Dieter Jepsen-Föge: Herr Lammert, vor einem Jahr galt es vielen als ausgemacht, dass Sie wegen Ihrer Erfahrung mit Kultur- und Medienpolitik in einer unionsgeführten Regierung der dafür zuständige Staatsminister würden. Schließlich waren Sie auch zu Zeiten des Kanzlers Helmut Kohl noch Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, sind also in dem Thema drin. Aber nun sind Sie nicht in der Exekutive, sondern der Präsident des Deutschen Bundestages, der Legislative also. Wenn Sie selber nach einem knappen Jahr im Amt eine erste Bilanz ziehen: Inwieweit konnten Sie nicht nur die Volksvertretung repräsentieren, sondern dem Amt so etwas wie einen persönlichen Stempel aufdrücken?
Norbert Lammert: Um das zu beurteilen, sind andere naturgemäß befugter, ganz sicher unabhängiger, unbefangener als man selbst. Jeder der bisherigen Bundestagspräsidenten hat dem Amt eine eigene Note gegeben, das ist bei den Parlamentspräsidenten nicht anders als bei den Regierungschefs oder bei den Staatspräsidenten, weil jeder auch ein unterschiedliches Naturell, ein anderes Temperament einbringt und in einer ganz unterschiedlichen Weise vielleicht auch parlamentarische Erfahrungen. Ich bin mit dem knappen Jahr nicht unzufrieden, und ich habe den begründeten Eindruck, dass es den meisten Kolleginnen und Kollegen ähnlich geht.
Jepsen-Föge: Hat denn der Bundestag in diesem ersten Jahr der Großen Koalition weiter an Bedeutung verloren, zum Beispiel dadurch, dass es zahlreiche Ausschüsse der Großen Koalition gibt, zum Teil unter Beteiligung der Fraktionsvorsitzenden, die eingebunden sind, dass wichtige Fragen eigentlich weit vorher geklärt sind, dass der Bundestag nur noch so etwas wie eine Notariatsfunktion wahrnimmt?
Lammert: Das glaube ich nicht. Diese Vermutung ist weit verbreitet, und sie wird regelmäßig mit dem Hinweis auf die großen Mehrheiten einer Großen Koalition begründet. Nach meinem Eindruck ist es tendenziell eher umgekehrt. Große Mehrheiten einer Regierung reduzieren den Disziplinierungsdruck, weil das Standardargument , dass es auf jede einzelne Stimme ankomme, nicht in ähnlicher Weise durchschlagend wirken kann, wie das bei kleinen Koalitionen und knappen Mehrheiten der Fall ist. Beide Koalitionsführungen haben mit lebhaften Fraktionen zu tun und beklagen sich, für mich nachvollziehbar, gelegentlich über den Aufwand, den sie treiben müssen, um ihre eigenen Fraktionen von der Weisheit der Vereinbarung zu überzeugen, die in den Koalitionsführungsrunden untereinander vereinbart worden sind.
Jepsen-Föge: Also insofern können Sie sogar von einem Bedeutungszuwachs sprechen?
Lammert: Journalisten haben es ja immer gerne . . .
Jepsen-Föge: . . . so oder so . . .
Lammert: . . . so ist es, und deswegen kommen mir beide Vorgaben eben doch als Simplifizierungen vor. Ich halte weder die Behauptung von einem Bedeutungszuwachs so pauschal für hinreichend begründet, noch allerdings die umgekehrte häufigere Behauptung, dass wir es mit einem ständigen Bedeutungsverlust der Parlamente zu tun hätten.
Jepsen-Föge: Aber wenn wir das einmal differenzierter betrachten: Es hat ja immer wieder Parlamentarismus-Reformen gegeben. Häufig hatten sie das Ziel, die Bedeutung des Gewichtes einzelner Abgeordnete auch gegenüber ihrer Fraktion zu verstärken oder des Parlaments gegenüber der Regierung überhaupt. Halten Sie - in welcher Form auch immer - eine Reform des Bundestages oder Veränderungen für wichtig, und welche sind das, die Sie sich zum Ziel gesetzt haben?
Lammert: Wir haben immer wieder in den vergangenen Jahren Diskussionen darüber gehabt, wie der Bundestag seine Arbeit selber so effizient organisiert, dass er nicht nur die Kontrollaufgabe gegenüber der jeweiligen Regierung ernst nimmt und seine Funktion als Gesetzgeber, sondern gleichzeitig auch die Funktion als Sprachrohr einer ja selten homogenen Öffentlichkeit in politischen Dingen wahrnimmt. Alleine die Verbindung dieser drei zentralen Aufgaben macht schon deutlich, dass es eine Patentlösung nicht gibt und dass zwischen diesen Aspekten auch immer wieder Verbindungen auch über Kompromisse gesucht werden müssen, zumal im Übrigen die gleiche Öffentlichkeit, die sich ein möglichst lebendiges und selbstbewusstes und selbstständiges Parlament wünscht, eher ungnädig reagiert, wenn sich daraus Zweifel an der Handlungsfähigkeit einer Regierung und der Durchsetzung eines verkündeten Regierungsprogramms ergeben. Ich glaube, dass die Arbeit des Bundestages im Ganzen vernünftig organisiert ist, und es ist bisher auch immer gelungen, aus den jeweils veränderten Konstellationen, die sich nach neuer Zusammensetzung des Bundestages ergeben, notwendige Modifizierungen oder Justierungen herbeizuführen.
Das schließt nicht aus, dass es über einzelne Punkte immer mal wieder auch unterschiedliche Auffassungen gibt. So ist jetzt beispielsweise vor ein paar Wochen mal von einem Vertreter der Opposition vorgetragen worden, ob man nicht die Redezeiten statt im Stärkeverhältnis der Fraktionen zwischen Koalition und Opposition gleichmäßig verteilen müsste, das heißt, die Hälfte der Redezeit geht an die Koalition, die andere geht an die Opposition. Also solche Initiativen oder Vorschläge wird es immer geben, und darüber muss man dann in einem geordneten Verfahren befinden.
Jepsen-Föge: Würden Sie sich das zu eigen machen?
Lammert: Nein, ich würde es mir nicht zu eigen machen, denn es muss bei der Wahrnehmung der Rolle des Parlaments als Verfassungsorgan schon dabei bleiben, dass entsprechend dem Wählervotum die verschiedenen politischen Gruppierungen, die der Wähler in den Deutschen Bundestag entsandt hat, auch entsprechend ihrem vom Wähler entschiedenen Gewicht da Gestaltungs-, insbesondere Redemöglichkeiten haben.
