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Lafontaine: Angriffe auf Zivilisten sind völkerrechtswidrig

Der Vorsitzende der Fraktion "Die Linke" im Bundestag, Oskar Lafontaine, hat den Vereinigten Staaten, Israel und libanesische Hisbollah-Miliz vorgeworfen, sich nicht an das Völkerrecht zu halten. Angriffe auf Zivilisten seien völkerrechtswidrig, betonte Lafontaine. Er sprach sich für eine Friedenstruppe im Libanon aus, aber ohne deutsche Beteiligung.

Moderation: Hans-Joachim Wiese | 30.07.2006
    Wiese: Herr Lafontaine, in diesen Tagen wird alles, auch die Innenpolitik, vom neuen Nahost-Krieg überschattet. Lassen Sie uns also zunächst über außenpolitische Themen reden. Die Libanonkonferenz in Rom hat eine möglichst schnelle, keine sofortige Waffenruhe verlangt. Wie bewerten Sie diese diplomatische Zurückhaltung?

    Lafontaine: Ich halte das für falsch. Es ist sicherlich ein Kompromiss, der zustande kommt, weil ja die Teilnehmerstaaten unterschiedliche Interessen und Auffassungen haben. Wir sind als Fraktion der Meinung, dass ein sofortiger Waffenstillstand natürlich die Forderung ist, die jeder unterstützen muss, denn viele Menschen kommen ums Leben und viele Menschen leiden große Not.

    Wiese: Soll Israel womöglich mehr Zeit zur völligen Zerschlagung der Hisbollah eingeräumt werden?

    Lafontaine: Es geht ja eben nicht nur um die Kriegsparteien, es geht ja eben auch um die Zivilbevölkerung. Und um die Zivilbevölkerung zu retten, darf man keine Zeit verlieren.

    Wiese: Und wie beurteilen Sie die Kriegsführung auf beiden Seiten? Da gibt es ja deutliche internationale Kritik.

    Lafontaine: Ich bin der Meinung, dass die ganze Politik in den letzten Jahren im Nahen Osten darunter gelitten hat, dass das Völkerrecht zu wenig beachtet worden ist. Für mich ist das Völkerrecht die Grundlage der Schaffung von Frieden überhaupt. Wie das im Inneren ist, so ist das auch im Äußeren. Nur wenn die Beteiligten sich an das Recht halten, gibt es die Möglichkeit, friedlich zusammen zu leben. Und insofern ist die Kriegsführung, sofern sie Zivilisten beispielsweise mit einbezieht, ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht und sollte also dann auch von den Beteiligten sofort eingestellt werden. Es ist sehr traurig, dass die Führungsmacht des Westens, die Vereinigten Staaten beispielsweise, sich nicht an das Völkerrecht halten oder nur dann, wenn es ihnen passt, und wenn es ihnen nicht passt, wird es zur Seite geschoben. Dasselbe gilt für Israel. Aber auch die Hisbollah, wenn sie auf Städte feuert, missachtet in gröblicher Weise das Völkerrecht.

    Wiese: Sie nennen das Stichwort Völkerrecht, Herr Lafontaine. Israel nimmt ja nun für sich das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch.

    Lafontaine: Das nehmen alle in Anspruch. Insofern führt dieser Gedanke überhaupt nicht weiter. Nur wenn es zu einem Waffenstillstand kommt und in Zukunft dann das Recht beachtet wird, können wir eine friedlichere Zukunft haben.

    Wiese: Zur Sprache kam in Rom auch der Einsatz einer internationalen Friedenstruppe, oder Stabilisierungstruppe wurde sie auch genannt. Was halten Sie davon?

    Lafontaine: Davon halte ich schon etwas, weil es eine Tradition ist in der Welt, Konfliktparteien dadurch zu trennen, dass eben Neutrale dazwischen gehen. Und insofern ist dieser Gedanke grundsätzlich zu unterstützen. Wir sagen aber dazu, dass die NATO nicht infrage kommt, weil sie als verlängerter Arm der Vereinigten Staaten von Amerika gilt. Wichtig wäre es eben, die UN einzuschalten und die UNO überhaupt zu stärken, wenn es um den Weltfrieden geht.

