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Landkarte fürs Überall

Ein fiktiver Erzähler namens Vladimir Brik, ursprünglich aus Sarajevo, folgt den Spuren eines realen, gescheiterten Attentäters: Lazarus Averbuch hatte 1908 versucht, den Chicagoer Polizeipräsidenten zu töten, so glaubte man. Der tötete stattdessen Averbuch. Erzähler Brik folgt den Spuren des Attentäters bis nach Sarajevo - nur um festzustellen, dass er auf der Reise zu sich selbst ist.

Vorgestellt von Sacha Verna | 17.05.2009
    Erstens: niedrige Stirn
    Zweitens: großer Mund
    Drittens: fliehendes Kinn
    Viertens: hervortretende Wangenknochen
    Fünftens: große, affenartige Ohren

    So lautete im März 1908 die Legende zu einem Bild auf der Titelseite der Chicago Tribune, das das Gesicht eines Mannes im Profil mit geschlossenen Augen zeigte und die Überschrift trug:

    Der typische Anarchist

    Der Mann auf dem Foto war tot. Lazarus Averbuch, so sein Name, war am frühen Morgen des 2. März 1908 vom Polizeipräsidenten Chicagos erschossen worden, kurz nachdem er in dessen Haus vorstellig geworden war - scheinbar, um einen Brief abzuliefern, tatsächlich aber, so vermuteten die Behörden, um einen sorgfältig geplanten Mordanschlag auf den Polizeipräsidenten auszuführen.
    Im inneren Hutband des "typischen Anarchisten” fand man einen zusammengefalteten Zettel, auf dem stand:

    Erstens: Meine Schuhe sind groß.
    Zweitens: Mein Zimmer ist klein.
    Drittens: Mein Buch ist dick.
    Viertens: Meine Suppe ist warm.
    Fünftens: Mein Körper ist sehr stark.

    Lazarus Averbuchs Körper war nicht stark. Er war ausgezehrt. Averbuch musste froh sein, wenn er einmal täglich überhaupt eine warme Suppe bekam. Bücher konnte er sich nicht leisten. Sein Zimmer teilte er sich mit seiner älteren Schwester Olga. Seine Schuhe waren abgelaufen.
    Lazarus Averbuch hat es wirklich gegeben. Was genau der 19-jährige osteuropäische Immigrant an jenem Märzmorgen 1908 im Haus des Chicagoer Polizeipräsidenten wollte, weiß man bis heute nicht. Er kam ja nicht dazu, es zu sagen. Doch bildet der Vorfall den Ausgangspunkt von Aleksandar Hemons neuem Roman.

    Zeit und Ort sind die einzigen Dinge, deren ich mir sicher bin ( ... ). Alles andere liegt im Dunst der Geschichte und des Schmerzes, und jetzt stürze ich mich kopfüber hinein.

    Mit diesen Worten beginnt Hemon seinen Roman. Beim "Dunst der Geschichte und des Schmerzes”, in den sich Hemons Erzähler kopfüber stürzt, handelt es sich um die Nebelschwaden, die sowohl dessen eigene Geschichte und dessen eigener Schmerz verursachen, als auch jene von Lazarus Averbuch.
    Hemons Erzähler Vladimir Brik ist ein bosnisch-amerikanischer Schriftsteller, der kurz vor Ausbruch des Balkankrieges 1992 in die Vereinigten Staaten kam und dessen zunächst unfreiwilliges Exil da bald zu einem mehr oder weniger freiwilligen geworden ist. Er hat Mary, eine Neurochirurgin, geheiratet, schreibt eine Zeitungskolumne, unterrichtet Englisch als Fremdsprache und lebt in Chicago. Soviel zu seiner jüngeren Geschichte. Seine Schmerzen schildert Brik wie folgt:

    Eines Morgens in Chicago war ich auf Zehenspitzen in die Küche gegangen um Kaffee zu kochen. Während ich wie üblich Kaffeepulver über die ganze Arbeitsplatte verstreute, fiel mir eine Dose ins Auge, auf deren rotem Etikett SADNESS stand. Gab es so viel Traurigkeit, dass man sie schon in Dosen packen und verkaufen konnte? Ein Schmerz fuhr mir durch die Eingeweide, bevor ich merkte, dass da nicht SADNESS stand, sondern SARDINES. Aber von diesem Schlag erholte ich mich nicht mehr. Von jetzt an war Traurigkeit die dunkle Materie im Universum der stillen Objekte, die mich umgaben: die Salz- und Pfefferstreuer, das Honigglas, die Tüte sonnengereifter Tomaten, das stumpfe Messer, ein vertrockneter Laib Brot, die beiden wartenden Kaffeetassen. Die Exportschlager meines Landes sind geklaute Autos und Traurigkeit.

