Samstag, 20. April 2024

Archiv


Land unter im Gangesdelta

Im Himalaya schmelzen die Gletscher. Jahr für Jahr steigt der Meeresspiegel im Golf von Bengalen. Indien ist durch die Auswirkungen des Klimawandels bedroht. Fluten, Dürren, Nahrungsknappheit und Migrantenströmen sind die absehbare Folge.

Von Rainer Hörig | 13.11.2010
    Mit gleichmäßigem Tuckern gleitet der kleine Kutter durch den Fluss, vorbei an strohgedeckten Lehmhütten. Am Ufer beobachten wir spielende Kinder, Kuhhirten und Fischer, die ihre Netze flicken. Vor uns kreuzen pechschwarze, hölzerne Fischerboote, in der Ferne zieht ein riesiges Handelsschiff nach Kalkutta.

    "Sunderbans" – schöner Wald nennen die Bengalen die ausgedehnten Sümpfe im Mündungsdelta der Riesenflüsse Ganges, Brahmaputra und Meghna. Niedrig wachsende Mangrovenbäume, Luftwurzeln und Schlingpflanzen bilden ein undurchdringliches Dickicht. Hier sollen noch etwa 250 bengalische Tiger leben.

    Die Sunderbans, einer der größten Gezeitensümpfe der Welt, waren bis vor zweihundert Jahren noch von Menschenhand unberührt. Britische Kolonialoffiziere siedelten hier Landlose aus den Hungergürteln Bengalens an. Heute ist das Flussdelta im Grenzgebiet von Indien und Bangladesh dicht besiedelt. Nichts ist permanent in den Sunderbans, alles ist – sozusagen - im Fluss. Während die Riesenflüsse Ganges und Brahmaputra ihre Sedimente ablagern und neue Inseln bilden, tragen Meeresströmungen und Sturmfluten das lockere Erdreich wieder ab. Das Leben sei ein ständiger Kampf gegen die Naturgewalten, meint der Bauer Manoranjan Mondal, dessen fünfköpfige Familie auf der Insel Manmathanagar lebt:

    "Das Leben ist nicht einfach hier. Während des Monsuns fegen heftige Stürme von der See her, die das Meerwasser landeinwärts drücken. Dann steigt im ganzen Delta das Wasser und viele Deiche brechen. Brackwasser strömt in die Dörfer und auf die Felder und macht sie für Jahre unfruchtbar. Das salzige Wasser greift sogar die Fundamente unserer Häuser an und schädigt die Obstbäume."

    Bauer Mondal besitzt kein Auto und keine Klimaanlage, er hat niemals in einem Flugzeug gesessen oder ein Deospray benutzt. Er hat zum wachsenden CO2-Ausstoss also nicht beigetragen. Doch mit dem weltweiten Klimawandel droht die Existenz seiner Familie buchstäblich ins Wasser zu fallen. Jahr für Jahr steigt der Meeresspiegel im Golf von Bengalen. Immer häufiger toben tropische Wirbelstürme über den Sunderbans. Wie lange werden sandige Erdwälle die Inseln und ihre Bewohner noch schützen können? Mehrere große Inseln sind in den vergangenen Jahrzehnten auf die Hälfte ihrer Fläche geschrumpft, manche sind bereits verschwunden.

    Sturmfluten, Deichbrüche, Küstenerosion – was im Gangesdelta bereits sichtbar ist, wird sich mit wandelndem Klima an vielen Orten entlang der 7000 Kilometer langen indischen Küste fortsetzen. Darüber hinaus lassen sich heute bereits Änderungen im Zyklus der Monsunregen feststellen, ebenso das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya. Der indische Direktor des internationalen Rats der Klimaforscher, Rajendra Pachauri hat Grund, sich Sorgen um sein Land zu machen.
    "Die Gletscher im Himalaya beispielsweise sind auf dem Rückzug. Das heißt, sie schmelzen viel schneller ab als in früheren Jahrhunderten. Wir haben Probleme in der Landwirtschaft, weil sich die Niederschlagsparameter ändern. Bedenken Sie: Eine große Anzahl von Bauern sind nach wie vor auf zuverlässige Regenfälle angewiesen. Und natürlich haben wir eine lange Küste, daher machen wir uns große Sorgen um den Anstieg des Meeresspiegels."

