit, sind sehr eng, sind von Mauern umschlossen. Sie sind ohne eine Regulierung, die irgendwie Umweltaspekte in den Blick nehmen würde, gebaut worden. Das heißt, da hat man dann tatsächlich Zusammenballungen von Lärm, wenn man das Pech hat, in einem Handwerkerviertel zu leben, wo eine Schmiede ist, dann ist es ganz besonders laut. Das Gegenstück dazu ist das Land, das als ein Ort der Stille wirklich vorzustellen ist. Historisch ist der wichtigste Gegensatz der zwischen Stadt und Land."

    Generell war die "Klangwelt" früher eine völlig andere, sagen Lärmhistoriker: Im Mittelalter kamen gut zwei Drittel der Geräusche aus der Natur - Regen, Wind, Tiere. 26 Prozent waren Menschenlaute und nur fünf Prozent wurden durch Werkzeuge und Maschinen erzeugt.

    Heute ist es fast genau umgekehrt. Zudem sind die "künstlichen" Geräusche im Gegensatz zu früher viel monotoner, oft noch elektronisch um ein vielfaches verstärkt - und es lärmt rund um die Uhr!

    Dieser Klangwandel wurde schon im Kaiserreich problematisiert. Dabei ging es häufig um Neurasthenie oder Nervosität als angebliche Lärmkrankheit.

    "Lärm ist da sozusagen eine Chiffre für einen neuen Lebensrhythmus, für die Hektik, auch für die wachsende Unübersichtlichkeit der Städte, die wachsende Größe der Städte. Das erzeugt eine ganze Reihe von Folgen. Neurasthenie ist da ein Stichwort. Viele der Beschwerden sind berechtigt. Der Lärm, der in vielen Orten geherrscht hat, muss weit über dem sein, was wir heute gewohnt sind. Auf der anderen Seite: Das ist halt die neue Zeit. Über die neue Zeit kann man sich nicht beschweren. Also beschwert man sich über den Lärm."

    Anfang des 20. Jahrhunderts gründete der Publizist und Kulturphilosoph Theodor Lessing einen Antilärmverein und veröffentlichte "Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens". Für ihn war der zunehmende Lärm Zeichen einer "Degeneration der Kultur" und der Widerstand dagegen "ein Kampf des Geistigen gegen die Verpöbelung des Lebens".

    "Da trieft gewissermaßen aus allen Zeilen heraus die Arroganz des Bildungsbürgers, der sich über den Pöbel ärgert. Dass sich die Lärmwelt der Großstadt verändert hatte - und dass man eben um 1908, als Theodor Lessing seinen Aufruf schreibt, tatsächlich mit einem sehr realen Lärmproblem zu tun hat, das kann man gar nicht bestreiten. Nur in dem das dann eben zu einem Bildungsproblem gemacht wird, zu einem Kulturproblem gemacht wird und damit eben zu einem Sonderproblem von Intellektuellen gestylt wird, damit verbaut sich Theodor Lessing viele Möglichkeiten für Bündnisse."

    Es wird zwar schon im Kaiserreich einiges getan gegen den Lärm: Nachtarbeitsverbot für laute Gewerbe, gesetzlich festgelegte Ruhezeiten bei Freizeitaktivitäten - und nicht zuletzt die Erfindung von "Ohropax" 1907. Trotzdem scheiden sich am Lärm nicht nur die Geister, sondern mehr und mehr auch die sozialen Schichten. Umwelthistoriker Frank Uekötter:

    "Das Entscheidende ist die Möglichkeit, sich zurückzuziehen aus Gegenden des Lärms. Das kann man eben, indem man in die suburbane Stadt emigriert; und das kann man, indem man sich eine Wohnung in der Nebenstraße oder eine Wohnung eben weit oben im Gebäude mietet oder kauft. Das kann man nicht, wenn man ein kleines Einkommen hat. Dann muss man eben auch die kleine Wohnung an der lärmigen Straße nehmen und versuchen, irgendwie damit zu leben. Das ist ein Teil von sozialer Ungleichheit, der bis heute nicht aus unserer Welt verschwunden ist."

    Wir leben heute in einem "Lärmbrei": Es schallt von überall her - und ohne Unterbrechung. Eindeutige "Klangräume" fehlen. Das heißt, bestimmte Geräusche können kaum noch bestimmten Orten oder Tätigkeiten zugeordnet werden. Als Selbsthilfe empfahl der kanadische Komponist und Klangforscher Murray R. Schafer schon in den 60er-Jahren "das aktive Hören", um eine "saubere" akustische Umwelt zu schaffen. Die Psychoakustikerin Brigitte Schulte-Fortkamp von der TU-Berlin arbeitet mit diesem Ansatz des Soundscaping:

    "Klanglandschaften erkennen und versuchen, sie zu verändern, ist wirklich ein kombinierter akustisch und soziologisch-psychologischer Prozess; und ein ganz wesentliches Merkmal dabei ist, dass man sogenannte Soundwalks - man kann auch sagen Geräuschspaziergänge - also Soundwalks macht; und das bedeutet, man geht mit kleinen Gruppen in den Bereich, in dem sie leben, also auf der Straße entlang, und lässt sie selber definieren, wo sie selber den Schall, der sie belastet oder erfreut - gibt es ja auch - hören wollen."

    Jenseits solcher kollektiven Projekte versuchen heute viele Menschen, ihre eigene Stille zu finden, um dem allgemeinen Lärm zu entfliehen.

    Im Trend ist zum Bespiel Urlaub im Kloster, wo man sich dann für eine Woche dem Schweigegebot unterwirft. Hotels und Tagungsstätten stellen immer häufiger einen Raum der Stille zur Verfügung. Und gut besucht sind nach wie vor auch fernöstlich-esoterische Meditationskurse in abgelegeneren Orten Deutschlands.

    Sinnvoller und nachhaltiger ist es allerdings, glaubt die Psychologin Brigitte Schulte-Fortkamp aus Berlin, im Alltag eine Balance zwischen Lärm und Stille zu suchen:

    "Man braucht diese leisen und lauten Situationen. Also ich finde ganz spannend, dass man doch häufig Leute sieht, die sich in die Gedächtniskirche mal zurückziehen, um dem Schall zu entkommen. Ich mach das selber auch manchmal, und ich denke immer, das ist unheimlich schön, denn, wenn sich die Türen schließen, geht sozusagen auch der städtische Lärm, und danach kann man wieder raus."

    Diesen Ausgleich braucht man in der Schallbelastung, auch was Natur- und Techniktöne angeht.