Jepsen-Föge: Bei der Großen Koalition ist naturgemäß die Opposition klein - nicht ganz so klein, wie sie zwischen 1966 und 1969 war, diesmal ist sie zahlenmäßig größer, aber sie ist zersplittert zwischen drei Oppositionsparteien, die eigentlich nichts verbindet, außer dass sie gemeinsam in der Opposition sind und sich vielleicht einigen können, ihre Minderheitsrechte gemeinsam durchzusetzen, zum Beispiel Parlamentarische Untersuchungsausschüsse durchzusetzen. Macht Ihnen dieses Sorge, was die Zukunft des Parlamentarismus betrifft?
Lammert: Nein. Zunächst mal finde ich, ist die Geschichte der Wahlergebnisse der Bundesrepublik Deutschland ein Indiz dafür, dass bei uns die Wähler nicht nur nach der Papierform, nach der Verfassungslage mündig sind, sondern dass sie ihre Souveränität auch in Anspruch nehmen. Beide großen Parteien machen jetzt seit geraumer Zeit die für sie höchst betrübliche Erfahrung, dass ihre Bindungskraft deutlich zurückgeht. Und Sie haben selber auf den Unterschied zur ersten großen Koalition in den 60er Jahren Bezug genommen, damals haben die beiden großen Parteien rund 90 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt und hatten ein entsprechend hohen Anteil der Mandate im Deutschen Bundestag. Nach der letzten Bundestagswahl hatten sie zusammen gerade Mal 70 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt, und deswegen kam eine andere politisch handlungsfähige Regierung als eine große Koalition ja auch nicht zustande, die beide Volksparteien nicht wollten. Aus der Konstellation einer Opposition, die durch drei Fraktionen gebildet wird, ergeben sich ganz sicher sowohl Erschwernisse wie Vorzüge. Die Erschwernisse bestehen in den Notwendigkeiten, sich etwa für die Erreichung von Mindestquoten zur Durchsetzung von Minderheitsansprüchen untereinander einigen zu müssen. Diese Erschwernis muss man allerdings in Relation setzen zu der Situation einer nicht dreigeteilten Opposition in den 60er Jahren, als die FDP mit etwa zehn Prozent der Mandate gar nicht erst in die Verlegenheit gekommen wäre, darüber nachzudenken, wie man denn die mindestens 20 oder 25 Prozent der Mandate mobilisiert, um beispielsweise die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu erzwingen. Zu den Vorzügen der Situation zähle ich, dass die drei Oppositionsfraktionen sich auch untereinander im Wettbewerb befinden, und deswegen dieser Eifer, wechselseitig den Nachweis zu führen, wer die hartnäckigste, die intelligenteste, die kreativste, frechste Opposition ist, auch zu einer Belebung parlamentarischer Abläufe und parlamentarischer Debatten führt.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, in jeder Legislaturperiode ist es so, dass für die Regierung nur ein - manchmal kleines, manchmal etwas größeres - Zeitfenster offen ist für wichtige Weichenstellungen, für wichtige Gesetzgebungsprozesse, und zwar deshalb, weil dann wieder Wahlen sind, Landtagswahlen, eine Bündelung, so dass man glaubt, da den Wählern nicht sozusagen zuviel zumuten zu können. Würden Sie daraus den Schluss ziehen, zu sagen, wir sollten - was ja immer wieder diskutiert wird - doch die Legislaturperiode verlängern, zum Beispiel auf fünf Jahre, und/oder eine Bündelung der Landtagswahlen durchsetzen?
Lammert: Ich persönlich gehöre zu den Befürwortern einer Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, nicht weil ich das für unabweisbar unverzichtbar hielte, aber weil ich es für im Ergebnis vernünftig halte. Und ich würde auf zwei oder drei Aspekte in dem Zusammenhang gerne aufmerksam machen. Der erste ist ein rein nachrichtlicher. Der Bundestag ist mit seiner vierjährigen Legislaturperiode inzwischen die Ausnahme von der längst gegenteiligen Regel. Fast alle Landesparlamente in Deutschland werden für fünf Jahre gewählt. Das Europäische Parlament wird für fünf Jahre gewählt. Die Assemblée Nationale in Frankreich, das italienische Abgeordnetenhaus, das House of Commons in Großbritannien werden für fünf Jahre oder für bis zu fünf Jahre gewählt. Das macht schon deutlich, dass auch anderswo die gleichen Überlegungen angestellt worden sind, die mit einer doch bemerkenswerten Regelmäßigkeit zu einer Verlängerung der Legislaturperiode geführt haben. Der zweite Punkt, den ich für mindestens ebenso beachtlich halte, ist, dass wir in Deutschland mehr als in jedem anderen europäischen Land regelmäßig Wahlen haben, weil bei uns für die kommunale Ebene, die Landesebene und die Bundesebene jeweils eigene gesetzliche Vertretungskörperschaften gewählt werden müssen. Dazu kommen in vielen Ländern auf der kommunalen Ebene neben der Wahl der Gemeinderäte oder Kreistage noch mal gesonderte Direktwahlen für Oberbürgermeister oder Landräte, manchmal mit zweiten Wahlgängen wegen der Notwendigkeit einer absoluten Mehrheit. Und wir haben Gott sei Dank seit einigen Jahren auch die Direktwahl zum Europäischen Parlament.
Mit anderen Worten: In Deutschland wird ständig gewählt, was, wie wir inzwischen nun hinreichend wissen, nicht nur eine Errungenschaft, sondern gleichzeitig eben auch ein Störfaktor für kontinuierliche Entwicklung von Politik ist. Und deswegen, glaube ich, würde im Ergebnis eine den anderen Parlamenten entsprechende Verlängerung der Legislaturperiode der Arbeitsfähigkeit des Bundestag gut bekommen.
Jepsen-Föge: Da das, was Sie sagen, ja keine Einzelmeinung Norbert Lammert ist - warum oder wann halten Sie denn eine Veränderung des Wahlgesetzes dort für möglich?
