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Holland wurde über Jahrhunderte immer wieder von dramatischen Sturmfluten getroffen. Ein nationales Trauma ist bis heute die Flut vom 1. Februar 1953. Landschaften wurden zerstört, Inseln gingen unter, 1835 Menschen kamen zu Tode, 70.000 verloren ihre Häuser. Die holländische Schriftstellerin Margriet de Moor hat die Katastrophe als Hintergrund ihres neuen Romans gewählt. In "Sturmflut" verbindet sie einen historischen Stoff mit einer Familiengeschichte.

Von Maike Albath | 05.02.2006
    Zwei Schwestern, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, tauschen die Rollen: Armanda, neunzehnjährig, übernimmt für zwei Tage Lidys Stelle als Hausfrau, Mutter und Begleiterin des Ehemannes Sjoern. Die ältere Lidy steigt ins Auto und fährt, bestens gelaunt wegen der unvermuteten Freiheit, von Amsterdam Richtung Küste, wo sie auf der Insel Schouwen-Duiveland in Vertretung von Armanda am Abend des 31. Januars 1953 an der Geburtstagsfeier ihres Patenkindes teilnehmen soll. Das Wetter ist stürmisch. Armanda hatte das Ganze eingefädelt, vielleicht auch, weil sie die Schwester um ihr erwachsen wirkendes Leben beneidet und endlich einmal ein bisschen daran teilhaben will. Schließlich hatte Lidy sie zuerst im Stich gelassen und kurzerhand einen Mann geheiratet, der eigentlich Armandas Freund gewesen war. Nun ist die Gelegenheit für eine kleine Revanche gekommen.

    Sie machte eine unkontrollierte Bewegung. Ihr Stift rollte auf den Fußboden. Er bückte sich schneller als sie. "Danke dir." Sie sah etwas in seinen Augen zu ihr hinblitzen. Was für eine Ehe führten die beiden? Dachte sie, und in diesem Moment zog sich etwas so Böses um ihr Herz, dass sie gar nicht erst versuchte, es mit dem Verstand zu erfassen. Sie stand auf und begann ihre Sachen in eine Tasche zu schieben. "Okay", sagte Sjoern und erhob sich ebenfalls. Armanda bückte sich, um ihre Schuhe unter dem Tisch hervorzuangeln. Sie hörte, wie das Haus unter einer Sturmbö knarrte. Mein Gott, dachte sie, abgeklärt wie jemand, der gerade in gar nichts lügt, was für ein spannendes, behagliches Geräusch! Stell dir vor, das Wetter verschlechtert sich im Laufe der Nacht so sehr, dass bestimmte Fährverbindungen ausfallen und die Kapitäne morgen, vielleicht auch übermorgen und meinetwegen bis zum Sankt Nimmerleinstag auf den Dienst pfeifen! Stell dir vor! Mit zerstreuter Miene verabschiedete sie sich. Als sie und Sjoern abends am Nieuwezijds Voorburgwal aus dem Taxi stiegen, stand die Eingangstür von Betsys Haus offen. Betsy entdeckte sie, rief etwas Gastfreundliches und führte sie in den einst als heimliche Kirche benutzten Bodenraum, der sehr hoch war und bereits von Stimmengewirr erfüllt. Armanda fühlte sich äußerst wohl. Es war so angenehm, in Begleitung des unbekümmerten Sjoern in seiner alten Tweedjacke einzutreten. Und natürlich gab es etliche entferntere Bekannte, die sich auf den ersten Blick vertaten. "Armanda", musste sie ein paar Mal sagen. "Ich bin Armanda".