    Brik ist ein Prozac-Kandidat, dem man die Happy-Pillen dann doch lieber vorenthält, weil die Welt ohne den zynischen Witz, mit dem sie ihre Umgebung aufgrund ihrer Gemütslage bereichern, eine ärmere wäre.
    Lazarus Averbuch hingegen wäre auch mit den Mitteln der modernen Pharmazeutik nicht zu helfen gewesen. Dieser Mensch hat einmal Glück im Unglück gehabt - nämlich als er 1903 ein Pogrom in Kischinjow im heutigen Moldawien überlebte - und seither nie wieder. In Chicago, wohin er seiner Schwester Olga nach dem Massaker folgte, findet er eine Stelle als Eierverpacker. Mit dem Anarchismus und Anarchisten hat er wenig bis gar nichts am Hut. Auch nicht im Hut: Die mysteriösen Sätze über Schuhe und Suppen, die die Polizei nach seinem Tod auf dem Stück Papier in seinem Hut-Innern entdeckt, sind nicht etwa verschlüsselte Anweisungen anarchistisch-kriminellen Inhalts, sondern Übungen aus einem Englischkurs.
    Was Brik und Lazarus verbindet, ist, natürlich, das Fremdsein.

    Ich bin ein halbwegs loyaler Bürger zweier Länder.

    So formuliert es Brik einmal. Wobei schnell klar wird, dass er sich genauso unbehaust fühlt wie Lazarus hundert Jahre vor ihm, und genauso enttäuscht ist von einem Land, das ihn seinen Traum vielleicht träumen, aber nicht leben lässt, und von jenem anderen Land, das einst seine Heimat war, aber dies längst nicht mehr ist.
    Freilich ist Briks Unzufriedenheit zumindest auf den ersten Blick nicht mehr als die Verbitterung eines privilegierten Sauertopfs:

    In Amerika – diesem düsteren Land – verschwende ich meine Wählerstimme, zahle widerwillig Steuern, teile mein Leben mit einer einheimischen Frau und muss an mich halten, um dem idiotischen Präsidenten nicht einen qualvollen Tod zu wünschen. Aber ich habe auch einen bosnischen Reisepass, den ich nur selten benutze; ich fahre zu herzzerreißenden Urlaubsaufenthalten und Beerdigungen nach Bosnien, und am oder um den 1. März feiere ich zusammen mit anderen Chicagoer Bosniern stolz und pflichtschuldig unseren Unabhängigkeitstag mit einem angemessen feierlichen Dinner.

    Solange sich die patriotischen Pflichten auf die Teilnahme an einem feucht-fröhlichen Gelage einmal in Jahr beschränken und man einem Präsidenten einen qualvollen Tod wünschen darf, aber niemand einem selbst einen qualvollen Tod wünscht, hat man doch eigentlich keinen Grund sich zu beklagen. Außerdem bringt die einheimische Frau einmal im Monat immerhin so viel Geld mit nach Hause, dass Brik selber keins verdienen müsste, würde sein männlicher Stolz ihn nicht dazu drängen. Und würde sein kreatives Ego nicht von ihm verlangen, dass er dies möglichst und ausschließlich mit dem Verfassen von Büchern zu tun hat.
    Das erste dieser Bücher soll jenes über Lazarus Averbuch werden:

    Das Buch würde einen anderen Menschen aus mir machen, in der einen oder der anderen Richtung: Ich konnte mir entweder das Recht auf orgasmische Selbstsucht (und das dafür nötige Geld) verdienen oder mir durch den selbstgerechten Prozess des Selbstzweifels und der Selbstverwirklichung eine moralische Rückversicherung verschaffen, mich als Autor heilig sprechen lassen und zu dem Einen werden, der Bescheid weiß.

