Das Leben kehrt nur langsam zurück nach Maiduguri, die Hauptstadt von Borno State im Nordosten Nigerias. Noch vor wenigen Tagen haben sich hier Militär und Islamisten erbitterte Gefechte geliefert. In den Straßen stapeln sich Hunderte Leichen. Tausende Menschen sind vertrieben, viele Häuser zerstört. Die Behörden in Maiduguri haben Massenbegräbnisse angeordnet, um der Ausbreitung von Seuchen vorzubeugen. Der Staat reklamiert den Sieg über die Aufständischen für sich. Nigerias Präsident Umaru Yar'Adua zeigt Stärke.
"Diese Menschen haben es auf unsere Gesellschaft abgesehen. Sie haben Waffen gesammelt, gelernt, Sprengstoffe und Bomben zu bauen, um den Frieden in Nigeria zu zerstören. Wir setzen unsere Patrouillen im ganzen Norden fort, um diese Leute zu finden und sofort zur Verantwortung zu ziehen."
Zur Verantwortung ziehen – für Nigerias Sicherheitskräfte bedeutet das kurzen Prozess. Außergerichtliche Erschießungen sind an der Tagesordnung. Wie eine Trophäe wird Mohammed Yusuf, der Anführer der radikalen Boko Haram-Sekte, den Medien vorgeführt. Sein Verhör dauert fünf Minuten – dann wird er von Kugeln durchsiebt. Ein Handy-Video kursiert im Internet.
Die Behörden streiten die Tötung ab und behaupten, Yusuf sei auf der Flucht erschossen worden. Abdu Hussaini, Menschenrechtler bei der Organisation Action Aid in Abuja, glaubt daran schon lange nicht mehr.
"Dieses Verhalten ist einfach inakzeptabel – das ist kein Rechtsstaat mehr! Die Regierung hat einen großen Fehler damit gemacht, Mohammed Yusuf ermorden zu lassen. Nicht nur moralisch. Yusuf hätte hilfreich sein können – mit seinen Informationen hätte man die Sekte ausheben und eliminieren können! Aber mit dieser illegalen Erschießung haben sie sich einen Bärendienst erwiesen."
Die Sekte trägt den Namen"Boko Haram". Was auf deutsch soviel heißt wie: "Die Moderne Erziehung ist eine Sünde". Sie orientiert sich an den afghanischen Taliban. Und fordert, dass überall in Nigeria die Scharia gelten soll, das islamische Recht. Bisher ist das in zwölf von insgesamt 36 Bundesstaaten der Fall, allesamt im Norden des Landes. Über Waffenlieferungen aus dem Niger und dem Tschad wird viel spekuliert, auch über eine mögliche Finanzierung der Gruppe durch Al Kaida. Natürlich müsse man die Bedrohung ernst nehmen, finden Experten, doch von echten Taliban könne keine Rede sein. Die Financiers seien vielmehr in Lagos und anderswo zu suchen – bei denen, die die Regierung destabilisieren wollen – indem sie religiöse Konflikte schüren.
Harouna Yerima kennt Maiduguri gut, die Hochburg der Sekte – er hat dort lange an der Universität unterrichtet. Für ihn ist die religiöse Radikalisierung nichts anderes als das Symptom eines kranken Staates.
"Die Armut hat sich tief in die Gesellschaft Nigerias hineingefressen. Viele Menschen haben keine Arbeit, können weder lesen, noch schreiben, und die Korruption ist einfach atemberaubend. Nur fünf Prozent der Studenten machen in den nördlichen Bundesstaaten ihren Abschluss. Stipendien gibt es nicht. Also, insgesamt ist die Lage so schlimm, dass es mich nicht wundert, dass solche Gruppen wie Boko Haram entstehen und Zulauf haben."
Nigeria ist mit 140 Millionen Menschen nicht nur das bevölkerungsreichste Land Afrikas – es präsentiert sich auch gern als eines der wichtigsten. Hinter der Fassade herrscht das Elend – trotz des großen Erdölreichtums. Die Infrastruktur ist vielerorts zusammengebrochen – die Strom- und Wasserversorgung ist nicht stabil, die Schulen sind marode oder geschlossen, Lehrer werden nicht bezahlt, Universitäten und Krankenhäusern fehlt es an allem.
"Alles in allem ist dieses Land ein failed state – ein gescheiterter Staat. Wenn man etwas gnädiger sein will, hat Nigeria auf jeden Fall eine gescheiterte Regierung, aber der Weg zum failed state ist bereitet. Eine handlungsfähige, starke Regierung hat dieses Land jedenfalls nicht."