    Wiese: Wer käme Ihrer Meinung nach als Truppensteller infrage?

    Lafontaine: Da will ich keine Vorschläge machen. Ich will nur unseren Standpunkt deutlich machen. Wir, die Deutschen, kommen nicht infrage, denn solche Truppen müssen zwischen den Konfliktparteien schlichten, und dass wir nicht geeignet sind, zwischen den Schiiten und Israelis zu schlichten, dürfte eigentlich selbstverständlich sein.

    Wiese: Aber wäre es nicht gerade angesichts der deutsch-jüdischen Geschichte angemessen, wenn deutsche Soldaten Israel in einem Krieg unterstützen, den es selbst als Überlebenskampf bezeichnet?

    Lafontaine: Nein, wir können auch in dieser schwierigen Frage uns nur auf international geltende Normen stützen. Wir dürfen nicht parteiisch sein. Und es geht hier um Menschen, zunächst um Menschen, ohne dass man die Nationalitäten betrachtet. Und einseitige Stellungnahme und Unterstützungen sind uns auch im Angesicht unserer Geschichte verboten. Wenn Sie so wollen, gibt es auf der einen Seite die schlimmen Verbrechen der Nazis und damit die historische Schuld gegenüber Israel und den Juden. Auf der anderen Seite haben wir aber auch eine historische Schuld gegenüber den Palästinensern. Das wird in Deutschland viel zu wenig beachtet. Denn die Gründung des Staates Israel und die Vertreibung der Palästinenser ist ja auch eine Folge der Verbrechen der Nationalsozialisten.

    Wiese: Sie sprachen das UN-Mandat an. Das ist für Sie also conditio sine qua non. Ohne solch ein Mandat ist eine Friedenstruppe Ihrer Meinung nach nicht vorstellbar?

    Lafontaine: Ich glaube, dass die UN die einzige Instanz ist, die in dieser Region anerkannt wird. Ich glaube, dass andere Organisationen als parteiisch gelten und deshalb würden sie nicht weiter helfen.

    Wiese: Hinter der Hisbollah, heißt es immer, stehen Syrien und der Iran. Sehen Sie das auch so?

    Lafontaine: Das ist sicherlich so, obwohl ich mich hier nicht zum größten Experten der Verhältnisse im Nahen Osten aufschwingen will. Auf der anderen Seite stehen beispielsweise hinter Israel die Vereinigten Staaten, auch was die Waffenlieferung angeht. Man muss eben immer beide Seiten sehen, wenn man zu einem gerechten Urteil kommen will.

    Wiese: Wären Sie denn bereit, Ihre Vermittlerdienste im Konflikt zum Beispiel mit dem Iran anzubieten? Das hatten Sie ja schon mal getan.

    Lafontaine: Ich habe nie Vermittlerdienste im Konflikt mit dem Iran angeboten. Das war irgendeine Medienmeldung. Wer die in die Welt gesetzt hat, weiß ich nicht. Wir haben einmal gesagt, wir wollen den Iran besuchen. Und das ist nach wie vor ein Plan, um die Argumente dieser Seite zu hören. Deutsche Politiker können in dieser Region sicherlich nicht große Vermittlerdienste leisten. Hier habe ich eine andere Auffassung, als sie teilweise etwa in der Partei der Grünen vorherrscht. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir hier nur sehr zurückhaltend operieren können und dass wir daher gut beraten sind, uns letztendlich hinter die UNO zu stellen und ihre Vorgehensweise.

    Wiese: Und wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das bisherige Verhalten der Bundesregierung in diesem Konflikt?

    Lafontaine: Es war mir zu sehr in den letzten Tagen an dem orientiert, was die Vereinigten Staaten von Amerika als richtige Politik angesehen haben. Und insofern war dieses Verhalten dann falsch, denn die Vereinigten Staaten von Amerika haben keine neutrale Position in diesem Konflikt. Gerade aufgrund unserer Geschichte - wir haben das vorhin besprochen - wäre es notwendig, sich dort zurückhaltend aber klar zu äußern und sich hinter die UN zu stellen, hinter die Vereinten Nationen und hinter deren Generalsekretär.

