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Lange Nacht der Taliban

Der folgenreiche Luftangriff auf zwei Tanklastzüge in Kundus hat erneut eine Debatte über den Sinn des Afghanistankrieges ausgelöst. Christoph Burgmer ist ein intimer Kenner der dortigen Szene. In seinem Essay "Lange Nacht der Taliban" untersucht er, ob das militärische Engagement noch eine Perspektive hat.

Von Christoph Burgmer | 13.12.2009
    Gleichzeitig macht er deutlich, dass das langfristige Ziel der internationalen Gemeinschaft eine aktive Verhandlungspolitik zugunsten eines entmilitarisierten afghanischen Staates sein müsse. Der Autor ist Islamwissenschaftler. 2004 gab er das Buch "Der Streit um den Koran" heraus.


    Lange Nacht der Taliban. Der Afghanistankrieg
    Ein Essay von Christoph Burgmer

    Das Mine Action Center der Vereinten Nationen geht davon aus, dass es mindestens noch 20 Jahre dauert, bis Afghanistan weitgehend von Minen geräumt sein wird. Vorausgesetzt, es werden keine neuen Minenfelder angelegt. Bis dahin werden täglich Menschen, insbesondere Frauen und Kindern, Gliedmaßen durch explodierende Sprengkörper zerfetzt. Ob die Menschen Opfer chinesischer, russischer, amerikanischer, europäischer, indischer oder iranischer Sprengwaffen werden, wissen sie nicht. Verwandte oder Freunde bringen die Verletzten in die nächsten, zum Teil kilometerweit entfernten Krankenhäuser. Die Stümpfe werden mit einfachsten Mitteln glatt geschnitten, gereinigt und vernäht.

    Nach der Heilung der Wunden beginnen die Monate in einem der sechs Rehabilitationszentren des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes.

    Alberto Cairo, italienischer Jurist, der das Programm 1988 initiierte und seit nunmehr über 20 Jahren mit seinen inzwischen über 500 Mitarbeitern leitet, veröffentlicht genauso lange jedes Jahr erneut seine Tätigkeitsbilanz als Zahlenwerk. Für 2008 wurden in Kabul 1800 Prothesen angefertigt, in Mazar-e Sharif 900, in Herat 700, in Jalalabad 1.100, in Gulbahar 220 und in Faizabad 180. Dazu kommen mehr als 1000 Rollstühle und beinahe 10.000 Gehhilfen. Die Produktion künstlicher Arme und Beine stieg im vergangenen Jahr auf über 15.000 an. Mit speziellen Maschinen werden die Prothesen individuell gefertigt und angepasst. Zusätzlich werden die Menschen geschult, physisch ihren Alltag in einem Land zu bewältigen, in dem es kein funktionierendes Gesundheitssystem gibt.

    Was psychisch und seelisch zerstört wurde, kann aber auch in den Orthopädiezentren des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes nicht behandelt werden. Die Zahlen des IKRK wie auch die der Weltgesundheitsorganisation zum nunmehr seit über 30 Jahren andauernden Krieg in Afghanistan sind erschreckend. Aber sie definieren die Notwendigkeiten und Grenzen jeder Afghanistan-Politik. Sie sind, auch wenn sie kaum ein Abbild der hoffnungslosen Lebenserfahrung jedes Einzelnen sein können, eine Art kollektives Gedächtnis der afghanischen Gesellschaft und lasten als traumatisches Erbe auf jeder zukünftigen Entwicklung.

    "In den vergangenen 30 Jahren wurde die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan vertrieben, ein Drittel floh ins Ausland. Mehr als eine Millionen Menschen wurden im Krieg getötet. Andere starben an Hunger oder Krankheit, weitere etwa eine Millionen Menschen wurden verwundet oder sind traumatisiert. Über 600 Quadratkilometer sind durch Landminen und Blindgänger verseucht. Nur zwei Drittel der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Versorgung, im Schnitt kommen auf einen Zahnarzt oder Apotheker 35.000 Einwohner. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist mit 46 Jahren eine der niedrigsten der Welt."