Lammert: Ich halte für durchaus denkbar, dass es in dieser Legislaturperiode eine Vereinbarung geben könnte, künftige Legislaturperioden um ein Jahr zu verlängern. Das heißt dann selbstverständlich, dass nicht dieser Bundestag ein Jahr länger im Amt bleibt, sondern dass bei der nächsten Wahl die Wählerinnen und Wähler für fünf Jahre entscheiden.
Jepsen-Föge: Erkennen Sie da eine Mehrheit dafür innerhalb der Fraktion?
Lammert: Nicht im Sinne einer sozusagen längst vorhandenen, aber bislang nicht publizierten Mehrheit. Aber wenn ich die Gespräche, die ich ja auch mit Fraktionsführungen führe, richtig sortiere, dann erkenne ich stärker, als das in der Vergangenheit der Fall war, eine erkennbare Neigung, über dieses Thema nicht nur neu zu reden, sondern möglichst auch eine Vereinbarung herbeizuführen. Und im übrigen werbe ich auch mit Nachdruck dafür, dies wenn, dann auf der Basis einer breiten Vereinbarung zu tun, weil es ganz ungut wäre, wenn so etwas etwa mit einer verfassungsändernden Mehrheit einer großen Koalition gegen den Widerstand der Opposition beschlossen würde. Das würde ich dann ausdrücklich nicht empfehlen.
Jepsen-Föge: Zum anderen Teil der Überlegung, die immer wieder diskutiert wird: eine Zusammenlegung von Landtagswahlen, um weniger Wahltermine zu haben?
Lammert: Davon halte ich nun wiederum überhaupt nichts, weil es im Ergebnis die Bedeutung der Landespolitik atomisieren würde. Wir machen schon jetzt seit Jahren die Erfahrung, dass Landtagswahlen, schon gar in größeren Bundesländern, zu Probeabstimmungen über die Bundespolitik werden. Würde man den Termin der Landtagswahlen bündeln und alle Landtage zu einem Zeitpunkt wählen - idealerweise auf der Hälfte der Legislaturperiode des Bundestages -, würden damit faktisch alle bei Bundestagswahlen Wahlberechtigten eine Entscheidung über ihre politischen Präferenzen treffen, und das hätte massive Konsequenzen für die tatsächliche politische Legitimation eines gewählten Bundestages, wenn bei einer solchen, insgesamt auf Bundesebene stattfindenden Wahl andere Mehrheitsverhältnisse zutage träten, als sie der Zusammensetzung des Bundestages zugrunde liegen.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, der Deutsche Bundestag macht immer dann Schlagzeilen, erweckt immer dann öffentliche Aufmerksamkeit, wenn es um die Diätenerhöhung geht, um Versorgungsansprüche, Übergangsgelder von Abgeordneten. Ist der Eindruck richtig, dass auch Sie als Bundestagspräsident dieses heiße Eisen einmal wieder haben fallen lassen, um vielleicht auf bessere Zeiten, auf ein günstigeres Meinungsklima zu warten?
Lammert: Im Gegenteil, der Eindruck ist nicht richtig. Ich habe meine gesetzliche Verpflichtung, am Beginn einer Legislaturperiode einen Bericht vorzulegen und vor allen Dingen einen Vorschlag zu machen, wie mit diesem Thema denn umgegangen werden soll, erledigt. Ich habe den Fraktionen einen Vorschlag gemacht, die nun allerdings ihrerseits entscheiden müssen, ob sie ihn umsetzen wollen oder gegebenenfalls modifizieren wollen. Aber dass es jedenfalls bei mir persönlich die Neigung gäbe, diesem Thema eher auszuweichen, davon kann keine Rede sein.
Jepsen-Föge: Aber Sie haben nicht den Eindruck, dass die Fraktionen Ihnen lebhaft zustimmen in dieser Frage und auch sagen, wir sollten entscheiden, so oder so, sondern dass es erst mal wie ein heißes Eisen fallen gelassen wird?
Lammert: Ja, das ist leider wahr. Und es ist auch ein strukturelles Problem von Parlamenten, so lange sie in eigener Sache selbst entscheiden müssen. Dies gehört ja zu den zweifelhaftesten scheinbaren Privilegien von Abgeordneten, dass sie über ihre eigenen Bezüge selbst entscheiden müssen. Ich kenne buchstäblich niemanden im Deutschen Bundestag, der das für eine besondere Errungenschaft hält. Die allermeisten würden wahrscheinlich, ähnlich wie ich, die Abtretung dieser Entscheidung an welche Institution auch immer dem gegenwärtigen Zustand vorziehen. Ich habe ja mal in einem Interview auch ein bisschen salopp gesagt, das ist mir fast egal, ob das der ADAC, die Deutsche Bischofskonferenz oder der Deutsche Gewerkschaftsbund ist. Jede dieser Institutionen wäre im Unterschied zum Deutschen Bundestag über den Verdacht erhaben, in eigener Sache zu eigenen Gunsten entscheiden zu wollen oder zu müssen. Leider haben wir hier eine Rechtslage, die durch die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts uns in diese missliche Situation bringt, übrigens mit der regelmäßigen Folge, dass der Deutsche Bundestag nicht häufiger und stärker als anderswo die Einkommen seiner Mitglieder anpasst, sondern seltener und niedriger.
Jepsen-Föge: Aber, das war ja der andere Punkt, viele erkennen ja an und sagen, möglicherweise verdienen Abgeordnete eher zu wenig als zu viel. Aber ein Problem ist immer wieder in der Öffentlichkeit dargestellt die Frage der Altersversorgung, ab wann und in welcher Höhe, und da müssen Sie ja ran. Also, wie geht es weiter in dieser Frage?
Lammert: Auch in dieser Frage ist der Bundestag schon mehrfach initiativ geworden und hat vor allen Dingen in Verbindung etwa mit Änderungen der Pensionsregelungen im Beamtenrecht auch entsprechende Veränderungen in der Versorgung von Abgeordneten durchgeführt. Mit anderen Worten: Heute ist die Mindestzeit zur Erreichung eines Versorgungsanspruchs länger als früher und das Mindestalter höher als früher. Dennoch stehe ich persönlich der Frage überhaupt nicht im Wege, ob wir im Kontext weiterführender Überlegungen über die allgemeine Organisation unserer gesetzlichen Alterssicherungssysteme nicht auch zu neuen Überlegungen für die Organisation der besonderen Altersversorgungssysteme im öffentlichen Dienst im allgemeinen und bei Abgeordneten und Ministern im besonderen kommen müssen.
