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Lag Atlantis um die Ecke?

Archäologie. – Seit Platons Schilderungen von der sagenumwobenen, versunkenen Insel fasziniert und bewegt die Sage von Atlantis die Gemüter von Wissenschaftlern und Romantikern gleichermaßen. Während aber der antike Autor zu der geographischen Lage eher wage blieb und sie schlicht in die damals unbekannte Sphäre eines großen Ozean westlich Griechenlands, nach traditioneller Interpretation im Atlantik jenseits von Spanien und Portugal, projizierte, entwickelte der Wissenschaftsjournalist Sergio Frau eine ganz eigene Erklärung zum Fall Atlantis. Demnach könnte das heutige Sardinien der Sitz des untergegangenen Reiches gewesen sein.

    Nicht in abstrakter Ferne, "in einem unbekannten Ozean jenseits der Säulen des Herkules", wie Platon schildert, sondern quasi gleich um die Ecke könnte Atlantis gelegen haben, behauptet zumindest Sergio Frau. So abwegig sei die Idee des unangefochten prominentesten Privatforschers Italiens indes nicht, meint Andrea Giardina, Althistoriker an der Universität Rom: "Es ist schon faszinierend, wie Sergio Frau mit einer strikten Analyse dem Mythos Atlantis auf die Spur zu kommen scheint." So schloss Frau in seinem letzten Buch, die von antiken Zeitgenossen als die "Säulen des Herkules" bezeichneten Grenzen der damals bekannten Welt seien zwischen dem südlichen Sizilien und dem nördlichen Tunesien verlaufen. Von dieser Annahme, der sich inzwischen auch verschiedene italienische Altertumsforscher anschlossen, geht der Privathistoriker jetzt noch einen Schritt weiter und nimmt Platon dabei geradezu beim Wort. So spricht der Chronist von einer großen Insel, auf der immer Frühling herrsche und deren Bewohner Menschen sehr alt würden. Dies könnte auf Sardinien zutreffen, denn seit Jahren untersuchten Biologen und Mediziner aus Europa und den USA die Gründe für das ungewöhnlich milde Klima der Insel und das ebenfalls überdurchschnittlich hohe Alter ihrer Bewohner.

    Auch schreibt Platon, die geheimnisvolle Insel berge große Metallschätze. Das trifft auf Sardinien zu, meint Frau: die Insel sei nicht zuletzt seit Urzeiten bewohnt, weil ihr Erdreich extrem viele und überdies leicht zugängliche Metalle aufweist. "Platons ungefähre geografische Beschreibung von Atlantis spricht von weiteren nahen anderen Eilanden und dem nahen Festland, wie dies bei Sardinien der Fall ist. Auch die zahlreichen Hinweise auf eine schwerwiegende Katastrophe in der antiken Welt weisen auf Sardinien hin. Und bei diesen Hinweisen handelt es sich um alles andere als Mythen," räumt Giardina ein. So ermittelten italienische Geologen, dass Sardinien im 12. Jahrhundert vor unserer Zeit durch ein schweres Seebeben heimgesucht wurde, dessen enorme Flutwelle den gesamten Südteil der Insel in Mitleidenschaft zog, berichtet der Forscher der Universität Rom: "Sergio Frau integriert verschiedenste Forschungen auf verschiedenen Gebieten und zieht daraus logische Schlüsse. So setzt er das Beben mit der dadurch bewirkten Zerstörung der so genannten Nuragenkultur in Verbindung."

    Mit Nuragen werden kegelförmige Steinbauten auf Sardinien bezeichnet, die von einem bisher unbekannten Volk errichtet wurden. Die tonnenschweren Gesteinsblöcke dieser Bauten wurden von der Flutwelle Hunderte von Metern fortgespült. Auch belegen zahlreiche Salzseen im Inneren Sardiniens eine derartige Überflutung. Überdies seien verschiedene Nuragendörfer erst vor wenigen Jahren aus meterhohem Schlamm ausgegraben worden. Waren ihre Bewohner vielleicht die Bewohner von Atlantis, fragt Sergio Frau am Ende seines Buches. Eine eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Doch die Kette von Indizien, die Frau zusammentrug und zueinander in Beziehung setzte, verblüffen indes selbst Italiens angesehenste Althistoriker. In jedem Fall bringt das spannende Buch des italienischen Wissenschaftsjournalisten frischen Wind in einen Mythos, der seit Generationen die Gemüter bewegt – die Suche nach Atlantis.

    [Quelle: Thomas Migge]