    Afghanistan, das macht diese Schreckensbilanz deutlich, ist auch in der Gegenwart humanitäres Katastrophengebiet. Wer kann, verlässt das Land. Die Zahl der Anträge auf politisches Asyl ist im vergangenen Jahr allein in Deutschland um 94,4 Prozent angestiegen.

    Die Gründe ähneln jenen, die aus der Zeit des Bürgerkriegs in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt sind, aus der Zeit vor dem Beginn der Herrschaft der Taliban: Flucht vor Verfolgung durch rivalisierende Waffen- und Drogenhändler, Flucht vor der Verfolgung durch korrupte staatliche Institutionen, Flucht vor willkürlicher Verhaftung und Folterungen, Flucht vor Verfolgung aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit und vor geschlechterspezifische Verfolgung von Frauen, Flucht vor den Folgen des Krieges gegen El Kaida und die Taliban.

    Es stellt sich die Frage, welche Ursachen Kriminalität, Korruption und fehlende Strafverfolgung in den gerade neu geschaffenen afghanischen Organisations- und Sanktionsstrukturen haben? Welche politischen Fehler führten nach der Beseitigung des Taliban-Regimes dazu, dass die mit italienischer Unterstützung 2004 verabschiedete sechste Verfassung des Landes seit 1923 bis heute in weiten Teilen des Landes immer noch Makulatur ist? Hierbei sind es vor allem die Auseinandersetzungen traditioneller afghanischer Interessengruppen um die Macht, die den neuen afghanischen Staat ad absurdum führen. Dazu ein Beispiel.

    Im von der Bundeswehr besetzten Norden Afghanistans herrscht der Tadschike Atta Mohammed Noor weitgehend unabhängig von der Zentralregierung in Kabul. Er ist Provinzgouverneur, ehemaliger Commander der Nordallianz und trotz seiner Vergangenheit als Warlord in Deutschland gern gesehener Gast. Während seiner öffentlichen Auftritte und in Interviews beklagt er insbesondere die tägliche Zunahme der Korruption, ohne die er aber selbst nicht existieren könnte.
    Dennoch protegieren ihn deutsche Politiker und Militärs, gilt der Tadschike doch als Gegenspieler des paschtounischen Präsidenten Hamid Karzai in Kabul, der von den Amerikanern nur noch geduldet ist. Karzai ließ, um Atta Mohammed Noor unter Druck zu setzen, kürzlich den tadschikischen Warlord Raschid Dostum, den man auch wegen der von ihm zu verantwortenden Massenhinrichtungen "Schlächter von NATOs Gnaden" nennt, aus seinem türkischen Exil zurückholen. Und ernannte ihn kurzerhand zum Stabschef für die neu aufgebaute nationalen Armee.

    Anonym bleibt ein paschtounischer Geschäftsmann, der beschreibt, wie die politischen Gegner die Polizei nutzen, um vermeidliche Gefolgsleute zu bekämpfen oder einfach nur, um sich Geld zu beschaffen.

    "Über 90 Prozent der Polizei ist korrupt. Vergangenes Jahr wurde mein Geschäft ausgeraubt. Ich war natürlich sehr erstaunt, als ich zufällig den Polizeiausweis eines Polizisten meines Stadtviertels fand. Ich wollte Anzeige erstatten und ging zur lokalen Polizeistation. Der Polizeioffizier jedoch nahm mich beiseite, entriss mir den Ausweis und drohte, dass, wenn ich jemals nur irgendeinem etwas davon erzählen würde, ich ein toter Mann sei. Also schwieg ich und nahm es so hin."

    Von Polizisten durchgeführte Raubzüge? Sie sind selbst in der Hauptstadt Kabul keine Einzelfälle. Es mag absurd klingen, dass gerade jene Polizei diese Verbrechen begeht, die mit westlicher Unterstützung ausgebildet wurde. Und die durch die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller, logistischer und intellektueller Ressourcen, unter anderem auch aus Deutschland, weiter verstärkt werden soll.