    Innere Monologe der beiden Schwestern, Rückblenden in die Kindheit und Schilderungen der sich durch das Unwetter stündlich verändernden Küste bestimmen den ersten Teil von Margriet de Moors neuem Roman Sturmflut. Geschickt leuchtet sie die vertrackte Bindung von Armanda und Lidy aus: die jeweils andere ist geliebte Gefährtin, Konkurrentin und Spiegelbild zugleich. Es herrscht eine bedingungslose Solidarität, doch das verwechselbare Äußere und ähnliche Neigungen - beide studieren Philologie - haben eine unabhängige Entwicklung offenkundig behindert. Irritiert von Lidys abruptem Abschied vom Elternhaus und ihrem autonomem Lebensentwurf mit Mann und Kind, genießt Armanda die Abwesenheit der Älteren, spielt mit ihrer zweijährigen Nichte Nadja und ist während der gemeinsam besuchten Party kurz davor, den bewunderten Schwager zu verführen. Die holländische Schriftstellerin Margriet de Moor findet seit jeher Gefallen an verzwickten Familienkonstellationen und untergründig festgeschriebenen Rollen und Aufgaben, vor allem die Ambivalenz geschwisterlicher Beziehungen ist seit ihrer Novelle Doppelporträt von 1989 immer wieder Gegenstand ihrer Werke. Bei ihrem neuen Roman Sturmflut handelt es sich um eine Versuchsanordnung der besonderen Art, denn die Autorin setzt die Schwesternbindung einer extremen Belastungsprobe aus: Lidy gerät auf ihrer von Armanda ausgetüftelten Reise mitten in eine meteorologische Katastrophe hinein. Der Wasserstand steigt, und die Windstärke nimmt zu. Aber der Stadtbewohnerin ist die See vollkommen fremd - ahnungslos setzt sie ihre Reise fort. Als Lidy zum zweiten Mal einen Meeresarm per Fähre überqueren muss, bewundert sie das aufgewühlte Meer. Angst hat sie keine.

    Es flogen noch Vögel. Sie sah die grauschwarzen Klumpen unter der Wolkenschicht hervorsegeln. Die mussten einen triftigen Grund haben, auch nur irgendeine Strecke in diesem Hexenkessel zurückzulegen. Während sie von den Vögeln zu den Wogen blickte, die, obwohl sich meterhoch auftürmend, doch unterhalb ihrer Füßen blieben, machte sie die Entdeckung, dass "unten" und "oben" nicht mehr existierten. Und weil es nun rasch dunkler wurde, erkannte sie bald keinen Raum mehr, auch keine Fläche, sondern nur noch Schaumfetzen. Weißlich, azurgrün. In die die Fähre im zirkuszeltartigen Licht ihrer Scheinwerfer eintauchte, in ihnen verschwand und wieder emporstieg, um eine Fahrt fortzusetzen, die keinerlei Zeitdauer mehr hatte. Nur Umstände.

    Lidy trifft wohlbehalten auf Schouwen-Duiveland ein. Auf der Insel herrscht Feierabendstimmung, die Kneipen sind gut besucht, ein paar Arbeiter sichern das Hafenbecken mit den altbewährten Holzplatten: noch sind die Bewohner nicht alarmiert, denn Sturm und Wasserhochstand gehören auf den alten Poldern schließlich zum Alltag. Lidy sucht eine Weile nach dem Hotel, in dem die Freunde ihrer Schwester das Geburtstagsfest des Patenkindes begehen. Erleichtert betritt sie das stattliche Haus, wo sie herzlich begrüßt wird. Der gediegene