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Landschaften: Kulturelles Erbe in Europa

Am Wochenende trafen sich im Deutschen Bergbau-Museum in Bochum etwa 100 Geographen, Historiker, Archäologen, Stadt- und Landschaftsplaner, Kulturwissenschaftler sowie Verantwortliche aus Kommunalverwaltungen, Verbänden und der Politik zu einer Konferenz. Die Teilnehmer kamen aus 17 europäischen Ländern, um sich dem Thema "Landschaften - kulturelles Erbe in Europa" zu widmen. Landschaften haben einen starken Einfluss auf die Menschen: auf ihre Arbeit, ihre Sprache und Mentalität - und sogar auf das Ansehen, das sie in anderen Regionen genießen. In unserer globalisierten Welt verändern sich Landschaften in einem rasanten Tempo. Wie können die Menschen diesen Wandel mitgestalten und welche historischen Spuren möchten sie bewahren?

Von Stefanie Pütz |
    " Wir haben hier im Museum zufällig eine Ansicht der Stadt Unna aus der Zeit um 1830, auf einer Vase, die mal einem höheren Salinenbeamten dort geschenkt worden ist, da sehen Sie als Dominante die Stadtkirche und die Silhouette Unnas."

    Dr. Christoph Bartels, Historiker und Leiter der Bochumer Tagung

    " Dann ist bis in die fünfziger Jahre hinein diese Silhouette vollkommen geprägt worden von Fördergerüsten und Zechenanlagen. Wenn Sie die heute anschauen, dann nähert sich das wieder ganz stark dem Bild an, was auf dieser Vase von 1830 zu sehen ist, indem nämlich diese Industrieanlagen fast gänzlich verschwunden sind, Sie haben den Eindruck, dass sozusagen eine Wanderdüne darüber hinweg gegangen ist und letztendlich dann der Rückgang, die Rücknahme des Bergbaus Strukturen wieder hervorkommen lässt, die man geglaubt hat vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren gar nicht mehr sehen zu können."

    Dennoch prägt die Montanindustrie das Leben im Ruhrgebiet bis heute. Wenn über eine halbe Million Menschen ihr Arbeitsleben im Bergbau verbringen, wirkt das noch Generationen weiter, meint Professor Rainer Slotta, Direktor des Bochumer Bergbau-Museums. Denn der Beruf des Bergmanns sei ein ganz besonderer. Angefangen damit, dass er ohne Sonnenlicht auskommen muss.

    " Es ist egal, wann man arbeitet, unter Tage ist es immer dunkel. Man muss die ganze Zeit über Luft, also Wetter, nach unter Tage einbringen, sonst kann man nicht atmen. Man muss Licht unten haben, man muss die ganze Zeit pumpen, denn wenn das einmal ausfällt, dann ertrinkt eben das Bergwerk, es ersäuft. Und dieses sich unmittelbar und unbedingt aufeinander verlassen müssen, diese Kameradschaften, die sich eben ausbilden unter Tage, die führen eben zu Gruppierungen, die auch außerhalb der Schicht, außerhalb der Arbeit weiter gepflegt werden. Die Leute wohnen in gemeinsamen Kolonien, sie haben ein gemeinsamen Sprachduktus, es gibt ja eine bergmännische Sondersprache irgendwie, die Schicht, das Füllort, das Bergwerk usw. der Stollen, die Strecke usw., das sind alles Dinge, die sonst also der normale Bürger nicht so kennt, die Wetter usw. "

    Die Bergmannsprache gilt sogar als die älteste deutsche Fachsprache, sagt Professor Ludwig Eichinger, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Der Titel seines Vortrags auf der Bochumer Konferenz lautete: "Sprache und Landschaft: Reflexion und Identifikation". Dass sich die Beschaffenheit und die Nutzung einer Landschaft in der Sprache niederschlägt, gelte für jede Region, so der Germanist.

    " Zum Beispiel gibt es in der Schweiz seit längerer Zeit Untersuchungen, dass die Ausdrücke für räumliche Orientierung etwa in Berggegenden viel wichtiger sind als in anderen Gegenden. Darauf führt man zum Beispiel zurück, dass für Süddeutsche es viel natürlicher ist, die Partikel "her" und "hin" normal zu verwenden, also "komm herunter" und "geh hinunter", wobei "her" ja immer auf die Person zu sein soll und "hin" von der Person weg, während das im Norddeutschen meist zu "r" verkürzt wird oder nicht richtig erkannt wird. Man führt das darauf zurück, dass so die Art der räumlichen Orientierung in gebirgigen Gegenden schwieriger ist, intensiver ist, daher gibt es zum Beispiel dafür mehr Wortschatz. "

    Eine Landschaft prägt die Sprache ihrer Bewohner und damit gleichzeitig ihr Image, erklärt Ludwig Eichinger. Denn jeder Dialekt wecke stereotype Vorstellungen, sofern er als solcher zu erkennen ist. Ein Mensch aus Hannover oder Braunschweig, einer Region also, wo fast reines Hochdeutsch gesprochen wird, sehe sich selten mit Vorurteilen konfrontiert, so der Sprachwissenschaftler.