    Wiese: Kommen wir zur Innenpolitik, Herr Lafontaine. Die Große Koalition ist jetzt acht Monate an der Regierung und von der anfänglichen Harmonie ist derzeit zumindest nur wenig zu spüren. Wie lautet Ihre Zwischenbilanz?

    Lafontaine: Nun, die Disharmonie stört mich überhaupt nicht. Wenn die Politik gut wäre, dann würde ich also jeden Streit auch noch als fruchtbar ansehen. Aber die Politik ist eben hundsmiserabel. Die Regierung Merkel setzt die Politik der Vorgängerregierung fort. Das ist ja auch kein Wunder, weil ja schon seit Jahren eine Allparteien-Koalition außer der Linken regiert hat. Und diese Politik wird genau so scheitern, wie die der Vorgängerkoalition.

    Man sieht das in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hier wird die Umverteilung von unten nach oben fortgesetzt. Unsere Hörerinnen und Hörer wissen ja, die Mehrwertsteuer wird erhöht, es wird die Pendlerpauschale beispielsweise gestrichen, es wird bei den Arbeitslosen wiederum gekürzt, insbesondere bei jungen Arbeitslosen. Und gleichzeitig kämpfen die beiden Parteien jetzt um die Frage, wie viele Milliarden man den Unternehmen, die ja im Geld teilweise schwimmen, noch weiter erlassen soll. Also, das ist alles kompletter Unsinn und überhaupt nicht mehr zu verantworten. Und die Ergebnisse dieser Politik werden sein, dass wir im Export wie bisher Erfolge haben werden. Da kann man hier ja praktisch veranstalten, was man will. Aber die Binnennachfrage wird weiter stranguliert, weil man dem Volk schlicht und einfach viel zu viel Geld wegnimmt.

    Wiese: Nun begründet die Bundesregierung ihre derzeitigen Maßnahmen, zum Beispiel Mehrwertsteuererhöhung, ja immer damit, auch die Staatsverschuldung zurückzufahren, auch die Wirtschaft letzten Endes wieder in Schwung zu bringen, die Arbeitslosenzahlen zu senken. Die sind gesunken und die Koalition redet von einem stabilen wirtschaftlichen Aufschwung.

    Lafontaine: Das ist ja Wunschdenken. Es gibt keinen wirtschaftlichen Aufschwung, ohne dass das Volk entsprechende Einkommenssteigerungen hat. Wer also bei faktischen Rentenkürzungen und stagnierenden Reallöhnen von Aufschwung spricht, ist nicht von dieser Welt. Kurzfristige Erscheinungen in der Wirtschaft, die etwa auf die Außenwirtschaft oder auch auf den Sommer zurückzuführen sind, sind keine Daten, die man heranziehen kann, um von einem Aufschwung zu sprechen. Obwohl ich auch diesem Index äußerst skeptisch gegenüber stehe, aber der Ifo-Index ist ja gerade mal wieder nach unten gegangen.

    Wiese: Gegen die, wie Sie sie nennen, neoliberale Politik der Regierung setzen Sie worauf? Auf mehr Staat, auf mehr Reglementierung?

    Lafontaine: Wir setzen auf ein ganz einfaches Rezept. Wenn ich in der Schule nicht vorbereitet war und die Aufgaben nicht lösen konnte, hatte ich zumindest so viel Verstand, von dem Nachbar abzuschreiben, von dem ich wusste, er kann es besser. Und dies empfehle ich den Deutschen seit vielen Jahren. Und hier empfehlen wir die nordischen Staaten, Schweden, Dänemark, Finnland, die auch nach dem internationalen Ranking der Neoliberalen, also dem World Economic Forum, die besten Vorstellungen geben, sowohl in der Bildung als in der Forschung als auch in der wirtschaftlichen Entwicklung, hohes Wachstum, hohe Beschäftigung und natürlich ein größerer Staatsanteil als in Deutschland. Diese manische Sucht hier in Deutschland, den Staat so schlank und so mager wie möglich zu machen, führt auch zu negativen ökonomischen Entwicklungen. Also, die Linke sagt, wenn ihr es nicht besser könnt, schaut bei den nordischen Staaten ab.