Nigeria könnte eines der reichsten Länder Afrikas sein. Doch die Elite hat sich nur selbst bedient. Nach einer langen Militärdiktatur war Präsident Obasanjo vor zehn Jahren mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Davon ist heutzutage keine Rede mehr – im Gegenteil: Unter Obasanjos Nachfolger Yar'Adua sind Nigerias politische Funktionäre zu Vagabunden der Macht geworden.
"Und das erklärt eben den Charakter derjenigen, die hier das Sagen haben: Sie haben die Macht an sich gerissen, und das mit den Vorteilen einer westlichen Erziehung, die sie allesamt genossen haben und die sie hier in Nigeria missbrauchen – um ungehemmte politische Macht auszuüben, die Ressourcen auszubeuten, die Massen zu unterdrücken. Der Reflex von irregeleiteten Radikalen wie Boko Haram wird dann völlig klar – die Sekte verurteilt das Westliche, weil sie diese Orientierung mit Korruption gleichsetzt. Darum geht es."
Auch für den Oppositionspolitiker Osita Okechuku ist klar: Nigerias Regierung erntet, was sie sät. Im Kampf gegen die religiösen Extremisten macht sie den gleichen Fehler wie im sogenannten Ölkrieg gegen die Rebellen im Nigerdelta: Sie setzt nicht an den Ursachen an. Für die Arroganz der Macht zahlt sie einen hohen Preis.
"Das Problem ist diese Feuerwehrmentalität der Regierung, die einfach unfähig ist, zu erkennen, wo die Ursachen für die Entstehung einer solchen Anti-Establishment-Rebellion liegen. Kann man solche Gruppen verhindern? Ja selbstverständlich, man kann – aber nur mit einer fähigen, effizienten Regierung, die noch dazu eben nicht korrupt ist!"
"Gott gnade Nigeria" ist in diesen Tagen auf vielen Kleinbussen zu lesen, den wichtigsten Verkehrsmitteln der großen Städte.
Egal, ob dieser Gott Allah heißt, oder ob es der christliche Gott der Dreifaltigkeit ist: Nigeria braucht eine höhere Macht, um aus dieser Krise herauszufinden. Die Politiker scheinen daran jedenfalls kläglich gescheitert zu sein. Boko Haram mag ausgelöscht sein – doch der Hass und die Rachegefühle nicht. Andere Gruppen rücken nach. Das kurzsichtige Krisenmanagement der Regierung ist Wasser auf die Mühlen anderer Fanatiker. Die Hydra hat noch mehr Köpfe.
"Diese Menschen haben es auf unsere Gesellschaft abgesehen. Sie haben Waffen gesammelt, gelernt, Sprengstoffe und Bomben zu bauen, um den Frieden in Nigeria zu zerstören. Wir setzen unsere Patrouillen im ganzen Norden fort, um diese Leute zu finden und sofort zur Verantwortung zu ziehen."
Zur Verantwortung ziehen – für Nigerias Sicherheitskräfte bedeutet das kurzen Prozess. Außergerichtliche Erschießungen sind an der Tagesordnung. Wie eine Trophäe wird Mohammed Yusuf, der Anführer der radikalen Boko Haram-Sekte, den Medien vorgeführt. Sein Verhör dauert fünf Minuten – dann wird er von Kugeln durchsiebt. Ein Handy-Video kursiert im Internet.
Die Behörden streiten die Tötung ab und behaupten, Yusuf sei auf der Flucht erschossen worden. Abdu Hussaini, Menschenrechtler bei der Organisation Action Aid in Abuja, glaubt daran schon lange nicht mehr.
"Dieses Verhalten ist einfach inakzeptabel – das ist kein Rechtsstaat mehr! Die Regierung hat einen großen Fehler damit gemacht, Mohammed Yusuf ermorden zu lassen. Nicht nur moralisch. Yusuf hätte hilfreich sein können – mit seinen Informationen hätte man die Sekte ausheben und eliminieren können! Aber mit dieser illegalen Erschießung haben sie sich einen Bärendienst erwiesen."
Die Sekte trägt den Namen"Boko Haram". Was auf deutsch soviel heißt wie: "Die Moderne Erziehung ist eine Sünde". Sie orientiert sich an den afghanischen Taliban. Und fordert, dass überall in Nigeria die Scharia gelten soll, das islamische Recht. Bisher ist das in zwölf von insgesamt 36 Bundesstaaten der Fall, allesamt im Norden des Landes. Über Waffenlieferungen aus dem Niger und dem Tschad wird viel spekuliert, auch über eine mögliche Finanzierung der Gruppe durch Al Kaida. Natürlich müsse man die Bedrohung ernst nehmen, finden Experten, doch von echten Taliban könne keine Rede sein. Die Financiers seien vielmehr in Lagos und anderswo zu suchen – bei denen, die die Regierung destabilisieren wollen – indem sie religiöse Konflikte schüren.