Gastraum, die Festtafel und die Zimmer mit den dicken Federbetten - alles strahlt Behaglichkeit und Geborgenheit aus. Mit den ausführlichen Beschreibungen der Interieurs und den kleinen Charakterstudien der Gastgeber schürt Margriet de Moor die Spannung: man ahnt, dass dieses Idyll bedroht ist. Die holländische Schriftstellerin ist einem eher konventionellen Realismus verpflichtet, den sie durch einen komplexen Aufbau, motivische Verknüpfungen und eine mehrschichtige Figurenkonstellation anzureichern versucht. Formal spiegelt sich die zerbrechende Schwesternbeziehung in den sich allmählich spaltenden Handlungsebenen und der doppelten Zeitstruktur des Romans: was zu Beginn parallel verlief, nämlich Lidys Aufbruch von Zuhause und Armandas Empfangnahme der kleinen Nichte, driftet auseinander und entfernt sich immer stärker. Zwar behält Margriet de Moor einen fortwährenden Perspektivenwechsel bei und nimmt mal Lidys, mal Armandas Geschick in den Blick, dann und wann unterbrochen von Betrachtungen eines Meteorologen oder eines Gutsbesitzers, aber im Tempo sind die beiden Schwesternschicksale stark gegenläufig, was den formalen Reiz des Buches ausmacht. Der erste Strang gehört Lidy: es geht um die lange Reise, das vergnügte Geburtstagsfest als Ersatzpatentante, das allmählich stärker tobenden Unwetter, eine Autofahrt zu den Deichen und den verzweifelten Versuch, der Jahrhundertflut zu entkommen. Der zweite Handlungsstrang hat Armandas Leben zum Gegenstand: wie sie mit ihrer Familie auf die Rückkehr Lidys wartet, kaum Angst oder Trauer verspürt und statt dessen begeistert an einer Semesterarbeit schreibt, während ihre Eltern und ihr Schwager ruhelos in Richtung Katastrophengebiet aufbrechen. Wie Lidys Leiche nie gefunden wird, die Familie sich irgendwann damit abfindet. Und wie Armanda von ihrer Nichte "Mama" genannt wird, mit großer Selbstverständlichkeit Lidys Platz übernimmt, nach zwei Jahren ihren Schwager heiratet und noch zwei Kinder bekommt. Durch die fortwährende Entschleunigung des Erzählrhythmus’ auf der ersten Ebene, die von Lidy handelt, bildet Margriet de Moor den furchtbaren Kampf gegen die Naturgewalten in seiner quälenden Ausdehnung nach. Plötzlich verläuft die Zeit nicht linear, sondern konzentrisch, in sich unendlich ausdehnenden Kreisen umschließt sie wie der Strom der Gezeiten die Inselbewohner. Die Telefonverbindungen sind wegen der umfallenden Masten längst gekappt, und als ein Meteorologe kurz vor Mitternacht beim niederländischen Rundfunk darum bittet, trotz des Sendeschlusses um Null Uhr noch eine Katastrophenmeldung über den Äther zu schicken, wird er zurück gewiesen. Der zuständige Redakteur behauptet, keine Befugnisse zu haben, außerdem sei er krank, auch ein später erreichter Wasserschutzdirektor schlägt erst viele Stunden nach dem Anruf Alarm. Abgeschnitten von der Welt, versucht der Deichwart Simon Cau noch zu tun, was zu tun ist. Abenteuerlust hatte Lidy bewogen, mitten in der Nacht aufzustehen und den Mann zu begleiten.