Jepsen-Föge: Wann wird das entschieden? Jetzt in diesem Herbst?
Lammert: Darüber könnte ich jetzt auch nur Spekulationen vortragen. Aber ich weiß, dass die Fraktionen sich auch durch den von mir ja vorgelegten Bericht veranlasst mit dem Thema beschäftigen. Ob es dazu eine Verständigung unter den Fraktionen gibt, das eine oder das andere Thema oder beide im Zusammenhang, und wenn ja, dann in welcher Weise als dieser berühmten Paketlösungen dann auf den Weg zu bringen, das kann ich nicht anstelle der Fraktionen beantworten.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, in dieser Sommerpause wurde eine Personalie sehr als Personalie, aber auch als Prinzip diskutiert. Norbert Röttgen, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion hatte einen Ruf, als Hauptgeschäftsführer zum Bundesverband der Deutschen Industrie zu wechseln, und er hatte gesagt, er würde für diese Legislaturperiode sein Abgeordnetenmandat, da er direkt gewählt worden ist, beibehalten. Der öffentliche Druck war derart, auch der Druck von einigen Vertretern des BDI, er müsse sich entscheiden. Und es kam zu der prinzipiellen Frage, kann und soll ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages gleichzeitig Interessenvertreter eines Verbandes wie hier des Bundesverbandes der Deutschen Industrie sein? Röttgen, diese Personalie ist damit beendet, hat sich entschieden. Er bleibt Abgeordneter und wird nicht BDI-Hauptgeschäftsführer. Aber zum Prinzip: Kann und soll - und in welcher Weise - ein Abgeordneter ein Interessenvertreter eines Verbandes sein?
Lammert: Zunächst einmal: Die Rechtslage ist dazu völlig eindeutig. Sowohl die Verfassung wie das Abgeordnetengesetz lässt die Wahrnehmung eines Berufes oder einer Tätigkeit neben dem Mandat ausdrücklich zu, und es entspricht auch der bisherigen Parlamentspraxis, dass Abgeordnete Berufe in ein Mandat mitbringen und in einer ganz unterschiedlichen Weise gar nicht mehr oder nur noch zeitweise oder weiter intensiv wahrnehmen. Ich nehme zur Kenntnis, dass sich da die öffentlichen Erwartungen verändert haben und dass manche, die früher in der Verbindung solcher gesellschaftlicher, beruflicher Funktion mit einem Mandat eher einen Vorzug gesehen haben, das heute eher für ein Problem halten. Für eine Errungenschaft halte ich diese Veränderung in den Erwartungen nicht. Denn wir erwarten ja gerade von einem Parlament, dass es nicht in der Fixierung sozusagen auf Parteiprogramme und auf politische Vorgaben der Vorschläge der Regierung gewissermaßen auf Zuruf reagiert, sondern dass hier ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen, die Verankerung in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen seinen Niederschlag in der Wahrnehmung der Aufgabe des Gesetzgebers für diese Gesellschaft findet. Und deswegen kann in dieser Neigung zum Purismus, das eine von dem anderen sorgfältig zu trennen, auch ein Handicap der künftigen Entwicklung liegen, zumal ich die Vorstellung für treuherzig halte, dass Abgeordnete, die keinen Beruf und keine gesellschaftliche Funktion ausübten, deswegen keine Interessen hätten. Es gibt keine interessenfreien Menschen, folglich auch keine Abgeordneten ohne Interessen. Worum es gehen muss, ist, die Verbindung offen zu legen, die zwischen der Wahrnehmung eines Mandats und anderen beruflichen oder sonstigen Interessen besteht. Dabei ist allerdings die Transparenzerwartung der Öffentlichkeit aus meiner Sicht wieder ein bisschen kurz gesprungen. Jeder erwartet, dass Einkommen möglichst offen gelegt werden mit der sich damit ganz offensichtlich verbindenden Erwartung, Einkommen schaffe Interessen.
Jepsen-Föge: Diese Frage wird ja demnächst jetzt beim Bundesverfassungsgericht anstehen, die Frage, ob Gehälter, Einkommen von Nebenbeschäftigungen, in welcher Weise angezeigt werden müssen.
Lammert: So ist es. Ich will nur mal umgekehrt darauf hinweisen, dass auch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder gar zu einer Sekte massive Interessenverflechtungen auch und gerade mit Blick auf bestimmte Gesetzgebungsvorhaben schaffen kann. Die gleiche Gesellschaft, die an der einen Stelle Transparenz für unverzichtbar hält, Einkommen, erklärt an der anderen Stelle die Transparenz für unzumutbar. Also, da ist manches, wie ich glaube, nicht so recht durchdacht. Ich will zum Schluss sagen, dass ich vor der persönlichen Entscheidung von Norbert Röttgen hohen Respekt habe, der vor die Situation gestellt, zwei Aufgaben, die rechtlich miteinander zu vereinbaren wären, aber in der gegebenen Lage faktisch wohl nicht mehr miteinander wahrgenommen werden konnten, sich dann für ein Mandat entschieden hat und das um Längen besser dotierte Amt in der Industrie aufgegeben hat.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, wir sprachen schon über auch die erste Große Koalition. Die war dann mit den Wahlen 1969 beendet. Würden Sie sagen, dass auch diese Große Koalition unbedingt mit der nächsten Bundestagswahl beendet sein sollte, dass sozusagen jede andere Konstellation besser wäre als eine Fortsetzung der Großen Koalition? Denn noch mal zur Erinnerung: Die Große Koalition kommt ja nicht deshalb zustande, weil beide großen Parteien es wollten, sondern weil es dann einen Mangel an Alternativen gab. Aber natürlich gibt es immer Alternativen. Deshalb frage ich so, wäre jede andere Konstellation eine bessere?
Lammert: Das kann man abstrakt und ohne Kenntnis von Wahlergebnissen und sich daraus ergebenden konkreten Konstellationen schwerlich sagen. Aber Sie haben völlig recht. Wir haben heute eine Große Koalition, obwohl beide Koalitionspartner erklärtermaßen diese Lösung nicht wollten. Sie war die Folge des Wahlergebnisses. Beide Koalitionspartner erklären jetzt, mal lauter und mal leiser, sie hätten nur eine sehr begrenzte Neigung, diese Konstellation nach den nächsten Wahlen fortzuführen. Das heißt, sie selber orientieren sich tendenziell eher anders als in der Verlängerung der Großen Koalition. Aber ob und welche dieser Varianten dann nach den nächsten Bundestagswahlen wirklich eine praktische Option wird, das entscheiden nicht die Parteien. Das entscheiden die Wähler.