Harouna Yerima kennt Maiduguri gut, die Hochburg der Sekte – er hat dort lange an der Universität unterrichtet. Für ihn ist die religiöse Radikalisierung nichts anderes als das Symptom eines kranken Staates.
"Die Armut hat sich tief in die Gesellschaft Nigerias hineingefressen. Viele Menschen haben keine Arbeit, können weder lesen, noch schreiben, und die Korruption ist einfach atemberaubend. Nur fünf Prozent der Studenten machen in den nördlichen Bundesstaaten ihren Abschluss. Stipendien gibt es nicht. Also, insgesamt ist die Lage so schlimm, dass es mich nicht wundert, dass solche Gruppen wie Boko Haram entstehen und Zulauf haben."
Nigeria ist mit 140 Millionen Menschen nicht nur das bevölkerungsreichste Land Afrikas – es präsentiert sich auch gern als eines der wichtigsten. Hinter der Fassade herrscht das Elend – trotz des großen Erdölreichtums. Die Infrastruktur ist vielerorts zusammengebrochen – die Strom- und Wasserversorgung ist nicht stabil, die Schulen sind marode oder geschlossen, Lehrer werden nicht bezahlt, Universitäten und Krankenhäusern fehlt es an allem.
"Alles in allem ist dieses Land ein failed state – ein gescheiterter Staat. Wenn man etwas gnädiger sein will, hat Nigeria auf jeden Fall eine gescheiterte Regierung, aber der Weg zum failed state ist bereitet. Eine handlungsfähige, starke Regierung hat dieses Land jedenfalls nicht."
Nigeria könnte eines der reichsten Länder Afrikas sein. Doch die Elite hat sich nur selbst bedient. Nach einer langen Militärdiktatur war Präsident Obasanjo vor zehn Jahren mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Davon ist heutzutage keine Rede mehr – im Gegenteil: Unter Obasanjos Nachfolger Yar'Adua sind Nigerias politische Funktionäre zu Vagabunden der Macht geworden.
"Und das erklärt eben den Charakter derjenigen, die hier das Sagen haben: Sie haben die Macht an sich gerissen, und das mit den Vorteilen einer westlichen Erziehung, die sie allesamt genossen haben und die sie hier in Nigeria missbrauchen – um ungehemmte politische Macht auszuüben, die Ressourcen auszubeuten, die Massen zu unterdrücken. Der Reflex von irregeleiteten Radikalen wie Boko Haram wird dann völlig klar – die Sekte verurteilt das Westliche, weil sie diese Orientierung mit Korruption gleichsetzt. Darum geht es."
Auch für den Oppositionspolitiker Osita Okechuku ist klar: Nigerias Regierung erntet, was sie sät. Im Kampf gegen die religiösen Extremisten macht sie den gleichen Fehler wie im sogenannten Ölkrieg gegen die Rebellen im Nigerdelta: Sie setzt nicht an den Ursachen an. Für die Arroganz der Macht zahlt sie einen hohen Preis.
"Das Problem ist diese Feuerwehrmentalität der Regierung, die einfach unfähig ist, zu erkennen, wo die Ursachen für die Entstehung einer solchen Anti-Establishment-Rebellion liegen. Kann man solche Gruppen verhindern? Ja selbstverständlich, man kann – aber nur mit einer fähigen, effizienten Regierung, die noch dazu eben nicht korrupt ist!"
"Gott gnade Nigeria" ist in diesen Tagen auf vielen Kleinbussen zu lesen, den wichtigsten Verkehrsmitteln der großen Städte.
Egal, ob dieser Gott Allah heißt, oder ob es der christliche Gott der Dreifaltigkeit ist: Nigeria braucht eine höhere Macht, um aus dieser Krise herauszufinden. Die Politiker scheinen daran jedenfalls kläglich gescheitert zu sein. Boko Haram mag ausgelöscht sein – doch der Hass und die Rachegefühle nicht. Andere Gruppen rücken nach. Das kurzsichtige Krisenmanagement der Regierung ist Wasser auf die Mühlen anderer Fanatiker. Die Hydra hat noch mehr Köpfe.