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Landschaft voller Magie

Das Kleinstädtchen "Wassy": Gerade mal dreieinhalb Tausend Einwohner, liegt Wassy etwas südlich der Autobahnlinie Saarbrücken – Paris, unweit von St. Dizier. Hier treffen – in etwa - Burgund, Lothringen und die Champagne aufeinander. Otto von Bismarck, Paul Claudel, dessen Schwester, die Bildhauerin Camille Claudel, waren hier. Und es ist eine Naturlandschaft mit Sonnenblumen, die in unserem Sonntagsspaziergang eine kleine Rolle spielen ... und mit "Magie".

Von Franz Nussbaum |
    Seit 30 Jahren rolle ich immer wieder bei meinen Reisen durch Frankreich hier an diesem Wassy vorbei. Nie angehalten. Eine ländliche, leicht hügelig geschwungene Gegend, dünn besiedelt. Es ist die Landschaft des "Der", benannt nach einem Flüsschen. Und es gibt hier auch einen sehr großen künstlichen Stausee, den "Lac du Der", ein Wasserspeicher und Wasserparadies. Und so sieht der deutsche Schriftsteller und Frankreichkenner Fritz Werf diese Landschaft. Seine Reisenotizen ... .

    Lac du Der. Nützlich erweist sich das Gewässer besonders für Kraniche. Hier legen sie im Frühjahr auf dem Rückflug aus dem Süden und im Spätherbst auf der Flucht vor der nordischen Kälte eine mehrtägige Rast ein. (...) Eine Landschaft voller Magie. Überall im "Pays du Der" schmücken unzählige immergrüne Mistelkugeln die Laubbäume. Die zähen Halbschmarotzer galten den Kelten als magische Glücksbringer. Nur die Druiden als Wahrsager und Heiler durften sie von den Eichen abschneiden.

    Das mit der keltischen-, später gallischen, Geschichte ist lange vorbei. Und wir durchfahren gerade ein Dörfchen, von der Landflucht gezeichnet, bröckelnde Fassaden. Ein alter Mann schlurft in Pantoffeln aus der Bäckerei, das Baguette unter dem Arm und eine Gaulloise im Mundwinkel. Und seinem Gesicht möchte man unausgesprochen abnehmen, dass er schon mit Asterix gegen die Römer gekämpft hat.
    Und etliche Kilometer weiter kommen wir an jener kleinen Pferdestadt vorbei, die in Frankreich jeder Zocker kennt. Wo wertvolle Zuchtpferde, wo übermütige Fohlen mit ihrer Mama auf sattgrünen Weiden herumtollen. Und dann begleiten uns eine Weile weite Felder mit gelben Sonnenblumen. Und man denkt immer, "wie es Mutter Natur nur einrichtet, dass sich jeder dieser Tausend Sonnenblumenteller täglich 16 Stunden lang nach der Sonne dreht". Und sich dann die Blumenstängel des Nachts wieder zurückdrehen, denn sonst würde sie ja irgendwann durchdrehen. Eine Pflanze, die ihre Erfüllung darin in der Margarine findet, obwohl sie sich lebenslang an sich der Sonne zugewandt hat. So wie die Franzosen sich nach ihrem Sonnenkönig oder die Deutschen sich ersatzweise nach Boris Becker und Dieter Bohlen drehen. So etwas denkt man bei döseligen Überlandfahrten aus.
    Und dann erreichen wir Wassy. Ein sonntäglich verschlafenes Nest, die meisten Fensterläden sind wegen der Mittagssonne geschlossen, nur die Sonnenblumen in gepflegten Vorgärtlein haben geöffnet. Sternförmig laufen fast alle Straßen auf den "Place Marie Stuart" zusammen. Teile einer Schlossanlage, Magazine, Pferdeställe, ein Schlossflügel. Robert Dany:

    "Wassy gehörte gegen 670 zu den Ländereien eines Klosters. Es war eine Stiftung von König Childerich, der letzte Merowinger-König. Wassy wurde dann reich, weil es für Erzbergbau bekannt wird. Und Wassy lag auch an wichtigen Handelstraßen aus Italien über Burgund nach Flandern und an Wegen von Straßburg nach Paris."

    Drüben sehen wir die große, doch etwas gedrungen wirkende Kirche Notre Dame. Sie ist über 900 Jahre alt, teilweise romanisch. Und wenn wir in die andere Richtung gehen, dann kommen wir zu "Le temble protestant", also der Tempel oder die Kirche der Protestanten. Es war 1562 eine Art Bauernscheune, in der die Hugenotten von Wassy ihre Gottesdienste feiern.
    Und zum richtigen Verständnis der Katastrophe müssen wir die Herzogsdynastie "de Guise" einführen, spannend wie die Besetzungsliste einer Tragödie. Die de Guise nehmen im 15. Jahrhundert eine führende katholische Rolle im Lande ein.