    Wiese: Werden Sie mal etwas konkreter, Herr Lafontaine. Was im Einzelnen soll man abschauen. Was machen die nordischen Staaten so sehr viel besser als die Große Koalition derzeit?

    Lafontaine: Sie investieren in die Zukunft in viel größerem Umfang. Die Bildungsausgaben in den nordischen Staaten sind weitaus höher als bei uns, gemessen an der Wirtschaftsleistung. Das sind ja die Bezugsgrößen, die man heranziehen muss. Und das gilt auch für die Forschung. Zweiter Punkt: Sie investieren viel stärker in die öffentliche Infrastruktur, also in Straßen, in Schienen, in Nachrichtenwege, in Energieversorgungsanlagen, in Abfallentsorgungsanlagen und so weiter und so weiter. Und hier haben wir einen großen Nachholbedarf in Deutschland.

    Wir haben ja in Deutschland die Hälfte der Investitionsrate im Vergleich zu den europäischen Nachbarn. Und das ist natürlich völlig unmöglich. Jeder Betrieb würde Pleite machen, der nur die Hälfte in die Infrastruktur des Betriebes investiert, im Vergleich zur Konkurrenz. Wir Deutschen glauben allerdings, wir könnten uns das erlauben. Das ist der zweite Nachteil.

    Der dritte Nachteil ist der, dass wir uns natürlich - das trifft die Tarifparteien - in der Lohnentwicklung ein Beispiel nehmen müssen an den Staaten, die erfolgreich gearbeitet haben. Ich nehme mal Großbritannien oder USA, um mal die Hochburgen des Neoliberalismus anzusprechen. Hier hatten wir in den letzten Jahren eine Reallohnentwicklung, zehn Jahre zusammengenommen, unter Abzug der Preissteigerung von plus 25 Prozent, die Deutschen hatten minus 0,9 - eine katastrophale Fehlentwicklung in Deutschland. Und leider hat man das noch nicht korrigiert. Würde man also nur diese drei Dinge korrigieren, mehr langfristig in Bildung und Forschung investieren, die öffentliche Infrastruktur endlich wieder so finanzieren, wie die europäischen Nachbarn und eben eine Lohn- und Einkommensentwicklung in Deutschland entsprechend der Entwicklung in erfolgreicheren Staaten, dann würde vieles viel, viel besser laufen.

    Wiese: Aber da sagt die Bundesregierung, uns fehlt das Geld, deshalb müssen wir auch die Steuern erhöhen. Und in den nordischen Staaten sind die Steuern noch höher.

    Lafontaine: Ja, die Bundesregierung hat ja Recht, dass ihr das Geld fehlt. Und sie hat auch Recht, wenn sie sagt, die Steuern müssen erhöht werden, denn in den nordischen Staaten liegt ja die Steuern- und Abgabenquote, etwa bei Schweden und Dänemark, 16 Punkte über der deutschen. Das sind 330 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen in allen öffentlichen Kassen pro Jahr. Man stelle sich vor, so etwas würde in Deutschland kommen. Das fordern wir noch nicht einmal, damit der deutsche Michel nicht erschreckt unter die Bank kriecht. Aber wir sagen, nähern wir uns zunächst einmal dem europäischen Durchschnitt. Das sind 40 Punkte. Das sind sechs Punkte Differenz zu Deutschland, das sind dann über 120 Milliarden, fast 130 Milliarden pro Jahr, wo schon viele Probleme gelöst wären.

    Aber die Frage ist, wo kassiert man ab. Und hier geht die Bundesregierung eben den katastrophal falschen Weg. Sie kassiert beim Volk und schont die Reichen. Wir wollen das Umgekehrte. Dass man in Deutschland nicht in der Lage ist und nicht die Kraft hat, eine Vermögenssteuer zu erheben wie Großbritannien, Kanada oder die Vereinigten Staaten, ist nicht nachvollziehbar. Es wirft überhaupt eine Frage nach der Qualität unserer Demokratie auf. Denn wir haben eine Volksvertretung im Deutschen Bundestag, die stimmt aber immer gegen die große Mehrheit des Volkes ab. Und das sollte uns doch zu denken geben, denn das Volk würde niemals sagen: Mehrwertsteuer rauf und Unternehmenssteuer runter. Es würde auch nicht sagen: Soziale Leistungen kürzen und gleichzeitig eben Verbesserungen wieder für die Unternehmer, und es würde in keinem Fall sagen: Mehrwertsteuer rauf und keine Vermögenssteuer.