    Es ist jedoch weder für die Bundeswehr noch für die deutschen Polizeiausbilder möglich zu verhindern, dass Polizisten auf Raubzug gehen, willkürlich Personen verhaften und in Polizeiposten Inhaftierte gefoltert werden. Dennoch sind es Ingenieure der Bundeswehr gewesen, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Polizeiposten in und um Kabul wieder aufgebaut haben.

    Nach der Fertigstellung, größere Posten verfügen über einige Gefängniszellen, errichtet unter strikter Beachtung des deutschen Baurechts, erfolgte die Übergabe an die afghanische Polizei. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes verzeichnete allein für 2008 einen Anstieg der registrierten Personen in den staatlichen afghanischen Gefängnissen von über zehn Prozent. 2009 wird sich die Zahl aufgrund der Ausweitung des Krieges noch einmal deutlich erhöhen.

    "Während 379 Besuchen in 103 Gefängnissen wurden 12.746 Gefangene gezählt. Nach Mängellisten wurden den Behörden Vorschläge zur materiellen Verbesserung der Bedingungen für die Gefangenen gemacht. Projekte zur Verbesserung der Wasserversorgung, der sanitären, ernährungs- und medizinischen Versorgung wurden mit technischer Unterstützung des IKRK durchgeführt."

    Aus der Perspektive der Afghanen schreibt der mit allen Mitteln geführte Kampf um die Macht den Zustand permanenter existenzieller Unsicherheit fort. Sie sind gezwungen, die gleichen Überlebensstrategien anzuwenden, die ihren Lebensalltag schon vor den Taliban prägten. Mangels Alternativen schließen sich viele für Geld einem Warlord oder Drogenbaron an. Diese haben inzwischen ihr altes Patrimonialsystem neu installiert, ein System, das den eigenen Anhängern und ihren Familien Schutz und allgemeine Versorgung garantiert. Eine Art Parallelsystem, dass davon profitiert, dass die gigantische westliche Militärstreitmacht keinen Schutz auf Unversehrtheit der Person garantieren und die zahllosen Hilfsorganisationen keine wirtschaftliche Entwicklung initiieren können.

    Mit dem Ergebnis, dass die Unterstützung durch die afghanische Bevölkerung, die die westlichen Armeen 2002 noch hatten, dramatisch gesunken ist. Die große Hoffnung vieler Afghanen, es könnte mit Hilfe des übermächtig erscheinenden westlichen Militärs und ihrer hochtechnisierten Ausrüstung gelingen, militärischen Bereich und Zivilgesellschaft nach Jahrzehnten des Kriegs zu entflechten, ist enttäuscht worden. Das Gegenteil ist geschehen. Als Konsequenz aus dem jahrelang geführten so genannten "Low intensive war", als den Militärs den afghanischen Krieg bezeichnen, ist eine Gesellschaft entstanden, die, wenn man es biologisch ausdrückt, durch die "Symbiose" von Hilfsorganisationen und Militärs geprägt ist, Armeen und NGOs sind verquickter als jemals zuvor. Politisch ist so ein undurchschaubares, nicht steuerbares komplexes Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten entstanden, das korrupte Politiker, Warlords und Kriminelle leicht infiltrieren und für eigene Zwecke nutzen können.

    Die daraus resultierende fehlende Transparenz nährt den Wunsch sozial benachteiligter Afghanen nach einer Rückkehr zur "islamischen Gerechtigkeit" der Taliban. Die Taliban verzeichnen einen Anstieg der Kämpfer von 2.000 auf über 25.000, Tendenz steigend. Mehr und mehr Afghanen befürworteten den islamischen Fundamentalismus, weil ihnen der sunnitische Terror, im Rückblick romantisiert, gerechter erscheint. In ihrer Wahrnehmung ist der öffentliche Raum von westlichen Militärs, korrupten Politikern, Warlords und bewaffneten Banden beherrscht. Von letzteren soll es in Afghanistan über 2000 geben.