    Die Kälte ist noch eisiger geworden. Lidy blickt kurz auf den ziemlich hohen Treppengiebel mit der angebauten Scheune daneben, deren Fensterläden mit Querlatten geschlossen sind. Links und rechts weiß sie endloses flaches Land. Es gibt etwas Mondlicht, aber am Horizont, im Süden, ist es, als würden die nächtlichen Äcker ein wenig von einem Schein erhellt, der aus der Erde selbst kommt. Okay, die Haustür ist offen. Gerade im Begriff, Cau gute Nacht zu sagen, bevor dieser zu seinem eigenen Haus hinübergeht, merkt Lidy, dass er wie erstarrt nach etwas lauscht. Sie fängt seinen Blick auf, erkennt, dass er Angst hat, und hört es dann auch. Das Geräusch ist anfangs abstrakt. Eine Art Rauschen, anschwellend. Einen Moment muss sie an eine Heuschreckenplage denken, dann an eine tausendköpfige Armee, die von der anderen Seite der Insel sehr schnell angestampft kommt. Zeit, zu erschrecken, bekommt sie nicht. Die gesamte Aussicht verschwindet. Eine grauenhaft hohe Walze pechschwarzen Wassers steigt aus dem Nichts auf und rollt heran.

    Mit sachlicher Genauigkeit fängt Margriet de Moor die sich plötzlich umstülpende Landschaft ein. Sie entwirft großflächige Naturporträts von dem entfesselten Meer, das unter einem nachtschwarzen Himmel die Deiche wegreißt, Wiesen verschluckt, Kühe fortspült, sie schildert den tosenden Lärm der Wogen, das Gebrüll der Tiere und das plötzliche Hervorbrechen eines archaischen Überlebensinstinkts, von dem jeder auf der Insel ergriffen wird. Da ist die Rede von versprengten Menschengruppen auf behelfsmäßigen Floßteilen, die durch die Fluten treiben, von panischem Vieh und wegsackenden Häuserwänden. Es sind zugleich die beeindruckendsten Passagen des Romans. Das sorgfältig recherchierte Katastrophenpanorama, mit dem de Moor ein nationales Trauma ihres Landes aufarbeitet, hat nichts Effektheischendes, sondern wird aus einer gespannten Aufmerksamkeit heraus entfaltet. Trotz aller Präzision verzichtet die Autorin auf billigen Voyeurismus und weidet sich nicht am Unglück ihrer Figuren, statt dessen lässt sie den Leser Teil der kleinen Schicksalsgemeinschaft werden, deren letzte Stunden sich durch den gesamten Roman ziehen. Ihre Heldin Lidy kann sich auf den Dachboden einer alten Bäuerin retten, wo sich eine Handvoll Dorfbewohner einfindet und gemeinsam die Nacht zum 1. Februar übersteht. In einer abenteuerlichen Aktion wird eine weitere Gruppe aus einem Auto mithilfe eines Seils hoch gezogen. Eine der Frauen ist hochschwanger und bekommt inmitten des tosenden Sturms ihr drittes Kind: die ältere Tochter und ihren Mann hatte sie kurz zuvor ertrinken sehen. Lidy steht der Gebärenden zur Seite und befreit das Kind von der Nabelschnur. Nur wenig später gibt das Fundament des kleinen Hauses nach, Möbel schießen nach oben, Lidy klammert sich an einer Haustür fest und wird fortgewirbelt, der Orkan drückt die Nordsee mit 150 Stundenkilometern in die Flussmündungen.

    Lidy lag auf der linken Seite, das Gesicht auf dem einen Arm, die Beine gespreizt, Füße seitlich abgewinkelt. Ihr kleines Boot, das weder Motor noch Ruder besaß, hatte, der Strömung und dem Wind gehorchend, ohne zu zögern Kurs auf die Oosterschelde genommen, die direkt in die Nordsee führt. Sie zitterte unaufhörlich, hatte schon längst keine Bewusstheit mehr, sich zu fragen, wer sie war, sagte in ihrem Herzen aber noch leise: "Hier. Ich bin hier!"

    Obwohl wir durch die zweite Erzählebene Zeugen des Lebens der Zurückgebliebenen werden, hält man genau wie Lidys Familie noch lange an der irrationalen Hoffnung fest, sie möge doch überlebt haben - könnte es nicht sein, dass sie irgendwo angespült wurde, durch den Schock ihr Gedächtnis verlor und möglicherweise erst nach Jahren zurückkehrt? Wie schwierig es ist, mit dem Verlust einer Person fertig zu werden, ohne deren Leichnam beerdigen zu können, zeigt Margriet de Moor immer wieder auf. Die holländische Schriftstellerin interessiert sich für die Vernarbung der Wunden und dafür, wie eine Familie Trauer und Schmerz integriert. Aber so eindringlich de Moor die Flutkatastrophe vermittelt, so harmlos kommt der zweite Erzählstrang daher. Hier hat sie den Ehrgeiz, in einem Rundumschlag Armandas gesamte Existenz darzustellen und durchmisst in Riesenschritten Jahrzehnt um Jahrzehnt, hechelt von Ereignis zu Ereignis, schraffiert die Grundstimmung und deutet viele Geschehnisse nur an, statt sie narrativ zu entwickeln. Obwohl Armanda sich durch Lidys Verschwinden befreit fühlt, steht sie doch unter dem Bann der älteren Schwester, fügt sich nahtlos in deren zurückgelassenes Leben ein und verzichtet auf den Versuch, etwas Eigenes aufzubauen. Sie ist sich ihrer Abhängigkeit durchaus bewusst, setzt sie sogar als Erpressungsmittel Sjoern gegenüber ein, so als sei der Witwer und Ehemann beider Schwestern schuld an Armandas Stellvertreterdasein. Das Dilemma der Geschwisterrivalität entpuppt sich also als unlösbar, es beherrscht Armanda bis zu ihrem Tode. Doch Margriet de Moor tastet ihre Heldin eher von außen ab, ihre Gefühlslagen von Eifersucht über Wut, Hass, Trauer bis zu einem tiefen Identifikationswunsch, der sich in der Wahl des von Lidy zurück gelassenen Gatten ausdrückt, werden nur beschworen, tatsächlich zu spüren ist kaum etwas. Als Armandas Nichte Nadja mit elf Jahren inmitten von Umzugskisten eines Tages auf ein Foto stößt, das auf der Geburtstagsfeier des Patenkindes aufgenommen wurde und Lidy inmitten der Festgesellschaft zeigt, stellt sie eine entscheidende Frage.