    Marie de Guise ist die Mutter der Maria Stuart, Königin von Schottland. Deren Auseinandersetzung um die englische Krone mit Elisabeth I. ist, bei aller persönlichen Rivalität der beiden Frauen, auch Teil eines religiösen Machtspiels. Stuart-katholisch gegen Elisabeth-protestantisch. Charles de Giuse, ist der mächtige Erzbischof von Reims. Unversöhnlicher Gegner der Hugenotten, Großinquisitor in Frankreich. Und schließlich Herzog Francois de Guise. Er ist die Hauptperson des Massakers, 42 Jahre alt.

    Francois und der Erzbischof und Marie, die Mutter der Maria Stuart ... sind eine Generation, Anführer der "Heiligen Liga". Muss man nicht erklären. Und nun zum Ablauf des Gemetzels ... ..

    " Wassy gehörte zum Besitz des Herzogs Francois de Guise, Onkel von Marie Stuart. In Wassy gab es eine große Gemeinschaft der Protestanten. Am Sonntag, den 1. März 1562, kommt er mit viel Militär nach Wassy. Und der Herzog war dann – drüben - in der Kirche. Und es gab zu der Zeit auch ein Protestant – Gottesdienst im "Temple" Und der Herzog fühlte sich von einem angeblichen Lärm der Protestanten gestört. Er wollte dann die Protestanten nur ermahnen ..."

    In historisch geklärten Quellen heißt es:

    Des Herzogs Soldaten drangen in den provisorischen Betsaal ein, schossen um sich, ließen die flüchtenden Hugenotten, Frauen und Kinder durch eine Doppelreihe der Militärs Spießruten laufen und schossen auf jene, die sich retten wollten. Die Anzahl der Toten schwankt zwischen 62 bis 100. Um die Spuren zu beseitigen, wurde die Bauernscheune anschließend planiert. Die berüchtigte "Bartholomäus-Nacht" findet genau zehn Jahre nach Wassy statt. Und in den Reisenotizen von Fritz Werf heißt es:

    Die Protestanten, die 1562 beim Massaker von Wassy von Soldaten des Lehnsherrn Francois de Guise hingemetzelt wurden, hätten weder Druiden noch Mistelwunder gerettet. Gegen Blutbäder, die blindwütiger Glaubenseifer anrichtet, ist kein Kraut gewachsen. Das entsetzliche Pogrom löste in Frankreich jahrzehntelange Religionskriege und eine Massenflucht der verfolgten "Ungläubigen" aus.

    Aus deutscher Sicht bemerkt. Von der Massenflucht dieser Hugenotten profitieren später auch Preußen unter Friedrich II. Die Glaubensflüchtlinge aus Frankreich möbeln sein armes, sandiges Preußen auf, von den Folgen des 30–jährigen Krieges damals immer noch gezeichnet. Mit den Ideen der Hugenotten, mit ihrer Bildung, ihrem Handwerk ... steigen sie und Preußen auf. Offiziersposten, Prinzenerzieher und im heutigen Sinn "Wirtschafsmanager".
    Und der Aderlass der qualifizierten Hugenotten und die Folgen der Religionskriege wirft Frankreich fast so ähnlich zurück wie der 30-jährige Krieg die deutschen Lande. Zurück nach Wassy, Fritz Werf:

    Wassy gibt sich heute kulturbewusst. Im modernen, architektonisch ansehnlich gelösten "Espace culturel" stehen Multimediale Hilfsmittel und eine gut ausgestattete Bibliothek zur Verfügung.

    Und man darf ergänzen, für ein gut 3000–Seelenstädtchen ein erstaunliches Kulturzentrum. Hier findet man auch alle Bände des Schriftstellers Paul Claudel, der gegen 1872 in Wassy einige Jahre seiner großbürgerlichen Kindheit verlebt. Und hier gibt es auch Lesungen und Konzerte. Und wir hören eine Komposition des französisch-schweizerischen Komponisten Arthur Honegger, der einen Stoff von Paul Claudel vertont hat. "Johanna auf dem Scheiterhaufen".


    In seinem späteren Hauptberuf ist Claudel für Frankreich weltweit in diplomatischen Diensten unterwegs. USA, Österreich, China, Brasilien, er kennt auch Frankfurt und Hamburg. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig:

    ..Claudel hat nie in Paris gelebt ... hat sich nie in den Antichambres der Literatur herumgeschmiert, nie ... die Gefälligkeiten des Ruhmes auf Gegenseitigkeit erbeten. Er hat als Konsul in Tsche-Fu; Peking, Prag und Frankfurt lebend, seine Dramen sich und wenigen zuliebe ... geschrieben. Diese Dramen, die Seelenzustände von so brennender Glut gestalten, dass alles Irdische, Kostüm und Zeit in ihnen verflackert ...