    Ein Stipendium erlaubt es Brik, eine Reise nach Osteuropa zu unternehmen, um dort den Spuren Averbuchs nachzugehen. Von Kischinjow bis nach Czernowitz, von Lemberg bis nach Sarajewo. Nur dass Lemberg, Sarajevo und manch andere Station auf der Reise nicht mit Lazarus' Biografie zusammenhängen, sondern allein mit Briks eigener. Denn wie dies Reisen, die als Bücher enden, so an sich haben, dienen sie hauptsächlich dem Autor dazu, sich selber zu finden.
    Brik sucht seine Vergangenheit. Er sucht nach seinem Leben in Sarajevo vor dem Krieg, nach seinem Großvater in der Ukraine, und überhaupt will er herausfinden, wohin er gehört. An die Seite seiner gnadenlos optimistischen Gattin Mary oder zu den traurigen Exporteuren geklauter Autos, als die er seine ehemaligen Landsleute identifiziert hat? Brik erzählt:

    Als ich vor zwei Jahren in Sarajevo war,( ... ), hab ich festgestellt, dass ich bei allen Leuten, denen ich ins Gesicht schaute, nicht sah, wie sie jetzt aussahen, sondern wie sie früher ausgesehen hatten. Und als ich zwischen den notdürftig renovierten Ruinen und von Kugeln durchlöcherten Fassaden durchging, habe ich ebenfalls gesehen, wie sie früher waren und nicht, wie sie jetzt waren. Ich blickte mit Röntgenaugen durch das Sichtbare und sah die frühere Originalversion. Ich konnte nicht mehr das Jetzt sehen, nur noch das Früher. Und ich hatte das Gefühl, wenn ich sähe, wie sie tatsächlich heute aussahen, würde ich vergessen, wie sie früher waren.

    Früher und heute. Erinnerung und Wirklichkeit. Geschichten und Geschichte. Das Private und das Kollektive. Darum geht es in Aleksandar Hemons Roman. Dem füge man einige jüdische Schicksale hinzu, viele Fotos und Ausschnitte aus authentischen Zeitungs- und Polizeiberichten zum Fall Averbuch. Spätestens dann drängt sich die Frage auf: Handelt es sich bei Aleksandar Hemon um einen Wiedergänger des großen Vergangenheitsepikers und Spurenmagiers W.G. Sebald? Die Antwort darauf lautet: Nein. Zum Glück.
    Wiedergänger spielen bei Hemon allerdings durchaus eine Rolle, und zwar eine tragende. Da ist zunächst der auffälligste Wiedergänger von allen: Der biblische Lazarus, den Jesus von den Toten auferweckte mit den Worten:

    Lazarus, komm heraus!

    ... und der Brik mehr Kopfzerbrechen bereitet als der andere, der historische Lazarus, mit dem er sich eigentlich befassen sollte.

    Hat der biblische Lazarus geträumt, als er in der lehmigen Höhle eingeschlossen war?

    ... fragt sich Brik einmal, und weiter:

    Hat er sich im Tod an sein Leben erinnert – an alles, an jeden einzelnen Moment? Hat er sich an die Morgenstunden mit seiner Schwester erinnert, wenn ihn ein Sonnenstrahl weckte, der wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte, an die warme Ziegenmilch und die weich gekochten Frühstückseier? Und als er wiedererweckt war, wusste er da noch, dass er tot gewesen war, oder trat er nur einfach über Marseille in einen anderen Traum von einem anderen Leben ein? Musste er sein früheres Leben aus seinem Gedächtnis streichen und wieder ganz von vorn anfangen, wie ein Einwanderer?