    Wiese: Aber die Bundesregierung, die Große Koalition, sagt gerade jetzt: Unternehmenssteuer runter. Also der völlig falsche Weg?

    Lafontaine: Der völlig falsche Weg. Wir haben ja einen gigantischen Fehlschlag schon mit der Steuerreform 2000. Das war praktisch der Todesschuss für die öffentlichen Kassen. Leider haben alle Parteien damals mitgewirkt. Und dies führt eben zur Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte überall. Und deshalb ist Deutschland so weit zurück gefallen. Und jetzt diesen Weg, wenn auch in einem etwas kleineren Schritt, fortzusetzen, ist einfach nicht rational, nicht mehr nachvollziehbar - es sei denn, der eine oder andere träumt schon von einem Job in der Wirtschaft.

    Wiese: Aber wieso geht das denn in den nordischen Staaten? Sind da die Unternehmer sehr viel toleranter, dass die bereit sind, höhere Steuern zu zahlen?

    Lafontaine: Es gibt dort wahrscheinlich eine andere Einstellung noch zu dem Verhältnis von Einzelnen und Gemeinschaft. Der Mensch ist ja ein Einzelwesen und vertritt zunächst seine Interessen. Er ist aber auch ein soziales Wesen, und als soziales Wesen ist er auch von seiner inneren Einstellung her gehalten, für die Mitmenschen etwas zu tun. Und diese, wenn man so will, Einstellung des Menschen, als Sozialwesen zu handeln, ist in den nordischen Staaten einfach stärker ausgeprägt.

    Wir haben in Deutschland, wie man ja auch an den Daten sieht, mit die niedrigste Steuern- und Abgabenquote aller Industriestaaten. Wir haben eine solche Entwicklung hin zum Einzelnen, dass das schon bedrohlich ist. Sie können das in einem Wort festmachen: Früher haben alle von Verantwortung geredet. Verantwortung bezieht sich immer auf den Anderen. Heute reden die mit uns konkurrierenden Parteien - ob Schwarz, Gelb, Rot oder Grün, das ist völlig gleich - nur noch von Eigenverantwortung, nach dem Motto: Sorg für dich selbst, dann ist für alle gesorgt.

    Wiese: Herr Lafontaine, wir sprechen die ganze Zeit über das fehlende Geld, das die Bundesregierung beklagt, weshalb sie verschiedene Maßnahmen in Gang setzt, zum Beispiel auch die Gesundheitsreform. Das Gesundheitssystem ist nicht mehr zu finanzieren, sagt die Bundesregierung und macht deshalb diese Gesundheitsreform. Wie beurteilen Sie diese Reform?

    Lafontaine: Der Satz, das Gesundheitssystem ist nicht mehr zu finanzieren, ist natürlich kompletter Unsinn. Das ist Unternehmergerede, Lobbyistengerede. Da ist zunächst die Versicherungswirtschaft, die eben lieber Menschen privat versichern möchte, um Gewinne zu machen. Das muss man verstehen. Aber wenn dann überall Professoren und Abgeordnete herumspringen, die von der Versicherungswirtschaft finanziert werden, geschmiert werden, um das deutlich zu sagen, dann kommen solche Redensarten in Umlauf. Das ist das eine.

    Zum anderen ist es natürlich so, dass die Arbeitgeber nicht interessiert sind, die so genannten Lohnnebenkosten zu bezahlen, die ja faktisch Lohnbestandteil sind. Also, die Arbeitgeber wollen immer weniger Lohn zahlen. Das ist der zweite Grund, warum dieses Gerede in Umlauf gesetzt wird. Ansonsten sind die Gesundheitskosten gemessen am Sozialprodukt überhaupt nicht explodiert oder so. Das ist einfach eine reine Propagandalüge. Und wir betrachten die Gesundheit falsch in unserem Staatswesen. Wenn man sich mit normalen Menschen unterhält, dann heißt es: Das Wichtigste ist die Gesundheit. Auf jeder Familienfeier hört man das. Das heißt, wir müssen uns als moderne Gesellschaft natürlich dazu entschließen, Geld für die Gesundheit auszugeben.