    Steigende Temperaturen beeinflussen auch die Dynamik in der Atmosphäre und damit die Wetterereignisse. Der Direktor des Indischen Instituts für Tropische Meteorologie, Professor Bhupendra Nath Goswami, warnt, die Dynamik des Wettergeschehens könnte aus dem Gleichgewicht geraten:

    "Neuere Forschungsergebnisse bestätigen, dass die Zahl der außergewöhnlichen Wetterereignisse im ganzen Land erheblich gestiegen ist in den vergangenen fünfzig Jahren. Schwere Regenfälle verursachen Katastrophen wie Überschwemmungen und Erdrutsche."

    Deutlich messbar ist der Klimawandel – wie gesagt - auch im höchsten Gebirge der Welt, dem Himalaya, der Indien vom tibetischen Hochland trennt. Besonders in höheren Lagen erwärmt sich die Luft schneller als im globalen Durchschnitt und bringt die Gletscher zum Schmelzen. Der Gangotri-Gletscher etwa, aus dem der heilige Ganges entspringt, zieht sich Jahr für Jahr um 23 Meter in kühlere Regionen zurück. Der Gletscherforscher Prof. Syed Iqbal Hasnain, der am unabhängigen Energie-Forschungs-Institut in New Delhi forscht, bestätigt:

    "Aus dem Studium von Satellitenbildern wissen wir, dass bereits 20 bis 30 Prozent des Eispanzers im Hochhimalaya verloren gegangen sind. Und wir können mit ziemlich großer Sicherheit sagen, dass diese Veränderung menschengemacht ist."

    Falls der Trend sich fortsetze, sei das Eis auf dem Himalaya in 20 bis 30 Jahren abgetaut, schätzt Prof. Syed Iqbal Hasnain. Diese Vorhersage taucht auch im letzten Bericht des internationalen Klimarats der Wissenschaftler auf. Ein britischer Journalist hatte den Professor zitiert und behauptet, das Gletschereis werde bis zum Jahr 2035 verschwunden sein. Nachdem europäische und amerikanische Forscher diese Zahl widerlegten, brach ein internationaler Sturm der Entrüstung los, der die Glaubwürdigkeit des Klimarats in Zweifel zog. Die Jahreszahl 2035 mag übertrieben sein, doch die Gletscherschmelze im Himalaya wird von niemandem bestritten. Was die Wissenschaftler mit nüchternen Worten beschreiben, wird für Millionen Menschen dramatische Folgen haben. Steigende Temperaturen und unregelmäßige Regenfälle werden zu Produktionseinbußen in der Landwirtschaft führen. Die Lebensmittelpreise werden steigen, viele Kleinbauern werden ihr Land aufgeben müssen. Vermehrte Dürren und Fluten könnten einzelne Regionen fast unbewohnbar machen und Millionen von Umweltflüchtlingen in die Städte spülen. Doch drei der größten Metropolen des Landes, die Megastädte Mumbai, Kalkutta und Chennai, früher Madras, liegen am Meer und sind selbst von Überflutung bedroht.

    Der Klimawandel konfrontiert Indien also absehbar mit Fluten und Dürren, mit Nahrungsknappheit und Migrantenströmen. Tragische Ironie: Die Haupt-Leidtragenden, Menschen wie Kamal Patra im Gangesdelta, sind daran am wenigsten schuld. Kamal Patra hat sein Land sein ganzes Leben lang im Einklang mit der Natur und fast klimaneutral bewirtschaftet. Aber er muss schon heute die Zeche bezahlen, die andere, weitaus wohlhabendere Erdbewohner, ihm eingebrockt haben.
    "Für das verlorene Land haben wir keinerlei Entschädigung bekommen. Wir warten und hoffen, dass die Regierung uns neues Land zuweist und uns umsiedelt. Wenn nicht, werden wir weiter Krabben fangen und Saris besticken. Eine andere Perspektive haben wir nicht!"