    "Mit was für einem Kind sitzt du denn da?" Armanda, leise, ohne zu zögern, in spontan entrüstetem Ton: "Das bin ich nicht!" "Bist du das nicht?" Erstaunter Zeigefinger eines Mädchens, dem bis dahin nichts von einer umgetauschten Mutter gesagt worden ist. Anfangs waren ihr Vater und die ganze Familie zu durcheinander, später kamen sie, mittlerweile an die leicht korrigierte Familiengeschichte, die neue Version mit all den exakt zusammenpassenden Details gewöhnt, ihr vielleicht sogar zugetan, nicht mehr dazu. In ihrem Herzen wussten sie doch, dass sie Nadja schon irgendwann alles erzählen wollten, oder nicht? "Moment mal", hatte Armanda gesagt. Sie griff nach einer Kiste, weil sie sich setzen musste. Vorgebeugt neben Nadja, konnte sie das Foto jetzt besser betrachten, und das tat sie auch, wobei sie in den ersten Sekunden einen ziemlich starken Impuls unterdrückte, dem angenommenen Kind rundheraus, ohne das geringste psychologische Feingefühl, zu erklären: Das ist deine richtige Mutter. Sie kannte die Ecke, aus der das Foto gemacht worden war, ein Jahr vor dieser Aufnahme war sie schließlich selbst dort gewesen. Man blickt aus dem Wintergarten in den Festsaal mit den gedeckten Tischen des Hotel Kirke. Wegen dieser Kulisse fragt man sich, was die beiden im Vordergrund, in Korbsesseln nebeneinander, wohl Großartiges zu feiern haben: das zahnlückige, schüchtern lachende Mädchen und die Frau, Lidy, mit wegen der Unterbelichtung etwas tragischen Augen und einem Lächeln um den Mund, das man kennen muss, um zu wissen, dass es "Alles sehr nett, aber morgen bin ich wieder zu Hause" bedeutet. "Das ist deine richtige Mutter", sagte Armanda. "Ach herrje!" machte Nadja. So war das gewesen.

    Eigentlich handelt es sich um eine dramatische Situation: Nadja entdeckt, dass sie mit einem Trugbild groß geworden war, denn die Frau, die sie Mutter nannte, war in Wirklichkeit die Schwester ihrer Mutter. Aber die seelischen Konsequenzen, die diese Enthüllung gehabt haben muss, kommen in dem Roman nicht vor - nach psychologischer Tiefenschärfe oder einer literarischen Ausgestaltung von aufgeladenen Stimmungen sucht man vergeblich. Auch die Trennung Armandas von ihrem Ehemann und der Tod Nadjas werden nebenbei abgehandelt, so dass die Wechselfälle des Lebens etwas Serielles bekommen. Dahinter steckt freilich ein Prinzip: Margriet de Moor wollte von beiden Schwestern das gesamte Leben darstellen, und sie lässt ihren Roman mit einem Zwiegespräch zwischen der hochbetagten Armanda, die im Sterben liegt, und der bereits toten Lidy enden. Ganz geht die Rechnung nicht auf. Während Lidys Schicksal durchaus fesselnd ist, fällt Armandas Geschichte davon deutlich ab - beim Leser stellt sich so etwas wie Gleichmut ein. Als ausgebildete Sängerin hat Margriet de Moor eine Vorliebe für musikalische Strukturen und arbeitet häufig mit sonatenähnlichen Formen oder kunstvollem Tempowechsel und Variationen mit Thema. Das tut sie auch dieses Mal, und in der gegenläufigen Zeitgestaltung und der Vermittlung des historischen Stoffes liegen die Stärken von Sturmflut. Margriet de Moor reiht sich ein in eine niederländische Spielart des realistischen Erzählens, wie sie Maarten’t Hart, Anna Enquist oder Marcel Möring vertreten, und sie steht für eine sehr zugängliche Literatur. Kritischer ausgedrückt, könnte man bei diesem Buch von einem literarisch eher unambitionierten, allzu biederen Realismus sprechen, der Gefahr läuft, sich abzunutzen. Wer allerdings wissen will, was bei Windstärke zwölf am Meer passiert, ist mit Margriet de Moors Roman Sturmflut gut bedient.

    Margriet de Moor, Sturmflut
    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag München 2006. 143 Seiten, 15,90 Euro