    " Andererseits gibt es mindestens seit dem achtzehnten Jahrhundert die Vorstellung, dass das Sächsische hässlich sei. Natürlich hat das Sächsische einige lautliche Eigenheiten, es zentralisiert die Vokale, statt einem "e" heißt es "öh", irgend so was. Zentralisierte Vokale mögen wir nicht so gern. Allerdings objektive ästhetische Kriterien, das ist wirklich schwierig, man macht es eigentlich daran fest, dass bestimmte Landschaften aufgrund historischer Ereignisse einen besseren oder schlechteren Ruf bekamen. So sagt man, dass eben Sachsen als das erste Gebiet Deutschlands, das industrialisiert wurde, bei dieser Gelegenheit seinen guten Ruf endgültig verlor."

    Grundsätzlich werden Sprachformen aus Industrieregionen eher abgelehnt, sagt Ludwig Eichinger, denn die Auswärtigen stellten sich die Landschaft als unästhetisch und die Bewohner als einfache, ungehobelte Leute vor. Diese Vorbehalte existierten lange Zeit auch gegenüber der Ruhrgebietssprache. Bei ihr kommt erschwerend hinzu, dass sie kein traditioneller Dialekt ist. Sie entstand vielmehr durch eine starke Sprachmischung im Zuge der Industrialisierung: Die Einheimischen und zahlreiche deutsche sowie polnische Zuwanderer mussten eine gemeinsame Sprache finden. Der Einfluss aus Polen - eine traditionell eher gering geschätzte Kultur - verschlechterte das Image der Ruhrgebietssprache zusätzlich. Der beliebteste deutsche Dialekt ist laut Umfragen der bairische, berichtet Ludwig Eichinger.

    " Warum wohl? Man kann sich überlegen, erstens kennen es viele Leute, es ist groß genug und medial präsent genug, dass man es kennt, es stammt aus einer Gegend, die auch ansonsten inzwischen positiv konnotiert ist. Schöne Berge, Seen und ordentliches Wetter, Bayern ist das klassische Urlaubsgebiet, ne, kommt vielleicht sogar noch dazu wirtschaftlich erfolgreich in den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, so dass eine Reihe von positiven Assoziationen sich dann auch auf die Sprachform niederschlagen."

    " Landschaft ist natürlich etwas, was zu einem großen Teil in der Imagination stattfindet. "

    bestätigt der Bochumer Historiker Christoph Bartels.

    " Und man beobachtet oft, dass das Bild außerhalb, je weiter man kommt, je mehr geprägt ist durch zeitlich frühere Zustände. Ich hatte vor zwei Jahren eine Studentin aus England hier, die vollkommen platt war, dass sie hier also eine entwickelte, vielfältige Kulturregion fand, und mir also gesagt hat, ja, ich habe mir eigentlich ein gigantisches Slumgebiet vorgestellt, was natürlich völlig unsinnig ist (Lachen), aber solche Vorstellungen existieren."

    Musik, Literatur, Filme und Fotos - all diese Medien prägen unsere Vorstellungen von einer Landschaft. Viele Bilder halten sich hartnäckig in unserem Gedächtnis, obwohl sie von der Realität längst überholt sind. Das Ruhrgebiet beispielsweise hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Statt rauchender Schlote sieht man dort heute viel Grün, und in den Städten hat sich ein reges Kulturleben entwickelt. Für das Jahr 2010 konnten Essen und das Ruhrgebiet den Titel "Kulturhauptstadt Europas" gewinnen - ein starkes Symbol für den Aufbruch einer ganzen Landschaft zu neuen Ufern, meint Rainer Slotta, Direktor des Bergbau-Museums.