    Spätestens seit dem Debakel von Kopenhagen im vergangenen Dezember genießt der Klimawandel auch in Indien öffentliche Aufmerksamkeit. Aber die komplizierten Zusammenhänge des Weltklimas erschließen sich nur einer kleinen, gebildeten Oberschicht. Die Mehrheit der Bevölkerung sorgt sich um den Lebensunterhalt für den nächsten Tag, hat keine Zeit für düstere Prognosen. Die meisten verorten das Problem weit in der Zukunft und fühlen sich nicht zuständig, denn aus indischer Sicht tragen die westlichen Industrieländer die Verantwortung für die Verschmutzung der Erdatmosphäre. Mit dieser Haltung sind sich Regierung und Zivilgesellschaft ausnahmsweise einig.
    "Der Klimawandel, den wir heute erleben, wird durch die Emissionen der Vergangenheit verursacht, verantwortlich sind die Emissionen an Treibhausgas in den vergangenen 150 Jahren, und die stammen zum großen Teil aus den Industrieländern","

    konstatiert Chandran Bhushan, stellvertretender Direktor des unabhängigen Zentrums für Wissenschaft und Umwelt in Neu Delhi. Mit Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls hätten die Industrieländer ihre historische Verantwortung für den Klimawandel anerkannt, so Bhushan. Tatsächlich verpflichtet das Klimaabkommen nur die hoch entwickelten Länder zur Reduktion ihrer Emissionen. In einem neuen Klimaabkommen müssten jedoch auch die Großen unter den Südländern in die Pflicht genommen werden, hört man aus Washington und Berlin, denn in der Zukunft würden deren Emissionen rasch ansteigen. Das mag sein, jedoch findet deren Wachstum auf viel niedrigerem Niveau als das der Industrieländer statt. Chandran Bhushan:
    " "Indiens Emissionen machen heute gerade einmal vier Prozent der globalen Emissionen aus. Sie sehen also: Selbst wenn Indien seine Emissionen vollständig stoppen könnte, für das Weltklima würde das kaum einen Unterschied machen. Allein die USA verursachen 26 Prozent aller schädlichen Emissionen. Doch verlieren wir die Proportionen nicht aus den Augen: Mehr als eine Milliarde Inder produzieren vier Prozent, aber nicht einmal 300 Millionen US-Amerikaner sind für 26 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich."
    Indien pocht darauf, dass der Faktor Bevölkerungsentwicklung im internationalen Klimapoker nicht vernachlässigt wird. Schon während der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 forderte Bhushans Öko-Institut, eines der ältesten und einflussreichsten im Lande, dass jedem Erdenbürger, Indern wie Amerikanern, das gleiche Recht auf Verschmutzung der Erdatmosphäre zustehen müsse.
    Chandran Bhushan macht eine simple Rechnung auf:
    "Wenn wir die Absorptionsfähigkeit der Erdatmosphäre in Tonnen Gas beziffern und auf die Zahl der Weltbürger verteilen, so liegt die Grenze der Klimaverträglichkeit bei 2 Tonnen pro Kopf. Indiens Pro-Kopf-Ausstoß klimaschädlicher Gase liegt bei 1,2 Tonnen im Jahr. Ein US-Bürger produziert dagegen 22 Tonnen, ein Deutscher fast 10. Wir in Indien haben also noch 40 Prozent Spielraum, unsere Emissionen zu steigern, während die Deutschen ihr Limit um das fünffache übertreffen, die Amerikaner gar um das zwölffache."