    Aber - und hier kommt jetzt der politische Vorschlag der Linken - dieses Geld, wenn es eingesammelt wird, muss gerecht eingesammelt werden. Das heißt, jeder muss nach seiner Leistungsfähigkeit, nach seinem Einkommen beteiligt werden an der Finanzierung des Sozialsystems Gesundheit. Und daran hapert es. Wir haben die privaten Krankenkassen, die also praktisch nur diejenigen aufnehmen, die relativ gesund sind und relativ einkommensstark sind, und sie profitieren noch von der Restgemeinschaft, die ja natürlich die Mehrheit ist, bei der AOK und so versichert ist, die aber dann die Infrastruktur wesentlich finanzieren. Das ist alles sehr, sehr unsolidarisch.

    Und deshalb sagen wir, wir brauchen eine Bürgerversicherung auch im Gesundheitswesen, und die hat ein ganz einfaches Prinzip: Alle zahlen ein und alle Einkunftsarten werden herangezogen. Und dann haben wir auch eine solide finanzielle Grundlage. Natürlich läuft die private Lobby dagegen Sturm und viele Abgeordnete sind mehr oder weniger von dieser privaten Lobby beeinflusst.

    Wiese: Die Privaten also Ihrer Meinung nach abschaffen?

    Lafontaine: Die Privaten sollten Zusatzversicherungen für diejenigen, die sehr viel Geld haben, anbieten. Sie sollten aber nicht dort eingesetzt werden, wo es eben um das Solidarprinzip im Ganzen geht, das heißt um die so genannte Basisvorsorge. Da brauchen wir eben eine Bürgerversicherung.

    Wiese: Stichwort Bürgerversicherung. Die Bundesregierung favorisiert den Gesundheitsfonds, also eine Art kleine Kopfpauschale. Was halten Sie davon?

    Lafontaine: Ja, das ist ja alles systemwidrig. Wenn man also will, dass wir eine solidarische Vorsorge haben, dann muss man die Frage ja grundsätzlich beantworten, was heißt denn Solidarität? Und Solidarität heißt immer, dass jeder nach seinem Können und Vermögen einbezahlt und natürlich im Falle des Schadensfalls oder der Krankheit in diesem Fall Unterstützung eben aus der Gemeinschaftskasse hat. Und alles, was dem widerspricht, dass eben jeder nach seinem Vermögen und nach seinem Einkommen einbezahlt, das ist also systemwidrig. Und daher auch die Kopfpauschale. Wir haben ja in den Wahlauseinandersetzungen immer gesagt, die Kopfpauschale heißt, dass der Pförtner genau so viel bezahlt wie der Herr Generaldirektor. Und daher ist schon offenkundig, dass das der falsche Weg ist.

    Es ist ja auch interessant, ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass die Volksvertretung sich fragen lassen muss, warum sie immer gegen das Volk abstimmt. Hier in diesem Fall ist es so, dass nach den Parteiprogrammen, die Grünen beispielsweise, die SPD und die Linke, dass die für die Bürgerversicherung eintreten. Das wäre eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Aber die Mehrheiten kommen noch nicht einmal zustande, wenn die Abgeordneten sich dazu bekennen, sondern es setzen sich immer wieder andere Interessen durch.

    Wiese: Sie haben mir jetzt das Stichwort Parteiprogramm geliefert, Herr Lafontaine. Besonders großen Anklang finden Sie in der Linkspartei mit Ihrem Parteiprogramm offenbar nicht, wie man an den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gesehen hat. Die Linkspartei bleibt im Westen offenbar eine Splittergruppe. Woran liegt das?