    Die einheimische Wirtschaft, mit Ausnahme des Opium-Marktes, des Waffen- und Warenschmuggels aus China und der Versorgung ausländischer Streitkräfte, ist von westlichen Hilfsorganisationen dominiert. Wie das Überleben eines schwerkranken Patienten von den überlebenssichernden Apparaturen der High Tech Medizin abhängt, hängt Afghanistans Wirtschaft am Tropf dieser Non Governmental Organisations, abgekürzt NGOs. Sie sind die unablässig verabreichte Medizin an den "Patienten Afghanistan", und sichern doch nicht mehr, als das einfache Überleben. Soweit die "Krankenakte Afghanistan" nach jahrelanger Besatzungspolitik.

    Das diese Einschätzung vieler Afghanen nicht falsch ist, bestätigte 2008 der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.

    "Erhebliche Teile Afghanistans sind nach wie vor Kampfgebiete und/oder befinden sich nicht unter Kontrolle der operativen Regierung. Die Gefahren sind in der folgenden, nicht abschließenden Liste aufgeführt: intensive Aktivitäten gegen Aufständische, einschließlich Bombenangriffe durch ISAF/NATO aus der Luft, deren Eskalation zu einem offenen Krieg in südlichen, südöstlichen und östlichen Provinzen geführt hat."

    Hier ist für 2009 noch Waziristan, die Grenzregion zwischen Pakistan und Afghanistan und der Norden in und um Kunduz hinzuzufügen. Doch damit nicht genug:

    "Es gibt wahllose Anschläge regierungsfeindlicher Elemente, unter anderem durch den systematischen Gebrauch unterschiedslos wirkender Kriegsmittel, unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen an Straßen, Raketenangriffe, Bomben wie auch Selbstmordanschläge, einschließlich Anschläge auf "weiche" Ziele wie Schulen, Lehrpersonal und Kirchenvertreter; Akte der Einschüchterung einschließlich willkürlicher Tötungen, Entführungen und andere Bedrohungen des Lebens, der Sicherheit und der Freiheit durch regierungsfeindliche Elemente und regionale Kriegsherren, Warlords, militärische Kommandeure und kriminelle Gruppen, illegale Landbesetzungen sowie Enteignungen mit eingeschränkten Möglichkeiten, dagegen vorzugehen."

    Eine ernüchternde Bilanz. Das jahrelange Engagement der westlichen Armeen hat die afghanische Kriegsgesellschaft nicht beseitigt. Schlimmer noch. Im Verlaufe der der letzten Jahre sind die ausländischen Soldaten selbst mehr und mehr zu einem ihrer Bestandteile geworden. Den ehemaligen Warlords ist es gelungen, die 61.000 Soldaten aus 42 Nationen und zahllose NGOs in ihr System permanenter Vetternwirtschaft und Korruption mit einzubinden ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Lagen 2002 alle Gestaltungsoptionen bei den Alliierten, haben sich diese vergangenen sieben Jahren dramatisch verringert.

    Mujaheddin-Gruppen und Drogenhändler konnten die neuen staatlichen Institutionen infiltrierten und ihren Einflussbereich deutlich ausdehnen. Selbst der amerikanische Präsident Barak Obama musste, trotz einer angekündigten neuen Afghanistanpolitik, diese Tatsache akzeptieren. Um überhaupt noch irgendeine Art Einfluß auf die Warlords zu haben, blieb dem amerikanischen Präsidenten nichts anderes übrig, als Hamid Karzai trotz erwiesenen massiven Wahlbetrugs erneut als Staatspräsidenten anzuerkennen. Wasser auf die Mühlen der Taliban:

    "Erstaunlich ist, dass Washington und London ihrem Marionettenpräsidenten wochenlang Wahlbetrug vorgehalten haben, und nun, nachdem er auf der Grundlage der selben Ergebnisse zum Sieger erklärt wurde, sofort ihre Glückwünsche schickten. Gespräche mit Hamid Karzai lehnen wir ab. Es sind leere Worte. Der afghanische Präsident hat nicht die Autorität, eine derartige Entscheidung zu treffen."

