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Lager
Räume der totalen Entmenschlichung

Auschwitz ist wohl für die meisten Menschen der Inbegriff des Phänomens Lager. Das aber ist ein Irrtum, zu diesem Schluss kommen die Herausgeber Bettina Greiner und Alan Kramer in ihrem Buch "Welt der Lager". Der globale Blick zeigt: Lager sind nicht nur Sache von Diktaturen und sie dienen ebenso der Exklusion wie der Inklusion.

Von Henry Bernhard | 27.01.2014
    "Die Welt der Lager ist nicht nur Geschichte, sie ist Realität.Der Topos Auschwitz verstellt den Blick und führt nicht weiter."
    Die Konzentrationslager des "Dritten Reichs" sollten nicht als "Fluchtpunkt der Geschichte" dienen, so Kramer; gerade die Vernichtungslager seien ein Sonderfall, nicht die Normalität des Phänomens "Lager". Kramers vorzügliche Einleitung bereitet den analytischen Boden, auf dem das Phänomen "Lager" diskutiert wird, er klärt ebenso kurz wie prägnant den Gedanken der Moderne, Menschen nicht deswegen zusammen- und einzusperren, weil sie etwas getan haben, sondern weil sie etwas sind. Das Gefängnis soll Individuen für definierte Taten bestrafen; das Lager will vorbeugen, ganze Gruppen oder Ethnien wegsperren, ausschließen, umerziehen oder vernichten. Und obwohl das Lager ein Phänomen des 20. Jahrhunderts ist, so wurzelt es doch in den Ideen des 19.
    "Das Denken in Nationen und Völkern seit der Französischen Revolution und der Rassismus des späten 19. Jahrhunderts ließen nicht Armeen, sondern Nationen gegeneinander in den Krieg treten. Die rhetorische Darstellung des Feindvolkes als das absolut Andere und Fremde schuf das Potenzial, wehrlose Feinde auch nach deren Gefangennahme als Bedrohung zu behandeln. Zudem produzierte jeder Krieg gegen einen äußeren Feind die Möglichkeit, gleichzeitig den inneren Feind zu bekämpfen, um die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze zu glätten, die Nation zu "reinigen" und das Staatsvolk zu erneuern."
    Getestet wurden die modernen Lager dann an der imperialen Peripherie – in den Kolonien: in Kuba, in Südafrika, in Deutsch-Südwest-Afrika. Die Kolonialarmeen wollten in diesen frühen asymmetrischen Kriegen Aufständische und Zivilisten trennen – um die Kolonialgesellschaft kontrollieren, disziplinieren und staatlicher Verwaltung unterwerfen zu können. Die Effekte waren aber mitunter andere.
    "Obwohl die Reichsregierung die Lager nicht als Orte der gezielten Massenvernichtung konzipiert hatte, handelte es sich um Räume der totalen Ausbeutung und Entmenschlichung, in denen der massenhafte Tod durch die Praxis des Militärs die Folge war."
    ... schreibt Claudia Siebrecht über die mörderische deutsche Praxis gegenüber den aufständischen Herero in Deutsch-Südwest-Afrika. Die Wurzeln des Konzentrationslagers waren also gelegt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Die Unterkünfte für Millionen Kriegsgefangene in ganz Europa hält Heather Jones in ihrem brillanten Text für revolutionär: Weil sie mit der Bildung von großen Arbeitskommandos und der Vergeltung gegen Gefangene strukturell auf die späteren NS-Lager hinwiesen.
    "Da die Gefangenen zunehmend als bloße numerische Einheiten – als Arbeitskräfte oder Geiseln - galten, konnte der Staat sie als eine uniforme, bürokratisch verwaltete Masse behandeln, um im Namen größerer Effizienz die rationellsten realpolitischen oder wirtschaftlichen Ziele zu verfolgen."
    Ein sowjetisches Gulag, mehr als 8000 Kilometer östlich von Moskau in Sibirien, 1954.