    Lafontaine: Also, wenn man unsere Position im Westen würdigen will, muss man natürlich alles betrachten. Und da gehört dann auch die Kommunalwahl in Hessen mit dazu, wo wir also schon beachtliche Erfolge erreicht haben. Das will ich dann zunächst einmal erwähnen. Etwa in Frankfurt, in Marburg, Gießen, Kassel und anderen Städten waren wir deutlich über fünf Prozent. Und das ist ein erster wichtiger Schritt für uns. Aber wir haben in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, sie haben das genannt, viel zu schlecht abgeschnitten. Das liegt schlicht und einfach daran, dass wir eine sehr, sehr schwache Organisation haben als neue junge Partei und dass wir, ich will das gerne einmal ansprechen und bedanke mich insofern für das Interview, natürlich auch mit einer Mediensperre in vielen Medien zu kämpfen haben - nicht in allen, aber in vielen Medien. Unsere Hörer können das selbst verfolgen.

    Wenn etwa Zeitungen berichten über die Debatten des Bundestages, dann tauchen dort die FDP und die Grünen auf, und dann ist Feierabend. Und das ist natürlich auch eine Interessenlage. Wir sind die einzige Gruppe, die für eine ordentliche Besteuerung der Vermögen, also auch der Verlage, eintritt, der Gewinne, also auch der Gewinne der Verlage, und die Besteuerung höherer Einkommen. Und deshalb sind wir bei den Machern nicht so beliebt.

    Wiese: Aber Sie wollen jetzt nicht den Medien die Schuld daran geben, dass die Linkspartei keine guten Wahlergebnisse hatte?

    Lafontaine: Nein, das nicht. Aber ich will darauf hinweisen, dass wir eine Praxis mittlerweile haben, in der die Linkspartei deutlich gegenüber den anderen benachteiligt wird. Und das ist unser gutes demokratisches Recht, ja unsere demokratische Pflicht. Und ich will auch darauf hinweisen für die Hörerinnen und Hörer, dass Medien immer Interessen vertreten und dass natürlich private Medien das Interesse haben, möglichst niedrige Gewinnsteuern zu zahlen, möglichst keine Vermögenssteuer zu zahlen und möglichst niedrige Einkommensteuern zu zahlen bei den höheren Einkommen. Und eine Partei wie wir, die als einzige deutsche Partei für eine Vermögenssteuer eintritt, für höhere Gewinnsteuern und für höhere Besteuerung großer Einkommen, ist natürlich nicht beliebt.

    Wiese: Demnächst wird auch in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin gewählt. In beiden Bundesländern tritt die Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit WASG gesondert an, mit der Sie doch eigentlich fusionieren wollen. Wie steht es um das ehrgeizige Projekt der einen großen gesamtdeutschen Linkspartei?

    Lafontaine: Es wird, bis wir das in trockenen Tüchern haben, noch die eine oder andere Schwierigkeit geben. Sie haben jetzt die alternativen Kandidaturen in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern genannt. Aber wir haben dort ja auch eine klare Entscheidung getroffen. Der Bundesvorstand der WASG hat gesagt, dass dies nicht im Interesse der Gesamtpartei ist und dass auch keine finanzielle Unterstützung erfolgt. Aber die Gerichte haben entschieden, dass unter dem Namen WASG jeder kandidieren kann, wenn er will. Das müssen wir respektieren. Und insofern warten wir die Ergebnisse dort ab.

    Wiese: Aber angesichts der Wahlergebnisse bleibt es augenscheinlich auch bei der Linken bei der Kluft zwischen Ost und West?

    Lafontaine: Ja, das ist auch historisch bedingt. Im Osten hat die Linkspartei, ehemalige PDS, eine fast volksparteiähnliche Position, weil viele Menschen dort natürlich ein ausgeprägtes Gespür auch für soziale Gerechtigkeit haben und die Politik, die zurzeit in Deutschland gemacht wird, ablehnen. Im Westen ist das etwas schwieriger. Da haben wir auch das Problem, dass insbesondere viele Gewerkschaftsmitglieder schwanken zwischen Linkspartei und Sozialdemokraten. Die meisten sind eben immer in der Sozialdemokratie auch organisiert gewesen.