    Über Jahre war der "War Against Terror", der Krieg gegen El Kaida, das einzige Motiv amerikanischer Politik in Afghanistan. Eine zivilgesellschaftliche Veränderung der politischen Bedingungen hatte George W. Bush von Beginn an nicht vorgesehen. Alexander Thier vom United States Institute of Peace in Washington.

    "Nach den Anschlägen des 11. Septembers entledigte sich die Bush Administration jeglicher seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgten US-amerikanischen Sicherheitsstrategie, die vorsah, schwache und instabile Staaten so zu transformieren, dass stabile politische Verhältnisse die staatlichen Institutionen stärkten. In Afghanistan war man gegenüber dieser Form staatsbildender Strategien desinteressiert. Man überließ militärischer Logik das Handeln. Das Diktat "Krieg gegen den Terror" bedeutet alleine die militärische Intervention, bedeutet den unablässigen Feldzug gegen den Feind. Der Aufbau starker politischer Institutionen war nicht beabsichtigt. Öffentlich propagiert man zwar eine Art "Marshall Plan" für Afghanistan. In Wirklichkeit aber überließ man den Staatsaufbau den Warlords, die ihre finanziellen Ressourcen mit Drogenschmuggel deckten und für die Gesetze keine Rolle spielten."

    Die Folgen werden erst heute deutlich sichtbar. Die alten politischen Akteure in Afghanistan agieren mit neuer Verve. Ermutigt in die politische Arena zurückzukehren wurden die Warlords vom Westen aber schon seit 2002. Die Afghanistan Geber- und Sicherheitskonferenzen in Bonn, später in Tokio, Bonn, Berlin, London und zuletzt Bukarest 2008 stellten hunderte Millionen Dollar zur Verfügung, ohne Kontrollmechanismen zu etablieren. Afghanistankenner kritisierten schon damals, dass der eingeschlagene Weg der Internationalen Gemeinschaft wenig erfolgversprechend sein würde. Dennoch bewilligten die so genannten Geberländer jenen Mujaheddin-Gruppen und ihren Vertretern Finanzmittel, die für die Zerstörung der Infrastruktur in einem jahrelangen Bürgerkrieg vor der Machteroberung der Taliban verantwortlich gewesen waren.

    Aber in der Euphorie 2002 und 2003, insbesondere in Deutschland, wo es Politikern und Presse gelang, selbst Schüler zu Spendenaktionen für Afghanistan zu motivieren, wies man solche Einwände mit Hinweis auf die Sicherheit zurück. In der Regierungserklärung im März 2004 machte der SPD-Politiker Peter Struck deutlich:

    "Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt, wenn sich dort Bedrohungen für unser Land, wie im Falle international organisierter Terroristen, formieren... Ich bin der Meinung, die Kardinal Meisner kürzlich bei einem internationalen Soldatengottesdienst geäußert hat: Diese Bundeswehr ist die größte Friedensbewegung Deutschlands!"

    Bundeswehrsoldaten in Afghanistan sind jedoch keine "Entwicklungshelfer in Uniform". Die Bundeswehr ist in ihrer "friedenszwingenden Mission" auftragsbedingt dazu verpflichtet, trotz besseren Wissens, Mujaheddin-Gruppen, Verbrecherbanden und anderen, die sich dazu ermächtigt haben, das Feld zu überlassen. Wer will, kann sich auf Patrouillengängen mit Bundeswehrsoldaten von der politisch gewollten "Arbeitsteilung" zwischen Bundeswehr und Vertretern der Warlords und Drogenbosse davon überzeugen. In den Augen der afghanischen Öffentlichkeit wirkt sie als eine eher hilflose Besatzungsarmee. Die Bundeswehr selbst begründet ihren Einsatz wie folgt.