    Ein sowjetisches Gulag, mehr als 8000 Kilometer östlich von Moskau in Sibirien, 1954. (AP Archiv)
    Millionenfacher Tod im Gulag
    Die nächsten Schritte zum modernen Lager folgten rasch: Die kausale Verkettung von Kriminalität und Gefangenschaft wurde aufgelöst, die Lager technisch modernisiert und urbanisiert: durch höhere Hygienestandards, Wachtürme, Stacheldraht, Dreistockbetten, Flutlicht, Latrinen und so weiter. Heather Jones schlussfolgert:
    " ... dass das Lager kein Zeichen eines Versagens der modernen Zivilisation, sondern vielmehr in deren ureigenen Prozessen angelegt ist. Eben darin bestand der revolutionäre Modernisierungsprozess. Sobald er sich mit einer ideologischen Radikalisierung verband, löschten die Anwendungen, die dieses neue Wissen später im 20. Jahrhundert fand, Millionen Menschenleben aus."
    Lenins und später Stalins Sowjetregime nutzte die Kriegsgefangenenlager des Weltkriegs gleich weiter als Konzentrationslager – hier taucht der Begriff erstmals auf – für die "Feinde der Revolution". Der millionenfache Tod kam im Gulag weniger durch Morde als durch Ausbeutung und Mangel an allem: Essen, Wohnraum, Wärme. Felix Schnell schreibt:
    "Letztlich behauptete und entwickelte sich die Sowjetunion auch durch den Gulag, eine ihrer zentralen Systemstellen, an der sie Menschenleben in Modernisierung konvertierte – darin besteht sein dämonischer Erfolg."
    Faszinierend das Kapitel von Marc Buggeln und Michael Wildt über das Lager im Nationalsozialismus, wo es enorm differenziert viele Rollen der Inklusion und der Exklusion erfüllte: Juden, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, politische Gegner, Sinti und Roma sollten ausgeschlossen, weggesperrt, aus dem "Volkskörper" entfernt werden.
    In Lagern der Hitlerjugend und des Reichsarbeitsdienstes dagegen sollten "Volksgenossen" gestählt und indoktriniert werden und als nützliches Glied in der "Volksgemeinschaft" aufgehen. Für Lehrer, Ärzte, Juristen, Beamte wurden eigene Lager eingerichtet, um die Elite des Staates schneller nationalsozialistisch durchdringen zu können. Im Krieg kamen Tausende Lager für "rückgesiedelte Volksdeutsche", für Ausgebombte, für Kinder hinzu. Allen Lagern gemein jedoch ist die Baracke als das zentrale Symbol, die Abgrenzung nach außen, die Gewalt, die Arbeit, die Entindividualisierung und Gleichschaltung aller Insassen, so die Autoren.
    "Die Lager waren gerade im Nationalsozialismus Orte, in und mit denen der Wandel der Gesellschaft hin zu einer imaginierten perfekten Ordnung beschleunigt werden sollte."
    Die reinen Vernichtungslager der Nazis – so stellt ein Aufsatz dar – sind
    "eine nationalsozialistische Erfindung ohne internationale Vorläufer und ohne einen transnationalen Wissenstransfer."
    Sie bleiben also eine Ausnahme im Kosmos der Lager. Lager zur Umerziehung, zur Ausbeutung durch Arbeit, zur Homogenisierung des "Volkskörpers", jedoch gab und gibt es in vielen Teilen der Welt: Weitere Kapitel des Buches beschäftigen sich mit Varianten im faschistischen Spanien und Italien; mit mörderischen japanischen Kriegsgefangenenlagern und den Speziallagern des NKWD in der Sowjetischen Besatzungszone.
    Bernd Greiner, der profunde Kenner der USA und ihrer Kriege, nimmt schonungslos den "war on terror" und dessen eklatante Rechtsbrüche ins Visier. Ein bitterer Schlussakkord am Ende eines hervorragenden Sammelbandes. Die Aufsätze sind durchweg von hoher Qualität, wobei analytische Schärfe und Brillanz differieren. Wer sich über das Konzentrationslager als Phänomen, ja als Ausdruck der modernen Welt des 20. Jahrhunderts informieren will, ist mit diesem Buch sehr gut beraten.
    Bettina Greiner und Alan Kramer (Hrsg.): "Welt der Lager. Zur 'Erfolgsgeschichte' einer Institution"
    Hamburger Edition, 359 Seiten, 32 Euro.