    Aber ich sage diesen Kollegen, ihr müsst irgendwann einmal wissen, was ihr wollt. Wenn ihr die Sozialdemokraten unterstützt, auch bei Bundestagswahlen, und viele Gewerkschaftsfunktionäre stehen auf den Unterstützungslisten der einzelnen Abgeordneten, dann seid ihr jetzt mit verantwortlich für Mehrwertsteuererhöhung, ihr seid mit verantwortlich für Kürzung des Arbeitslosengeldes, ihr seid mit verantwortlich für den Abbau der Pendlerpauschale, und ihr seid auch mit verantwortlich, wenn Deutschland sich an völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligt und dann könnt ihr euch vor dieser Verantwortung nicht drücken.

    Wiese: Aber insgesamt zählen Sie die SPD nicht mehr zu der Linken?

    Lafontaine: Ich definiere linke Parteien als Parteien, die für den Sozialstaat eintreten und für Friedenspolitik im Äußeren. Und die Sozialdemokratie hat sich zum Sozialabbau entschlossen, jetzt wieder Kürzung des Arbeitslosengeldes II, Mehrwertsteuererhöhung entgegen allen Wahlversprechen, und unterstützt Afghanistan, Jugoslawienkrieg, mittelbar den Irakkrieg, völkerrechtswidrige Kriege, das ist keine linke Partei.

    Wiese: Herr Lafontaine, Sie wollen ja an die Macht kommen. Sonst würden Sie ja nicht antreten mit der Linkspartei. Aber ohne ein Zusammengehen mit einem Partner, und da wäre ja eigentlich die SPD der Partner oder die Partnerin, wird die Linkspartei doch kaum je an die Macht kommen. Kurt Beck, der SPD-Chef sagt, so lange ich Vorsitzender bin, wird es keine Koalition mit der Linkspartei geben.

    Lafontaine: Ich will den Begriff "an die Macht kommen" etwas relativieren mit einem Wort von Karl Kraus: "Sie glaubten, sie hätten die Macht, dabei waren sie nur an der Regierung". Es ist ja auch verblüffend, dass in Deutschland - nehmen Sie nur mal Mehrwertsteuer oder Gesundheitswesen oder so - die Entscheidungen immer im Interesse der Wirtschaft fallen und nicht im Interesse des Volkes. Insofern kann man diesen Satz schon anwenden auch auf die Praxis der deutschen Politik. Und daher wollen wir nicht an die Macht kommen, sondern wir wollen Politik verändern. Das ist eine andere Akzentsetzung.

    Und die Linke hat schon Politik verändert dadurch, dass sie angetreten ist zur Bundestagswahl. Die schwarz-gelbe Koalition, die noch stärker soziale Positionen zurückgedrängt hätte in Deutschland, ist nicht zustande gekommen. Und die Große Koalition tut sich schwer, bestimmte Entscheidungen durchzusetzen, weil wir überhaupt da sind und weil es eine Konkurrenz unter den Parteien gibt.

    Nun verweigern wir uns natürlich nicht der Perspektive der Regierungsverantwortung. Aber, wie gesagt, wir wollen Politik verändern. Das heißt, Regierungsverantwortung ist für uns überhaupt nur ein Diskussionspunkt, wenn Agenda 2010, Harz IV und völkerrechtswidrige Kriege nicht mehr Grundlage der Politik sind. Insofern habe ich eine Gemeinsamkeit mit Herrn Beck. So wie er sagt, er führt keine Gespräche mit uns, mit Parteien, die Harz IV, Agenda 2010 oder völkerrechtswidrige Kriege für nicht richtig halten, führen auch wir keine Gespräche über Regierungen.

    Wiese: Noch ein persönliches Wort zum Schluss, Herr Lafontaine. Sie sind schon viel gewesen: Ministerpräsident, Parteichef, Kanzlerkandidat, Finanzminister. Was wollen Sie selbst noch werden?

    Lafontaine: Ich will nichts mehr werden. Dafür haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass ich schon Vieles gewesen bin. Ich habe noch von meiner Herkunft her den Ehrgeiz, etwas dazu beizutragen, dass die Politik in Deutschland wieder sozial gerechter wird. Ich bin das Kind einer Kriegerwitwe. Ich bin in kleinen Verhältnissen groß geworden und ich möchte eben meinen Beitrag dazu leisten, dass diese Gesellschaft sich nicht weiter so fehlentwickelt, wie es zurzeit geschieht.