Jepsen-Föge: Vielen Dank, Herr Lammert.
Norbert Lammert: Um das zu beurteilen, sind andere naturgemäß befugter, ganz sicher unabhängiger, unbefangener als man selbst. Jeder der bisherigen Bundestagspräsidenten hat dem Amt eine eigene Note gegeben, das ist bei den Parlamentspräsidenten nicht anders als bei den Regierungschefs oder bei den Staatspräsidenten, weil jeder auch ein unterschiedliches Naturell, ein anderes Temperament einbringt und in einer ganz unterschiedlichen Weise vielleicht auch parlamentarische Erfahrungen. Ich bin mit dem knappen Jahr nicht unzufrieden, und ich habe den begründeten Eindruck, dass es den meisten Kolleginnen und Kollegen ähnlich geht.
Jepsen-Föge: Hat denn der Bundestag in diesem ersten Jahr der Großen Koalition weiter an Bedeutung verloren, zum Beispiel dadurch, dass es zahlreiche Ausschüsse der Großen Koalition gibt, zum Teil unter Beteiligung der Fraktionsvorsitzenden, die eingebunden sind, dass wichtige Fragen eigentlich weit vorher geklärt sind, dass der Bundestag nur noch so etwas wie eine Notariatsfunktion wahrnimmt?
Lammert: Das glaube ich nicht. Diese Vermutung ist weit verbreitet, und sie wird regelmäßig mit dem Hinweis auf die großen Mehrheiten einer Großen Koalition begründet. Nach meinem Eindruck ist es tendenziell eher umgekehrt. Große Mehrheiten einer Regierung reduzieren den Disziplinierungsdruck, weil das Standardargument , dass es auf jede einzelne Stimme ankomme, nicht in ähnlicher Weise durchschlagend wirken kann, wie das bei kleinen Koalitionen und knappen Mehrheiten der Fall ist. Beide Koalitionsführungen haben mit lebhaften Fraktionen zu tun und beklagen sich, für mich nachvollziehbar, gelegentlich über den Aufwand, den sie treiben müssen, um ihre eigenen Fraktionen von der Weisheit der Vereinbarung zu überzeugen, die in den Koalitionsführungsrunden untereinander vereinbart worden sind.
Jepsen-Föge: Also insofern können Sie sogar von einem Bedeutungszuwachs sprechen?
Lammert: Journalisten haben es ja immer gerne . . .
Jepsen-Föge: . . . so oder so . . .
Lammert: . . . so ist es, und deswegen kommen mir beide Vorgaben eben doch als Simplifizierungen vor. Ich halte weder die Behauptung von einem Bedeutungszuwachs so pauschal für hinreichend begründet, noch allerdings die umgekehrte häufigere Behauptung, dass wir es mit einem ständigen Bedeutungsverlust der Parlamente zu tun hätten.
Jepsen-Föge: Aber wenn wir das einmal differenzierter betrachten: Es hat ja immer wieder Parlamentarismus-Reformen gegeben. Häufig hatten sie das Ziel, die Bedeutung des Gewichtes einzelner Abgeordnete auch gegenüber ihrer Fraktion zu verstärken oder des Parlaments gegenüber der Regierung überhaupt. Halten Sie - in welcher Form auch immer - eine Reform des Bundestages oder Veränderungen für wichtig, und welche sind das, die Sie sich zum Ziel gesetzt haben?
Lammert: Wir haben immer wieder in den vergangenen Jahren Diskussionen darüber gehabt, wie der Bundestag seine Arbeit selber so effizient organisiert, dass er nicht nur die Kontrollaufgabe gegenüber der jeweiligen Regierung ernst nimmt und seine Funktion als Gesetzgeber, sondern gleichzeitig auch die Funktion als Sprachrohr einer ja selten homogenen Öffentlichkeit in politischen Dingen wahrnimmt. Alleine die Verbindung dieser drei zentralen Aufgaben macht schon deutlich, dass es eine Patentlösung nicht gibt und dass zwischen diesen Aspekten auch immer wieder Verbindungen auch über Kompromisse gesucht werden müssen, zumal im Übrigen die gleiche Öffentlichkeit, die sich ein möglichst lebendiges und selbstbewusstes und selbstständiges Parlament wünscht, eher ungnädig reagiert, wenn sich daraus Zweifel an der Handlungsfähigkeit einer Regierung und der Durchsetzung eines verkündeten Regierungsprogramms ergeben. Ich glaube, dass die Arbeit des Bundestages im Ganzen vernünftig organisiert ist, und es ist bisher auch immer gelungen, aus den jeweils veränderten Konstellationen, die sich nach neuer Zusammensetzung des Bundestages ergeben, notwendige Modifizierungen oder Justierungen herbeizuführen.
Das schließt nicht aus, dass es über einzelne Punkte immer mal wieder auch unterschiedliche Auffassungen gibt. So ist jetzt beispielsweise vor ein paar Wochen mal von einem Vertreter der Opposition vorgetragen worden, ob man nicht die Redezeiten statt im Stärkeverhältnis der Fraktionen zwischen Koalition und Opposition gleichmäßig verteilen müsste, das heißt, die Hälfte der Redezeit geht an die Koalition, die andere geht an die Opposition. Also solche Initiativen oder Vorschläge wird es immer geben, und darüber muss man dann in einem geordneten Verfahren befinden.
Jepsen-Föge: Würden Sie sich das zu eigen machen?
Lammert: Nein, ich würde es mir nicht zu eigen machen, denn es muss bei der Wahrnehmung der Rolle des Parlaments als Verfassungsorgan schon dabei bleiben, dass entsprechend dem Wählervotum die verschiedenen politischen Gruppierungen, die der Wähler in den Deutschen Bundestag entsandt hat, auch entsprechend ihrem vom Wähler entschiedenen Gewicht da Gestaltungs-, insbesondere Redemöglichkeiten haben.