    " Für die Macher der Kulturhauptstadt Europas besteht jetzt das Problem, was für Bilder nehmen wir, wählen wir aus. Um dieses Ruhrgebiet auch wirklich rüber zu bringen zu den Leuten. Und es ist ganz erstaunlich, dass man also die Zeche Zollverein, also den Bergbau dort so stark in den Vordergrund bringt, das ist gewollt so. Einfach aus der Erkenntnis heraus, dass man also diese Unverwechselbarkeit des Ruhrgebiets doch hier noch einmal zeigen will. Selbst wenn man auf der anderen Seite eben sagt, das Revier ändert sich, es gibt hier einen großen Strukturwandel, weg von Stahl und Kohle, aber die Zeche Zollverein ist als das Denkmal des Ruhrgebietes hier gewählt worden. "

    Welche historischen Spuren machen die Identität einer Landschaft aus und dürfen nicht verwischt werden? Wie kann man einen Ausgleich zwischen alt und neu finden - ein harmonisches Miteinander, das dem Neuen genügend Raum gibt, aber auch klare Regeln aufstellt, was vor dem Vergessen zu bewahren ist? Grundsätzliche Fragen, die nicht zuletzt an Historiker gestellt werden. Christoph Bartels:

    " Eins muss man ja wissen: Es gilt für einen Menschen als eine schwere Erkrankung, wenn er sein Gedächtnis verliert. Dasselbe gilt für eine Gesellschaft. Und ich halte das für ganz wichtig, dass man solche Regelungen trifft, denn natürlich geht der Prozess, der geht voran. Und was geregelt werden soll, ist, dass er nicht einfach Dinge überrollt, überwalzt, um die man hinterher furchtbar traurig sein müsste. Schauen Sie sich um in Köln oder wo immer, nehmen wir mal den Dom als Beispiel, also ich glaube nicht, dass auf dieser Welt irgendein Mensch Verständnis dafür hätte, wenn plötzlich einer käme und sagte, wir sind jetzt modern und reißen das olle Ding weg. Also das ist schlichtweg unvorstellbar. Denn das würde heißen, Schätze wegzuschmeißen, das tut niemand. "

    Gerade in Zeiten der Globalisierung, in der wirtschaftliche und technische Entwicklungen sich mit enormer Macht Bahn brechen, sei es wichtig, regulierend einzugreifen, sagt Christoph Bartels. Was zuweilen langwierige Diskussionen auslöst. Im Falle des Kölner Doms, als gotisches Meisterwerk von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt, besteht Einigkeit über seine historische Bedeutung. Zündstoff lieferte aber bereits die Frage, wie hoch die Häuser in seiner Umgebung sein dürfen, damit die einzigartige Silhouette Kölns nicht zerstört wird. Ebenso kontrovers wird nun in Dresden über Brückenbaupläne diskutiert. Doch nicht nur besonders bedeutsame, sondern auch gewöhnliche Landschaften sollten unter Schutz gestellt werden. Diese Meinung vertritt der Europarat in seiner "Europäischen Landschaftskonvention", die 2004 in Kraft trat.

    " Die Konvention selber sagt, dass mit dem Zusammenwachsen Europas den Regionen und ihren Besonderheiten auf der anderen Seite steigende Bedeutung zukommt. Das heißt also, sie stellt fest, dass natürlich für die Identität innerhalb Europas es nicht wünschenswert ist, irgendeinen Einheitsbrei herzustellen, sondern die gemeinsamen Züge gemeinsam zu vertreten, aber genauso die besonderen Identitäten in Regionen, in Landschaften zu bewahren und zu fördern, und sagt ausdrücklich, dass die Erhaltung der Eigenarten von Landschaften ein europäisches Ziel darstellt. Und das wird da in den Rang von Politik erhoben."

    Auch für Sprachen gibt es eine Schutzeinrichtung: die "Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen". Allerdings finden Dialekte der Hochsprache wie zum Beispiel das Bairische oder das Ruhrgebietsdeutsch dort keine Berücksichtigung. In der Charta verzeichnet sind das Sorbische, eine slavische Sprache aus dem Osten von Sachsen, und das Niederdeutsche - die frühere Standardsprache Norddeutschlands, die im 17. Jahrhundert offiziell durch das Hochdeutsche ersetzt wurde. Die Norddeutschen mussten das Hochdeutsche damals wie eine Fremdsprache neu lernen, erklärt der Sprachwissenschaftler Ludwig Eichinger.

    " So sprechen die Norddeutschen am reinsten nach der Schrift sozusagen, während der Süden Deutschlands nie die Verbindung zu den Dialekten verlor, das Hochdeutsche ist den süddeutschen Dialekten verwandt, den norddeutschen eigentlich nicht, und daher hat man als Süddeutscher entsetzliche Schwierigkeiten zu erkennen, was man alles weglassen muss, um richtig Hochdeutsch zu sprechen."