    Gerne versteckte sich das offizielle Indien hinter der starren Position der USA, die sich jahrelang weigerte, Schritte zum Klimaschutz zu unternehmen. Aber inzwischen dämmert auch in Südasien allmählich die Einsicht, dass Klimaschutzmaßnahmen durchaus im eigenen Interesse sind. Aber warum kostspielige, womöglich den Fortschritt lähmende Maßnahmen einleiten, wenn der weitaus wohlhabendere Hauptverschmutzer nichts dagegen unternehme, liest man in politischen Stellungnahmen, hört man auch von Vertretern der Nicht-Regierungsorganisationen. Mit Verweis auf die zum größten Teil hausgemachte Massenarmut reklamiert man das Recht auf wirtschaftliches Wachstum, das ohne klimaschädliche Emissionen nicht erreichbar sei. Auch der Vorsitzende des wissenschaftlichen Welt-Klimarates Rajendra Pachauri, der in New Delhi ein großes Umwelt-Institut betreibt, sieht zuerst die Industriestaaten in der Verantwortung.
    "Ich glaube, die müssen ihre Emissionen senken. Wir dagegen sollten unsere Emissionen steigern können, denn das ist nötig, um die Armut zu vertreiben und Entwicklungschancen zu schaffen. Aber ich glaube nicht, dass wir denselben Entwicklungsweg wie die Industrieländer gehen sollten. Wir können einen Weg wählen, der viel weniger energieintensiv und weniger Kohlenstoff-intensiv ist."

    Der chronische Energiemangel bewog die indische Regierung schon in den siebziger Jahren, ein eigenes Ministerium für erneuerbare Energien einzurichten. Es fördert die Entwicklung und Anpassung neuer Technologien und subventioniert den Bau von Windrädern, Biogas- und Solaranlagen, von kleinen Wasserturbinen. Immerhin decken erneuerbare Quellen heute fast zehn Prozent des indischen Primärenergiebedarfs. Mehr als die Hälfte der Primärenergie wird nach wie vor in klimaschädlichen Kohlekraftwerken gewonnen, rund ein Viertel stammt aus großen Wasserkraftwerken, drei Prozent aus Atomkraftwerken. Die indische Regierung plant, bis zum Jahr 2020 immerhin dreißig Prozent der Primärenergie aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen. Das Potenzial dafür sei durchaus vorhanden, meint der Lobbyist und Energieberater Madhusoodan Pillai, der in Pune das "Welt-Institut für nachhaltige Energien" gründete.
    "Alle erneuerbaren Energietechnologien zusammen, einschließlich der thermischen Solartechnik könnten in Indien viele hunderttausend Megawatt Strom produzieren. Erneuerbare Energien fristen kein Nischendasein mehr, sie sind überall präsent!"

    Die Gesetze des Marktes diktieren, dass Indien die für die Wirtschaftsentwicklung nötige Energie möglichst kostengünstig herstellt, vorerst also mit fossilen Brennstoffen. Einzig die Windkraft kann hier heute preislich mit Kohle und Erdöl konkurrieren. Das größte Potenzial liegt jedoch in der Solarenergie, denn außerhalb der dreimonatigen Regenzeit scheint in Indien fast immer die Sonne. Doch die Energie vom Himmel ist noch viel zu teuer, um sich am Markt durchzusetzen. Im November vergangenen Jahres verabschiedete das indische Kabinett ein breit angelegtes Projekt zur Förderung der Sonnenenergie. In den kommenden zehn Jahren will die Regierung 19 Milliarden US-Dollar in Entwicklung, Herstellung und Installation von Solarenergieanlagen investieren. Im Jahr 2020 sollen sie 20.000 Megawatt Strom liefern und dann zehn Prozent des indischen Bedarfs decken.
    Hitzewelle in Indien: Das Termometer erreicht in Nord- und Zentralindien 47 Grad Celsius.
    Hitzewellen in Indien: Als Folge extremer werdender Klimabedingungen prognostizieren Wissenschaftler Nahrungsknappheit und Migrantenströme (AP)