Jepsen-Föge: Bei der Großen Koalition ist naturgemäß die Opposition klein - nicht ganz so klein, wie sie zwischen 1966 und 1969 war, diesmal ist sie zahlenmäßig größer, aber sie ist zersplittert zwischen drei Oppositionsparteien, die eigentlich nichts verbindet, außer dass sie gemeinsam in der Opposition sind und sich vielleicht einigen können, ihre Minderheitsrechte gemeinsam durchzusetzen, zum Beispiel Parlamentarische Untersuchungsausschüsse durchzusetzen. Macht Ihnen dieses Sorge, was die Zukunft des Parlamentarismus betrifft?
Lammert: Nein. Zunächst mal finde ich, ist die Geschichte der Wahlergebnisse der Bundesrepublik Deutschland ein Indiz dafür, dass bei uns die Wähler nicht nur nach der Papierform, nach der Verfassungslage mündig sind, sondern dass sie ihre Souveränität auch in Anspruch nehmen. Beide großen Parteien machen jetzt seit geraumer Zeit die für sie höchst betrübliche Erfahrung, dass ihre Bindungskraft deutlich zurückgeht. Und Sie haben selber auf den Unterschied zur ersten großen Koalition in den 60er Jahren Bezug genommen, damals haben die beiden großen Parteien rund 90 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt und hatten ein entsprechend hohen Anteil der Mandate im Deutschen Bundestag. Nach der letzten Bundestagswahl hatten sie zusammen gerade Mal 70 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt, und deswegen kam eine andere politisch handlungsfähige Regierung als eine große Koalition ja auch nicht zustande, die beide Volksparteien nicht wollten. Aus der Konstellation einer Opposition, die durch drei Fraktionen gebildet wird, ergeben sich ganz sicher sowohl Erschwernisse wie Vorzüge. Die Erschwernisse bestehen in den Notwendigkeiten, sich etwa für die Erreichung von Mindestquoten zur Durchsetzung von Minderheitsansprüchen untereinander einigen zu müssen. Diese Erschwernis muss man allerdings in Relation setzen zu der Situation einer nicht dreigeteilten Opposition in den 60er Jahren, als die FDP mit etwa zehn Prozent der Mandate gar nicht erst in die Verlegenheit gekommen wäre, darüber nachzudenken, wie man denn die mindestens 20 oder 25 Prozent der Mandate mobilisiert, um beispielsweise die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu erzwingen. Zu den Vorzügen der Situation zähle ich, dass die drei Oppositionsfraktionen sich auch untereinander im Wettbewerb befinden, und deswegen dieser Eifer, wechselseitig den Nachweis zu führen, wer die hartnäckigste, die intelligenteste, die kreativste, frechste Opposition ist, auch zu einer Belebung parlamentarischer Abläufe und parlamentarischer Debatten führt.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, in jeder Legislaturperiode ist es so, dass für die Regierung nur ein - manchmal kleines, manchmal etwas größeres - Zeitfenster offen ist für wichtige Weichenstellungen, für wichtige Gesetzgebungsprozesse, und zwar deshalb, weil dann wieder Wahlen sind, Landtagswahlen, eine Bündelung, so dass man glaubt, da den Wählern nicht sozusagen zuviel zumuten zu können. Würden Sie daraus den Schluss ziehen, zu sagen, wir sollten - was ja immer wieder diskutiert wird - doch die Legislaturperiode verlängern, zum Beispiel auf fünf Jahre, und/oder eine Bündelung der Landtagswahlen durchsetzen?
Lammert: Ich persönlich gehöre zu den Befürwortern einer Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, nicht weil ich das für unabweisbar unverzichtbar hielte, aber weil ich es für im Ergebnis vernünftig halte. Und ich würde auf zwei oder drei Aspekte in dem Zusammenhang gerne aufmerksam machen. Der erste ist ein rein nachrichtlicher. Der Bundestag ist mit seiner vierjährigen Legislaturperiode inzwischen die Ausnahme von der längst gegenteiligen Regel. Fast alle Landesparlamente in Deutschland werden für fünf Jahre gewählt. Das Europäische Parlament wird für fünf Jahre gewählt. Die Assemblée Nationale in Frankreich, das italienische Abgeordnetenhaus, das House of Commons in Großbritannien werden für fünf Jahre oder für bis zu fünf Jahre gewählt. Das macht schon deutlich, dass auch anderswo die gleichen Überlegungen angestellt worden sind, die mit einer doch bemerkenswerten Regelmäßigkeit zu einer Verlängerung der Legislaturperiode geführt haben. Der zweite Punkt, den ich für mindestens ebenso beachtlich halte, ist, dass wir in Deutschland mehr als in jedem anderen europäischen Land regelmäßig Wahlen haben, weil bei uns für die kommunale Ebene, die Landesebene und die Bundesebene jeweils eigene gesetzliche Vertretungskörperschaften gewählt werden müssen. Dazu kommen in vielen Ländern auf der kommunalen Ebene neben der Wahl der Gemeinderäte oder Kreistage noch mal gesonderte Direktwahlen für Oberbürgermeister oder Landräte, manchmal mit zweiten Wahlgängen wegen der Notwendigkeit einer absoluten Mehrheit. Und wir haben Gott sei Dank seit einigen Jahren auch die Direktwahl zum Europäischen Parlament.
Mit anderen Worten: In Deutschland wird ständig gewählt, was, wie wir inzwischen nun hinreichend wissen, nicht nur eine Errungenschaft, sondern gleichzeitig eben auch ein Störfaktor für kontinuierliche Entwicklung von Politik ist. Und deswegen, glaube ich, würde im Ergebnis eine den anderen Parlamenten entsprechende Verlängerung der Legislaturperiode der Arbeitsfähigkeit des Bundestag gut bekommen.
Jepsen-Föge: Da das, was Sie sagen, ja keine Einzelmeinung Norbert Lammert ist - warum oder wann halten Sie denn eine Veränderung des Wahlgesetzes dort für möglich?
Lammert: Ich halte für durchaus denkbar, dass es in dieser Legislaturperiode eine Vereinbarung geben könnte, künftige Legislaturperioden um ein Jahr zu verlängern. Das heißt dann selbstverständlich, dass nicht dieser Bundestag ein Jahr länger im Amt bleibt, sondern dass bei der nächsten Wahl die Wählerinnen und Wähler für fünf Jahre entscheiden.
Jepsen-Föge: Erkennen Sie da eine Mehrheit dafür innerhalb der Fraktion?