    Man nennt Claudel auch den "katholischsten aller Dichter" seiner Zeit, was sich auch im missionarischen Tenor vieler seiner Texte durchdrückt. Ein Gedicht von Claudel: "Sommertag"

    Blendend in der Lichtekstase
    dieser strahlend frühen Horen
    auf des Teiches klarer Gaze
    ist ein ewiger Schwan geboren

    Machtvoll mit dem Flossenfuße
    wird der Raum hinweg getrennt,
    und der Vogel schwebt in Muße
    zwischen Meer und Firmament

    Und die Bläue aus dem Raume
    aus dem Schilf gluckst feuchtes Glitschern
    aus dem vielbelebten Baume
    Flügelschlag und Vogelzwitschern

    Wort mit zartem, tiefem Rauschen
    Wort bereits auf Gottes Schwelle
    nur geschaffen um zu lauschen
    dieser stillen lichten Helle


    ... geschrieben im Mai 1935. Keine Zeilen, wo sich Sonne auf Wonne und Lust auf Brust reimt. Und greifen wir noch einmal "Johanna auf dem Scheiterhaufen" auf. Die hochbegabte, gescheiterte Johanna könnte man auch in Paul Claudels Schwester Camille erkennen. Camille steht ihrem Bruder an Talent, an Intelligenz nichts nach, allerdings mit den begnadeten Händen einer Bildhauerin. Eine Kurzbiographie:

    Mit 17 Jahren zieht Camille Claudel mit der Familie weiter nach Paris. Da ist aber ihr Talent schon erkannt. Sie schließt sich 21-jährig dem mehr als doppelt so alten Bildhauer Auguste Rodin an. Rodin, der Begründer der modernen Plastik. Rodins Werk wird schließlich auch entscheidend von seiner Schülerin, seiner Mitarbeiterin und Geliebten Camille Claudel geprägt. Sie gilt als "eigensinnig, auffallsüchtig und schön"

    Wer sich in die erotische Beziehung und in die hoch-künstlerischen Arbeiten der Camille Claudel und des Auguste Rodin eindenken will- und in Bildbänden durchblättern will, braucht etwas mehr als einen Sonntagsspaziergang an Zeit. Beide gehen bildhauerisch weiter, als Michelangelo mit seinen Plastiken 300 Jahre zuvor aufgehört hat. Und es endet für Camille Claudel schließlich in der "Klapse", in der Psychiatrie. Da ist sie Mitte 30. Und die Biographen deuten vorsichtig an, dass Rodin wie auch Bruder Paul an der wahnverfolgten Künstlerin mit schuldig seien. Genie und Wahnsinn sind häufig Geschwister.

    Und wir kommen abschließend in das Rathaus von Wassy. Hier stehen wir vor einer Büste, einem Männerkopf, den diese Camille mit erst 15 Jahren, aber schon sehr sensibel modelliert hat. Die Büste zeigt, bitte halten Sie sich fest einen jungen "Otto von Bismarck". So mag er vielleicht 1862 in seiner Zeit als Gesandter in Frankreich ausgesehen haben? Wie kann eine 15-Jährige, die vielleicht schon einmal mit Ton geknetet haben mag, das – so gut, wie es hier steht - wie kann sie das können?-Fragezeichen.
    Und man steht speziell als deutscher Besucher davor und fragt, wie kommt eine junge Französin ausgerechnet auf Bismarck? Bismarck hängt damals, Klammer auf, 1870/71, wo Bismarck den Franzosen eine vernichtende militärische Niederlage einfädelt, ... der hängt nicht in den bürgerlichen "Guten Zimmern" der Franzosen. Woher Camille ihr Interesse grade an diesem deutschen Kopf nimmt, wird in ihren Biographien nicht erklärt.
    Und dann kann man sich – hier in Wassy- vielleicht auf ein Glas Burgunder Wein, oder aus der Champagne hinsetzen und blättert weiter in Bildbänden aus diesem Kulturzentrum, die Rodins und Camilles künstlerische Höhepunke festhalten. Deren Skulpturen auch durchaus anmutig und erotisch das Zusammen-, das Miteinander der Geschlechter darstellen.
    Vielleicht war auch Camille eine eigenwillige "Sonnenblume", die sich nach der Sonne des Auguste Rodin oder nach ihrem Bruder Paul Claudel den Kopf verdreht hat? C'est la vie in Wassy.


    Literatur:
    Hermann Schreiber: Auf den Spuren der Hugenotten
    Ilja Mieck: Die Entstehung des modernen Frankreich. 1452 - 1610
    Paul-Andre Lesort: Claudel
    Edwin Maria Landau: Claudel
    Taschen: Auguste Rodin
    J. A. Schmoll: Rodin und Camille Claudel
    Reine-Marie Paris: Camille Claudel
    Fritz Werf: Impressionen von Bar-le-Duc nach Bar-sur-Aube.