    "Deutschland verfolgt mit seinem umfangreichen, zivilmilitärischen Engagement drei Ziele: Zum einen ist dies die Unterstützung Afghanistans bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung. Zum anderen ist es die Beteiligung an den Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft, regionale Stabilität und Sicherheit in einem schwierigen Umfeld zu gewährleisten. Vor allem aber verteidigt die Bundeswehr deutsche Sicherheitsinteressen. Unser Land leistet so einen Beitrag zur Eindämmung des weltweiten Terrorismus. Afghanistan darf nicht erneut zum Rückzugsraum des internationalen Terrorismus werden."

    Nichts hat die Rolle der Bundeswehr in den letzten Jahren stärker verändert, als der ihr befohlene Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan. Die Politik verfolgt mit dem Afghanistan-Engagement zusätzlich das Ziel, das politische Gewicht Deutschlands international zu stärken. Skandale, wie der angeforderte Luftangriff auf gestohlene Tankfahrzeuge mit der Konsequenz von je nach Quelle, zwischen 30 und 110 Toten, sind die Folgen der Bundeswehrbeteiligung im afghanischen Krieg.

    Niemals seit Ende des Zweiten Weltkrieges konnte eine deutsche Armee so unbehelligt von öffentlicher Kritik agieren. Regte sich gegen den Irakkrieg noch öffentlicher Widerstand, befürworteten sogar Intellektuelle und Hilfsorganisationen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Aber wer den militärischen "Out Of Area"-Einsatz der Bundeswehr bis hin zu unterstützenden Kampfeinsätzen, zum Beispiel durch Luftaufklärung befürwortet, muss auch die Konsequenzen, dass deutsche Soldaten im Krieg sterben, verantworten.

    Viele Afghanen verbanden sich mit der Präsenz der westlichen Armeen und auch mit der Bundeswehr, mit deren technischer Überlegenheit, die Hoffnung auf zivile Entwicklung. Eine enttäuschte Hoffnung. Wie dramatisch die Situation in der Gegenwart ist, beschreibt die 1977 gegründete und international anerkannte Menschenrechts- und Frauenorganisation RAWA:

    "Vor Jahren legitimierten die USA und ihre Verbündeten erfolgreich ihre militärische Invasion Afghanistans gegenüber dem amerikanischen Bevölkerung und der Welt mit der "Befreiung der afghanischen Frauen", "Demokratie" und dem "Krieg gegen den Terror". Die Afghanen, die von den Taliban gequält und unterdrückt waren, erlebten eine kurze Zeit der Hoffnung. Aber schon bald mussten sie erkennen, dass ihr Traum von Sicherheit, Demokratie und Freiheit an der Realität zerbrach. Durch die Installierung des willfährigen Karzai-Regimes wurden die Beziehungen und Abkommen mit den Mujaheddin beziehungsweise Warlords erneuert. Die wichtigsten Ämter wurden an Kriminelle vergeben und verwandelten Afghanistan in einen Staat der Mafia. Selbstverstümmelungen von Frauen, Vergewaltigungen und Entführungen von Frauen und Kindern gehören heute wieder zur Tagesordnung. Die Journalistin Pervaiz Kambakhsh wurde von den Mujaheddin um Atta Mohammad wegen Verbreitung "blasphemischer Literatur" zum Tode verurteilt, andere Journalisten wurden von Kriminellen wie Ismail Khan und Qasim Fahim, persönlicher Berater Präsident Karzais, bedroht und mussten aus Afghanistan fliehen. Während Hamid Karzai international Krokodilstränen vergießt, gewährt die Regierung in Afghanistan Vergewaltigern und Mördern offiziell Amnestie. Die Menschen in aller Welt sollten wissen, dass ihre finanzielle Unterstützung in die Hände einer Regierung gelangt, die aus fundamentalistischen Kriminellen und korrupten Technokraten besteht und dass die einfachen Leute in Afghanistan davon nicht profitieren."