Lammert: Nicht im Sinne einer sozusagen längst vorhandenen, aber bislang nicht publizierten Mehrheit. Aber wenn ich die Gespräche, die ich ja auch mit Fraktionsführungen führe, richtig sortiere, dann erkenne ich stärker, als das in der Vergangenheit der Fall war, eine erkennbare Neigung, über dieses Thema nicht nur neu zu reden, sondern möglichst auch eine Vereinbarung herbeizuführen. Und im übrigen werbe ich auch mit Nachdruck dafür, dies wenn, dann auf der Basis einer breiten Vereinbarung zu tun, weil es ganz ungut wäre, wenn so etwas etwa mit einer verfassungsändernden Mehrheit einer großen Koalition gegen den Widerstand der Opposition beschlossen würde. Das würde ich dann ausdrücklich nicht empfehlen.
Jepsen-Föge: Zum anderen Teil der Überlegung, die immer wieder diskutiert wird: eine Zusammenlegung von Landtagswahlen, um weniger Wahltermine zu haben?
Lammert: Davon halte ich nun wiederum überhaupt nichts, weil es im Ergebnis die Bedeutung der Landespolitik atomisieren würde. Wir machen schon jetzt seit Jahren die Erfahrung, dass Landtagswahlen, schon gar in größeren Bundesländern, zu Probeabstimmungen über die Bundespolitik werden. Würde man den Termin der Landtagswahlen bündeln und alle Landtage zu einem Zeitpunkt wählen - idealerweise auf der Hälfte der Legislaturperiode des Bundestages -, würden damit faktisch alle bei Bundestagswahlen Wahlberechtigten eine Entscheidung über ihre politischen Präferenzen treffen, und das hätte massive Konsequenzen für die tatsächliche politische Legitimation eines gewählten Bundestages, wenn bei einer solchen, insgesamt auf Bundesebene stattfindenden Wahl andere Mehrheitsverhältnisse zutage träten, als sie der Zusammensetzung des Bundestages zugrunde liegen.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, der Deutsche Bundestag macht immer dann Schlagzeilen, erweckt immer dann öffentliche Aufmerksamkeit, wenn es um die Diätenerhöhung geht, um Versorgungsansprüche, Übergangsgelder von Abgeordneten. Ist der Eindruck richtig, dass auch Sie als Bundestagspräsident dieses heiße Eisen einmal wieder haben fallen lassen, um vielleicht auf bessere Zeiten, auf ein günstigeres Meinungsklima zu warten?
Lammert: Im Gegenteil, der Eindruck ist nicht richtig. Ich habe meine gesetzliche Verpflichtung, am Beginn einer Legislaturperiode einen Bericht vorzulegen und vor allen Dingen einen Vorschlag zu machen, wie mit diesem Thema denn umgegangen werden soll, erledigt. Ich habe den Fraktionen einen Vorschlag gemacht, die nun allerdings ihrerseits entscheiden müssen, ob sie ihn umsetzen wollen oder gegebenenfalls modifizieren wollen. Aber dass es jedenfalls bei mir persönlich die Neigung gäbe, diesem Thema eher auszuweichen, davon kann keine Rede sein.
Jepsen-Föge: Aber Sie haben nicht den Eindruck, dass die Fraktionen Ihnen lebhaft zustimmen in dieser Frage und auch sagen, wir sollten entscheiden, so oder so, sondern dass es erst mal wie ein heißes Eisen fallen gelassen wird?
Lammert: Ja, das ist leider wahr. Und es ist auch ein strukturelles Problem von Parlamenten, so lange sie in eigener Sache selbst entscheiden müssen. Dies gehört ja zu den zweifelhaftesten scheinbaren Privilegien von Abgeordneten, dass sie über ihre eigenen Bezüge selbst entscheiden müssen. Ich kenne buchstäblich niemanden im Deutschen Bundestag, der das für eine besondere Errungenschaft hält. Die allermeisten würden wahrscheinlich, ähnlich wie ich, die Abtretung dieser Entscheidung an welche Institution auch immer dem gegenwärtigen Zustand vorziehen. Ich habe ja mal in einem Interview auch ein bisschen salopp gesagt, das ist mir fast egal, ob das der ADAC, die Deutsche Bischofskonferenz oder der Deutsche Gewerkschaftsbund ist. Jede dieser Institutionen wäre im Unterschied zum Deutschen Bundestag über den Verdacht erhaben, in eigener Sache zu eigenen Gunsten entscheiden zu wollen oder zu müssen. Leider haben wir hier eine Rechtslage, die durch die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts uns in diese missliche Situation bringt, übrigens mit der regelmäßigen Folge, dass der Deutsche Bundestag nicht häufiger und stärker als anderswo die Einkommen seiner Mitglieder anpasst, sondern seltener und niedriger.
Jepsen-Föge: Aber, das war ja der andere Punkt, viele erkennen ja an und sagen, möglicherweise verdienen Abgeordnete eher zu wenig als zu viel. Aber ein Problem ist immer wieder in der Öffentlichkeit dargestellt die Frage der Altersversorgung, ab wann und in welcher Höhe, und da müssen Sie ja ran. Also, wie geht es weiter in dieser Frage?
Lammert: Auch in dieser Frage ist der Bundestag schon mehrfach initiativ geworden und hat vor allen Dingen in Verbindung etwa mit Änderungen der Pensionsregelungen im Beamtenrecht auch entsprechende Veränderungen in der Versorgung von Abgeordneten durchgeführt. Mit anderen Worten: Heute ist die Mindestzeit zur Erreichung eines Versorgungsanspruchs länger als früher und das Mindestalter höher als früher. Dennoch stehe ich persönlich der Frage überhaupt nicht im Wege, ob wir im Kontext weiterführender Überlegungen über die allgemeine Organisation unserer gesetzlichen Alterssicherungssysteme nicht auch zu neuen Überlegungen für die Organisation der besonderen Altersversorgungssysteme im öffentlichen Dienst im allgemeinen und bei Abgeordneten und Ministern im besonderen kommen müssen.
Jepsen-Föge: Wann wird das entschieden? Jetzt in diesem Herbst?