    Wie Lazarus Averbuch also, wie Vladimir Brik, denen genau dies nicht gelingt?
    Damit ist fleischwerdender Geister und geisterhafter Ähnlichkeiten in diesem Roman aber noch nicht genug. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto deutlicher werden Parallelen zwischen Figuren aus Lazarus Averbuchs Geschichte und solchen in Briks Leben. Rora zum Beispiel, den Brik noch aus Sarajevoer Tagen kennt und der ihn auf seiner Reise als Fotograf begleitet. Rora gleicht Isador, Averbuchs Freund von früher, der sich nach dessen Tod vor der Polizei versteckt halten muss, weil man ihn für einen weiteren anarchistischen Unruhestifter hält.
    Isador legt Zeugnis ab, indem er sich erinnert. Rora legt Zeugnis ab, indem er fotografiert. Von ihm stammen viele der Bilder, die Briks Reisebericht durchsetzen. Bilder von verschwommenen Landschaften und nächtlichen Autobahnen. Von Velibor Bozovic stammen viele der Bilder, die Aleksandar Hemons Roman durchsetzen. Denn mit seinem Freund, dem Fotografen Velibor Bozovic, hat Hemon tatsächlich eine Reise nach Osteuropa auf den Spuren nach Lazarus Averbuch unternommen. Womit wir noch mehr Wiedergänger hätten.
    Von Rora stammen aber auch unzählige unglaubliche Geschichten. Rora, diese schillernde literarische Schöpfung, dieser herzlose Charmeur und gewinnende Opportunist, setzt mit seinen Münchhausiaden über das Leben in Sarajevo während des Krieges eine Tradition aus dem Sarajevo davor fort, die Brik im nüchternen Amerika so sehr vermisst, nämlich ...

    ... (den) stillschweigende(n) Glaube(n) daran, dass jeder das sein konnte, was er zu sein vorgab – jedes Leben, auch wenn es noch so phantastisch war, konnte von seinem rechtmäßigen, souveränen Besitzer beglaubigt werden, von innen heraus. Wenn einem jemand erzählte, er sei in einem Cockpit mitgeflogen, sei ein Teenager-Gigolo in Schweden gewesen oder habe Mamba-Kebabs gegessen, fiel es nicht schwer, ihm zu glauben; man konnte sich dafür entscheiden, seinen Geschichten zu glauben, weil sie so gut waren.

    Im wirklichen Leben ist Aleksandar Hemon der Geschichtenerzähler. Und die Geschichten, die er in "Lazarus” erzählt, braucht man nicht zu glauben, um sie gut zu finden.
    Es ist Briks Selbstfindungstrip, nicht Hemons. Deshalb wechseln sich seelische Innenansichten in diesem Roman ab mit präzisen Außenaufnahmen, seien es solche aus postsowjetischen Provinzstädten der Gegenwart oder aus dem Chicago von 1908:

    Ein riesiges Automobil, keuchend wie ein gereizter Stier, überfährt beinahe den jungen Mann. Die Pferdekutschen sehen aus wie Schiffe, die Pferde sind stämmig, gepflegt und folgsam. Die elektrischen Straßenlaternen brennen noch und spiegeln sich in den Schaufensterscheiben. In einer der Auslagen führt eine kopflose Schneiderpuppe stolz ein zartes weißes Kleid mit herabhängenden Ärmeln vor.

    Das Chicago von damals inszeniert Hemon um Lazarus' Schwester Olga herum. Nach dem Tod ihres Bruders wird Olga von der Polizei und von Reportern schikaniert und von ihren Nachbarn für die um sich greifende fremdenfeindliche Hysterie in der Stadt verantwortlich gemacht. Sie will Lazarus anständig begraben, doch statt seines Leichnams erreicht sie die Nachricht, der Tote sei verschwunden. Lazarus ist auferstanden, in der Tat, und wurde von Dieben für ein paar Dollar an Medizinstudenten verkauft. Hemon rekonstruiert das Leben der Einwanderer in den Armenvierteln Chicagos, die Gerüche, den Schmutz, die Verzweiflung. So hervorragend sich diese Kulisse für ein Kostümdrama eigenen würde, so wohltuend trocken bleibt der Autor bei seinen Schilderungen. Sein lapidarer Stil entspricht der Apathie Olgas, die nur noch von gelegentlichen Schüben rasender Trauer und rasender Wut vorangetrieben wird.
    Die Olga-Kapitel alternieren mit Brik-Kapiteln. Die Erzählweise in diesen Passagen ist erwartungsgemäß ausschweifender. Wenn Brik sich nicht gerade über Amerika im allgemeinen und Mary im besonderen Gedanken macht...