    Eine einfache Lösung ist jedoch nicht in Sicht. Denn in den vergangen 35 Jahren wurde aus dem weitgehend isolierten Land am Hindukusch eines der größten und komplexesten internationalen militärischen wie diplomatischen Schauplätze. Barnett R. Rubin ist Direktor des Zentrums für Internationale Zusammenarbeit der New York Universität und einer der führenden Kenner Afghanistans.

    "Die Geschichte Afghanistans in den vergangenen 35 Jahren bedeutete das Ende Afghanistans als Pufferstaat. Heute ist Afghanistan zum Schlachtfeld internationaler Konflikte geworden. Vor zehn Jahren gab es, neben dem mit geringer Intensität geführten Krieg zwischen der Nordallianz und den Taliban nur die wenig intensiv geführte stellvertretende Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien, den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten und die Konkurrenz zwischen den USA, Russland und Iran über den Verlauf von Öl-Pipelines. Alle diese Konflikte existieren heute weiter, jedoch werden sie mit deutlich größerer Intensität geführt. Und es sind seit dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten weitere hinzugekommen. Dazu zählt der "Krieg gegen den Terror", also die kaum definierbare Konfrontation der USA mit der internationalistischen Islamistenbewegung, der Konflikt zwischen der NATO und Russland, die Konfrontation der USA mit dem Iran, die Frage der politischen Zukunft Pakistans, der Krieg in Waziristan und den pakistanisch-afghanischen Grenzgebieten. Darüber hinaus hat sich die schon immer existierende politische Mobilisierung über die Zugehörigkeit zur ethnischen Herkunft, wie Paschtoune, Tadschike oder Hazara, und die regionale, stammesbedingte und religiöse Identität dramatisch verstärkt."

    An nichts lässt sich die Komplexität der unauflösbaren Gegensätze in der aktuellen politischen Situation deutlicher ablesen, als an Anzahl und Motivationen der gegenwärtig in Afghanistan handelnden Akteure. Vor zehn Jahren kämpften die von Pakistan und trotz Al Quaida von Saudi-Arabien unterstützten Taliban gegen die insbesondere von Frankreich und Russland militärisch und logistisch unterstützte Nordallianz. Afghanistan befand sich am Rande internationaler Aufmerksamkeit. Mit den bekannten verheerenden Folgen eines Bürgerkrieges und der daraus resultierenden fundamentalistisch totalitär- sunnitisch-religiösen Diktatur der Taliban. Selbst internationale Organisationen wie die Welternährungsorganisation hatten sich Ende der 90er Jahre aus Afghanistan zurückgezogen.

    Afghanistan ist in der Gegenwart Schauplatz geostrategischer Konflikte. Sie ergänzen die schon vorhandenen. Die Wichtigsten sind neben dem schon erwähnten so genannten "Krieg gegen den Terror" und dem indisch-pakistanischen Konflikt, militärisch auf Geheimdienstebene geführt, die Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die sich als Stellvertreterkrieg in der Auseinandersetzung zwischen schiitischen und sunnitischen Warlords zeigt.

    Auch die Beziehung zwischen den USA und den NATO Verbündeten steht in Afghanistan auf dem Prüfstand. Die Beteiligung an der von den USA 2003 geführten "Koalition der Willigen" in den Irak spaltete die NATO nachhaltig. In der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit tauchen zudem kritische Fragen auf, wieso ein Diktator wie Saddam Hussein gestürzt, dagegen ein korruptes Regime wie das Hamid Karzais militärisch und finanziell unterstützt wird. Afghanistan ist weiterhin der zentrale Austragungsort im Ringen um die Beziehungen zwischen den USA, der NATO und Russland.
    Russland unterstützte anfänglich den Krieg gegen die Taliban und El Kaida. Die andauernde Militärpräsenz der NATO berührt jedoch zentrale Sicherheitsaspekte russischer Außenpolitik. In Moskau versteht man die Expansion der NATO als konsequente Fortführung einer Politik der Einkreisung Russlands, wie sie im Kalten Krieg verfolgt wurde.