    In Zeiten der Globalisierung schwächen sich die regionalen Merkmale allerdings immer mehr ab. Die Menschen sind heute mobiler und müssen sich in den verschiedensten Regionen verständigen. Außerdem verbreiten die elektronischen Medien die hochdeutsche Sprache, so dass sie inzwischen fast jeder beherrscht.

    " Die Gesellschaft belohnt zur Zeit glaube ich sprachliche Variabilität. Es ist glaube ich am besten, wenn man gut Englisch kann, gut Standarddeutsch kann, seine verschiedenen sozialen Rollen unterschiedlich ausfüllen kann, so dass man sozusagen regionaler spricht, wenn man mit dem Bäcker, der immer schon um die Ecke war, spricht, und weniger regional spricht, wenn man mit dem Amtskollegen aus der nächsten Stadt spricht. Das heißt, unter Globalisierungsgesichtspunkten wird auch die regionale Einbindung, also zumindest bei schulgebildeteren Menschen, mehr zu einer Wahlmöglichkeit, die man hat. Die man auch in gewissen Situationen dann einsetzt. Politiker werden zum Beispiel in der Region, aus der sie kommen, sicher stärker ihre regionale Form hören lassen, als wenn sie im Bundestag sprechen. "

    Selbst die Ruhrgebietssprache hat mittlerweile ihren schlechten Ruf verloren, sagt Ludwig Eichinger, denn die Region habe eine positive Identität entwickelt. Der Direktor des Bergbau-Museums, Rainer Slotta, drückt es so aus: Die Menschen im Ruhrgebiet seien besonders wandlungsfähig und hätten den Strukturwandel mit großer Vitalität voran getrieben. Neben dem Bergbau prägen heute nicht nur die Kultur- und Dienstleistungsbranche die Region, sondern auch die Wissenschaft. 1958, zu Beginn der Kohlenkrise, gab es im Ruhrgebiet keine einzige Universität. Heute bildet die Region mit sechs Universitäten, neun Hochschulen sowie zahlreichen Forschungsinstituten und Technologiezentren die dichteste Bildungs- und Forschungslandschaft Europas. Das Deutsche Bergbau-Museum selbst ist seit 1977 Leibniz-Institut mit dem Auftrag, die Geschichte des Bergbaus zu erforschen.

    " Und wir machen das im weltweiten Rahmen, mit zwei großen Schwerpunkten, einmal wo wir uns um die Quellen selber kümmern, die zum Teil auch selber schaffen durch Ausgrabungen von Kasachstan bis nach Chile zum Beispiel, und dann in einem zweiten Schwerpunkt, wo wir uns um die Erhaltung dieser Montandenkmäler auch wirklich kümmern. Und da sind hier in diesem Haus insgesamt rund 120 Personen angestellt, die sich also ausschließlich um Erforschung der Montangeschichte im ganz weitesten Sinne einer Kulturgeschichte der Menschheit dann eben kümmern. Und es gibt in vergleichbarem Rahmen weltweit, wird man sagen können, kein ähnliches Institut. "

    Das interdisziplinäre Team des Bergbau-Museums - darunter Mineralogen, Archäologen, Chemiker und Historiker - wird für seine Expertise weltweit anerkannt und häufig zu Rate gezogen. Wie Landschaften sich entwickeln, wenn der Bergbau zurück genommen wird, zeigten die Bochumer ihren europäischen Kollegen nun auf zwei Exkursionen: Sie besuchten den Harz - und natürlich das Ruhrgebiet.

    " Wenn Sie sehen, was passiert mit diesen Rekultivierungsversuchen, etwa diese Restrukturierungsprogramme des Emschergewässernetzes. Wo also vor fünf Jahren angefangen wurde, die Rekultivierung dort im Bereich Unna / Kamen, zum Rhein hin, die Wiederbesiedlung durch Faunenelemente, die verschwunden waren und ähnliche Dinge geht also mit einer enormen Geschwindigkeit und mit ganz großem Erfolg voran, und was da früher mal stinkende Ablaufgräben gewesen sind, ist inzwischen von einem natürlichen Bachlauf kaum mehr zu unterscheiden oder gar nicht mehr zu unterscheiden, das sind ausgesprochen erfolgreiche Programme, und ich weiß einfach von den Kontakten mit den Kollegen, dass die sehr interessiert sind an den Lösungen hier."

    Eine Folgekonferenz soll den Austausch unter den europäischen Wissenschaftlern weiter vertiefen. Sie wird voraussichtlich im Jahr 2010 stattfinden - wenn Essen den Titel "Kulturhauptstadt Europas" trägt.