Lammert: Darüber könnte ich jetzt auch nur Spekulationen vortragen. Aber ich weiß, dass die Fraktionen sich auch durch den von mir ja vorgelegten Bericht veranlasst mit dem Thema beschäftigen. Ob es dazu eine Verständigung unter den Fraktionen gibt, das eine oder das andere Thema oder beide im Zusammenhang, und wenn ja, dann in welcher Weise als dieser berühmten Paketlösungen dann auf den Weg zu bringen, das kann ich nicht anstelle der Fraktionen beantworten.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, in dieser Sommerpause wurde eine Personalie sehr als Personalie, aber auch als Prinzip diskutiert. Norbert Röttgen, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion hatte einen Ruf, als Hauptgeschäftsführer zum Bundesverband der Deutschen Industrie zu wechseln, und er hatte gesagt, er würde für diese Legislaturperiode sein Abgeordnetenmandat, da er direkt gewählt worden ist, beibehalten. Der öffentliche Druck war derart, auch der Druck von einigen Vertretern des BDI, er müsse sich entscheiden. Und es kam zu der prinzipiellen Frage, kann und soll ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages gleichzeitig Interessenvertreter eines Verbandes wie hier des Bundesverbandes der Deutschen Industrie sein? Röttgen, diese Personalie ist damit beendet, hat sich entschieden. Er bleibt Abgeordneter und wird nicht BDI-Hauptgeschäftsführer. Aber zum Prinzip: Kann und soll - und in welcher Weise - ein Abgeordneter ein Interessenvertreter eines Verbandes sein?
Lammert: Zunächst einmal: Die Rechtslage ist dazu völlig eindeutig. Sowohl die Verfassung wie das Abgeordnetengesetz lässt die Wahrnehmung eines Berufes oder einer Tätigkeit neben dem Mandat ausdrücklich zu, und es entspricht auch der bisherigen Parlamentspraxis, dass Abgeordnete Berufe in ein Mandat mitbringen und in einer ganz unterschiedlichen Weise gar nicht mehr oder nur noch zeitweise oder weiter intensiv wahrnehmen. Ich nehme zur Kenntnis, dass sich da die öffentlichen Erwartungen verändert haben und dass manche, die früher in der Verbindung solcher gesellschaftlicher, beruflicher Funktion mit einem Mandat eher einen Vorzug gesehen haben, das heute eher für ein Problem halten. Für eine Errungenschaft halte ich diese Veränderung in den Erwartungen nicht. Denn wir erwarten ja gerade von einem Parlament, dass es nicht in der Fixierung sozusagen auf Parteiprogramme und auf politische Vorgaben der Vorschläge der Regierung gewissermaßen auf Zuruf reagiert, sondern dass hier ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen, die Verankerung in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen seinen Niederschlag in der Wahrnehmung der Aufgabe des Gesetzgebers für diese Gesellschaft findet. Und deswegen kann in dieser Neigung zum Purismus, das eine von dem anderen sorgfältig zu trennen, auch ein Handicap der künftigen Entwicklung liegen, zumal ich die Vorstellung für treuherzig halte, dass Abgeordnete, die keinen Beruf und keine gesellschaftliche Funktion ausübten, deswegen keine Interessen hätten. Es gibt keine interessenfreien Menschen, folglich auch keine Abgeordneten ohne Interessen. Worum es gehen muss, ist, die Verbindung offen zu legen, die zwischen der Wahrnehmung eines Mandats und anderen beruflichen oder sonstigen Interessen besteht. Dabei ist allerdings die Transparenzerwartung der Öffentlichkeit aus meiner Sicht wieder ein bisschen kurz gesprungen. Jeder erwartet, dass Einkommen möglichst offen gelegt werden mit der sich damit ganz offensichtlich verbindenden Erwartung, Einkommen schaffe Interessen.
Jepsen-Föge: Diese Frage wird ja demnächst jetzt beim Bundesverfassungsgericht anstehen, die Frage, ob Gehälter, Einkommen von Nebenbeschäftigungen, in welcher Weise angezeigt werden müssen.
Lammert: So ist es. Ich will nur mal umgekehrt darauf hinweisen, dass auch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder gar zu einer Sekte massive Interessenverflechtungen auch und gerade mit Blick auf bestimmte Gesetzgebungsvorhaben schaffen kann. Die gleiche Gesellschaft, die an der einen Stelle Transparenz für unverzichtbar hält, Einkommen, erklärt an der anderen Stelle die Transparenz für unzumutbar. Also, da ist manches, wie ich glaube, nicht so recht durchdacht. Ich will zum Schluss sagen, dass ich vor der persönlichen Entscheidung von Norbert Röttgen hohen Respekt habe, der vor die Situation gestellt, zwei Aufgaben, die rechtlich miteinander zu vereinbaren wären, aber in der gegebenen Lage faktisch wohl nicht mehr miteinander wahrgenommen werden konnten, sich dann für ein Mandat entschieden hat und das um Längen besser dotierte Amt in der Industrie aufgegeben hat.
Jepsen-Föge: Herr Lammert, wir sprachen schon über auch die erste Große Koalition. Die war dann mit den Wahlen 1969 beendet. Würden Sie sagen, dass auch diese Große Koalition unbedingt mit der nächsten Bundestagswahl beendet sein sollte, dass sozusagen jede andere Konstellation besser wäre als eine Fortsetzung der Großen Koalition? Denn noch mal zur Erinnerung: Die Große Koalition kommt ja nicht deshalb zustande, weil beide großen Parteien es wollten, sondern weil es dann einen Mangel an Alternativen gab. Aber natürlich gibt es immer Alternativen. Deshalb frage ich so, wäre jede andere Konstellation eine bessere?
Lammert: Das kann man abstrakt und ohne Kenntnis von Wahlergebnissen und sich daraus ergebenden konkreten Konstellationen schwerlich sagen. Aber Sie haben völlig recht. Wir haben heute eine Große Koalition, obwohl beide Koalitionspartner erklärtermaßen diese Lösung nicht wollten. Sie war die Folge des Wahlergebnisses. Beide Koalitionspartner erklären jetzt, mal lauter und mal leiser, sie hätten nur eine sehr begrenzte Neigung, diese Konstellation nach den nächsten Wahlen fortzuführen. Das heißt, sie selber orientieren sich tendenziell eher anders als in der Verlängerung der Großen Koalition. Aber ob und welche dieser Varianten dann nach den nächsten Bundestagswahlen wirklich eine praktische Option wird, das entscheiden nicht die Parteien. Das entscheiden die Wähler.
Jepsen-Föge: Vielen Dank, Herr Lammert.