    Mary konnte eine Kakerlake in der der Hand halten, fürchtete sich aber vor Spatzen. Mary liebte Broccoli und blutige Steaks und Karotten, aber sich machte sich nichts aus Eiscreme und Schokolade. Ihre Lieblingsbücher waren "Sinn und Sinnlichkeit" und "Wer die Nachtigall stört". Wenn sie Musik hörte, tippte sie sich manchmal mit den Fingern aufs Knie, stritt es aber vehement ab, wenn ich sie darauf aufmerksam machte. Sie trug gern bequeme, unelegante Sachen, hatte aber einen unfehlbaren, fetischistischen Geschmack bei Schuhen. Orchideen und grüne Zwiebeln brachten sie zum Niesen. Buschige Augenbrauen törnten sie an. Sie nahm zwei Löffel Zucker in Tee und einen in den Kaffee. Sie trank lieber Bourbon als Wein. Sie konnte sich nie den Namen ihres Lieblingsfilms merken. (Es war "Was der Himmel erlaubt".)

    Wenn also Vladimir Brik nicht gerade über Zwischenmenschliches und das, was in den USA grundsätzlich schief läuft, sinniert, verhilft er der klassischen "road novel" zu neuem Glanz. Zugegeben: Die Beschreibung der Zustände und Menschen, die Rora und Brik während ihres Abenteuers Osteuropa begegnen, überschreiten des Öfteren die Grenze zum Karikatur-, ja Klischeehaften. Der mit Gold behängte, mit Designer-Muskeln bepackte und von Leibwächtern und langbeinigen weiblichen Accessoires umgebene Gangster, der die Anwesenden vor Furcht, Respekt und Neid erzittern lässt, wo immer er auftritt. Die schmierigen Hotels, in denen einem zu nächtlicher Stunde minderjährige Prostituierte unaufgefordert ihre erigierten Brustwarzen entgegenstrecken. Der McDonald's neben stalinistischen Ruinen, die herrenlosen Hunde, die Illusion von Wohlstand, die täglich aufs Neue den Kampf mit stinkendem Abfall und löchrigen Socken aufnehmen muss.
    Ja, manche dieser Momentaufnahmen wirken grell und billig. Andererseits rutscht Aleksandar Hemon auch dort nicht in Gefühlskitsch ab, wo andere Autoren darin versinken würden. Ein Besuch im Jüdischen Gemeindezentrum von Czernowitz? Der endet schlicht damit, dass der Hüter des Zentrums Briks Hundert-Dollar-Spende mit Erklärung ablehnt, sie benötigten viel mehr Geld. Er solle gefälligst im reichen Amerika Sponsoren mobilisieren:

    "Ihr Ausländer interessiert euch immer nur für eure Vorfahren und eure Wurzeln”, sagte Chaim. "Euch geht es nur um die Toten. Um die Toten kümmert sich Gott. Wir müssen uns um die Leben kümmern."

    Was Chaim nicht weiß: Sein Besucher ist gar kein Jude. Auch Aleksandar Hemon ist kein Jude. Brik ist theoretisch ein Christ, der zu viele Probleme mit Gott hat, um auch praktisch ein Christ zu sein. Er spielt sich nicht als Gewissen der Menschheit auf. Für Lazarus Averbuch interessiert er sich aus Gründen einer imaginierten Seelenverwandtschaft und nicht aufgrund einer gemeinsamen Kultur oder Religion oder um sich beim Schwingen moralischer Keulen das Herz zu stärken. Dasselbe gilt, so darf man annehmen, für Aleksandar Hemon.
    Hemons Roman ist ein Kabinett voller Spiegelbilder. Geschichte löst sich darin in Geschichten auf. Erinnerungen werden als prekäres Unterfangen dargestellt, doch die Wirklichkeit erscheint noch viel prekärer. Und das Gefühl des Unbehaustseins, das die Figuren in "Lazarus" umtreibt, die Existenzen, die nur eine Haaresbreite von der Nicht-Existenz trennt – steckt nicht in allen von uns ein bisschen von Averbuch und Brik, ein bisschen von Rora, Mary, Olga und Isador?
    W.G. Sebald war ein Zeiten- und Weltenwanderer. Aleksandar Hemon ist eher ein Kosmonaut. Ihm ist die Schwerelosigkeit, was Sebald das schwere Schuhwerk war. Aleksandar Hemons Melancholie hat rosarote Punkte, und sein Roman ist eine Landkarte fürs Überall.

    Aleksandar Hemon: Lazarus. Roman. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein Knaus Verlag, München 2009. 350 Seiten. 19,95 Euro