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Landschaftliches und kulturelles Kleinod

Der "Naturpark Montseny" liegt nordöstlich von Barcelona. Mehr als 30.000 Hektar groß ist das Biosphärenreservat: Ein landschaftlich und kulturelles Kleinod, dünn besiedelt, das schon seit Jahrhunderten Menschen anzieht, die Ruhe und Abgeschiedenheit suchen.

Von Michael Frantzen |
    Ein Paradies ist es wirklich, besonders unter der Woche: der Montseny. Man kann stundenlang durch den katalanischen Naturpark streifen, ohne auch nur einer Menschenseele über den Weg zu laufen. Vorbei an 1.700 Meter hohen Berggipfeln, wilden Gebirgsbächen und Hochebenen, über die Wind und Wolken peitschen. Schon seit Jahrhunderten zieht das Naturwunder Bewohner wie Besucher gleichermaßen in seinen Bann. Joana Barber ist eine von ihnen. Die Direktorin des Naturparks, eine Frau mit kurzem, schwarzem Haar und festem Handschlag, kam das erste Mal 1992 hierher.

    "Ich kann mich noch genau erinnern: Wir waren von Barcelona aus angereist, in deren Großraum 70 Prozent der katalanischen Bevölkerung lebt. Bis nach Montseny ist es keine Stunde. Ich hätte alles erwartet, nur nicht, dass es im Park so viele unberührte Stellen gibt – von solch atemberaubender Schönheit. Unglaublich! Als ich dann beruflich zurückgekehrt bin, um hier zu arbeiten, hat mich am meisten die Riesenvielfalt fasziniert. In Montseny gibt es ja ganz verschiedene Vegetationsstufen: von mediterran bis sub-alpin. Das hätte ich mir alles nicht träumen lassen."

    Montseny steckt voller Überraschungen: Beispielsweise der, dass - auch wenn man beim Wandern durch dichte Buchenwälder im Herbst und Winter knietief im Laub versinken und sich nur schwer vorstellen kann, dass sich hier überhaupt jemand schon einmal hin verirrt haben könnte -, das Gebiet trotz alledem seit der Steinzeit besiedelt ist. Iberer, Römer, katalanische Burgfräulein: Sie alle hinterließen Spuren. Sei es in Form von Burgen wie der von Montsoriu, die als wichtigstes Beispiel gotischer Militärbaukunst in Katalonien gilt. Oder der typischen "Masías", verstreut liegender Stein-Gehöfte.

    Spuren hat auch der spanische Bürgerkrieg hinterlassen. Im Hauptsitz des Naturparks verfolgen sie einen auf Schritt und Tritt. Bis Mitte der 30er-Jahre war die mehrstöckige Villa am Hang Sommerresidenz des Fabrikanten Rafael Pachot. Bis er nach Francos Sieg Hals über Kopf das Land verlassen musste. Sein katalanisches Nationalbewusstsein war den Franco-Leuten mehr als suspekt. Pachot ging nach Genf. Seine alte Heimat sah er nie wieder.

    Ein traurige Geschichte, die aber vor ein paar Jahren ein Happy-End fand. Joana Barber kramt aus der Schublade ihres Schreibtisches einen Brief hervor: handgeschrieben, auf Katalanisch. Eine Nachricht des in der Schweiz lebenden Neffen von Rafael Pachot. Ihm ist es zu verdanken, dass das leerstehende Haus in den Besitz der Naturparkbehörde überging und von Grund auf renoviert werden konnte.

    "Pachots Neffe bestand darauf, dass wir an jeder Hauswand eine Sonnenuhr anbringen. Wir fanden das ziemlich verrückt: Unsere Gäste werden sich bestimmt totlachen. Nein, nein, das lassen wir lieber. Also haben wir, wie üblich, nur an der Südseite eine Sonnenuhr aufgehängt. Nach ein paar Wochen erhielten wir einen Brief von Senor Pachot. Offensichtlich hatte ihn ein Aufpasser darüber informiert, was wir gemacht hatten. 'So, so, ich sehe, sie haben sich nicht an unsere Abmachung gehalten', schrieb er. Vier Sonnenuhren seien vielleicht tatsächlich etwas zu viel des Guten. Aber auf die an der Nordseite müsse er bestehen. Er hat das auch begründet: Nur weil wir die Sonne nicht sähen, heiße das noch lange nicht, dass sie nicht doch da sei. Es ist eine Hommage an all das, was sich unseren Blicken entzieht, aber trotzdem existiert."

    Im Erdgeschoss erinnert eine multimediale Ausstellung an das Wirken Rafael Pachots. Des Fabrikanten, Philanthropen, vielseitig Interessierten: Als Vater dreier Töchter rief er in den 20er-Jahren Stipendien für junge Frauen ins Leben, damit sie studieren konnten, erforschte er von Montseny aus den Sternenhimmel, untersuchte er das Klima hier.

    Das Erbe dieses fast vergessenen Mannes wieder ins Bewusstsein zu holen, so umreißt Laura Ruida ihren Job als Museumsleiterin. Sie fühle sich ihm verpflichtet, betont die Frau, die im nicht weit entfernten "Costa del Montseny" lebt - einem winzigen Nest, zu dem gefühlte 120 Serpentinen führen. Schließlich habe der Mann zu seiner Zeit viel getan - für Montseny.

    "Montseny ist ja auch etwas Besonderes, nicht nur, weil es immer heißt, es sei die Lunge Barcelonas. Wenn sie täglich an diesen majestätischen, Jahrhunderte alten Kiefern oder Eichen vorbeikommen, an den Wiesen und Felsen, dann wird ihnen klar, was wichtig ist im Leben. Wir leben im Einklang mit der Natur. Es bedeutet mir viel, hier zu arbeiten: in einem Naturschutzgebiet, dem Land meiner Vorfahren. Ich lasse unsere Gäste an etwas teilhaben, was Teil von mir ist."

    Ihrer Heimat verbunden ist auch Lídia Buscets. Die junge Frau arbeitet im Hotel "Can Barrina", einer alten "Masía" aus dem 17. Jahrhundert, die den Sprung in die Moderne schaffte, in dem die Besitzer von Landwirtschaft auf Tourismus umsattelten. Manches erinnert aber noch an die alten Bewohner.

    Kuhglocken: Ja. Eigene Kühe auf der nahen Wiese: Nein, die gebe es schon lange nicht mehr. Meint Lídia, bevor sie einen in eines der fensterlosen Speisezimmer führt, in dem man auf alten Wassertrogen Platz nehmen kann. Früher waren hier die Pferde untergebracht. Alles ganz authentisch. Lídia, die von sich sagt, sie habe ihren Traumjob gefunden, ist das nur recht.

    "Ich hatte vorher ein paar Vorstellungsgespräche in Barcelona, aber das hat alles nicht geklappt. Im Nachhinein bin ich froh darüber. Wir sind ein kleines Hotel, alles ist sehr persönlich. Unseren Hochzeitsgästen beispielsweise machen wir im Vorfeld ein maßgeschneidertes Angebot: Wie das Programm aussehen soll, die Unterkunft, das Essen. Sie sagen uns dann: Das und das – gerne. Das da – vielleicht weniger. Oder haben eigene Ideen. In einem großen Hotel irgendeiner Kette wäre das kaum vorstellbar. Da ist ja alles standardisiert. Ich weiß es wirklich zu schätzen, einen viel engeren Kontakt zum Gast zu haben."

    Auf die Glocke der romanischen Pfarrkirche von Montseny, dem Dorf, das genau so heißt wie der Park, ist Verlass: Mag es draußen auch schneien, wie im letzten Winter, mögen die Herbsttürme über den kopfsteingepflasterten "Placa de la Vila", den Dorfplatz vor der Kirche, fegen und im Sommer am Wochenende die Besucher aus Barcelona einfallen, auf der Flucht vor Hitze und Schwüle: Die "campana de San Martí" tut ihren Dienst.

    "Kann man sich die Uhr gleich sparen". Alfons Planas Juman lacht. Der knorrige Mann im braunen Lacoste-Pullover hat sein Arbeitszimmer direkt neben der Kirche. Nächstes Jahr hat der Anfang 60-Jährige 30-jähriges Jubiläum. Solange war noch nie jemand Bürgermeister in Montseny.

    Juman macht den Job ehrenamtlich, meist nach der Arbeit. Weiter oben, drei Kilometer vom Dorfkern entfernt, liegt seine "Masía". Seit 1457 ist sie urkundlich im Besitz seiner Familie. Juman ist hier geboren, aufgewachsen, weg wollte er nie. Land- und Forstwirtschaft – plus Gästebetten als Zusatzverdienst: Damit, meint er, seien sie gut über die Runden gekommen in all den Jahren. Die vier Kinder sind inzwischen erwachsen: Zwei sind da geblieben, zwei wegen des Studiums fortgegangen. Allesamt gute Kinder – meint der Bürgermeister stolz.

    "Klar, helfen sie ihrem Vater. Was denken sie. Ich hoffe doch, dass die zwei, die bei uns geblieben sind, den Hof einmal übernehmen werden. Es gefällt ihnen. Sie sind ja noch mit ihren Großeltern aufgewachsen. Das hat sie geprägt. Mein Vater hat ihnen beigebracht, wie man einzelne Baumarten unterscheidet und beschneidet. Zu welcher Jahreszeit, auf welche Art. Wann man sät und wann nicht. Lauter solche Sachen. Und dann natürlich die alten Familiengeschichten: Von den Urgroßeltern und Ururgroßeltern. Das alles war sehr wichtig für sie."

    Meint der Bürgermeister, nur um hinzufügen, jetzt sei es an ihm, seinen zwei Enkelkindern von "damals" zu erzählen. Traditionen – sie sind wichtig, in Montseny, diesem Paradies auf Erden.