    Afghanistan ist zusätzlich Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen dem Iran und den USA. Nach einer informellen Zusammenarbeit bei der Beseitigung des Talibanregimes stellte sich die bekannte Frontstellung wieder ein. Der Iran betrachtet die Region im Nordwesten um die Stadt Herat traditionell als eigene Einflusssphäre. Der dortige Stadthalter wird von Teheran unterstützt. Zudem soll der Iran die aufständischen Taliban mit Waffen beliefern. Die machthabenden Mullahs in Teheran hoffen durch ein destabilisiertes Afghanistan die USA militärisch zu binden und den Erzfeind Pakistan zu destabilisieren.

    Dies sind Konflikte, die die Etablierung eines starken afghanischen Staates vorläufig scheitern lassen. Es fehlt an internationalen Abkommen, in die vor allem die Regionalmächte Iran, Usbekistan und Pakistan mit einbezogen sind. Angesichts der derzeitigen Situation hat ein afghanischer Staat keine Existenzchance. Das langfristige Ziel der internationalen Gemeinschaft muss eine aktive Verhandlungspolitik zugunsten eines zivilen, entmilitarisierten afghanischen Staates sein.

    Die Veränderungen seit der Eliminierung des so genannten Islamischen Emirates von Afghanistan sind zwar überdeutlich. Millionen Menschen, die jahrelang in Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten gelebt haben, kehrten in ihre Heimat zurück. In den großen Städten entstand erneut öffentliches Leben: Kinos, Cafés, Restaurants, Sport- und Kulturveranstaltungen. Die neu gegründeten Massenmedien, Rundfunk, Fernsehen, Zeitschriften sind kritisch und nicht staatsgesteuert wie im benachbarten Usbekistan, in Tadschikistan, Turkmenistan und dem Iran.

    Es bleibt allerdings vorerst ungelöst, wie die Militärpräsenz des Westens beendet werden kann, ohne dass die neuen staatlichen Institutionen zusammenbrechen. Denn das eine noch so starke Präsenz westlicher Militärs die Sicherheit der Menschen nicht garantieren kann, belegen die nicht enden wollenden militärischen Kämpfe mit den Taliban genauso wie die wiederholten Anschläge überall in der Region.

    Die Situation entspricht dem, was politikwissenschaftliche Konfliktforschung mit ihrem an europäisch-historischer Kriegsanalyse geschulten Blick als "asymmetrische Konflikt" beschreibt.

    "Die Entstaatlichung des Krieges", "

    schreibt beispielsweise Herfried Münkler, Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität Berlin,

    " "als Entwicklung asymmetrischer Konfliktkonstellationen, hat zur Rückkehr der Vorstellung vom gerechten Krieg geführt, wie dies bei der Nato-Intervention im Kosovo und zuletzt bei der Zerschlagung des Taliban-Regimes in Afghanistan deutlich zu beobachten war."

    Dass die Umsetzung moralphilosophischer Vorstellungen von "gerechten Kriegen" durch hochgerüstete westliche Armeen gescheitert ist, wird in Afghanistan mehr als deutlich. Interventionsarmeen sind zwar in der Lage, unliebsame Regime zu beseitigen, nicht jedoch Zivilgesellschaften zu errichten. Afghanistan durch die Verstärkung der Militärpräsenz zu "befrieden" ist also eine politische Illusion.

    Angesichts des nicht enden wollenden Schreckens, angesichts der seit über 30 Jahren andauernden militärischen Interventionen verschiedenster Armeen kann jedoch auch ein Abzug der ISAF Truppen die Situation nicht befrieden. Traditionelle politische Institutionen wie die paschtounische Loya Dschirga können das friedliche Zusammenleben niemals mehr garantieren. Solche Vorstellungen sind romantisch und unpolitisch. Schon einmal hat sich der Westen, an der Spitze die USA aus der Region zurückgezogen. In der Folge verwandelten die hochpolitisierten afghanischen Mujaheddin Afghanistan in ein Gräberfeld. Wer die Taliban und die Realität des Islamischen Emirat von Afghanistan kennengelernt hat, der weiß, dass man sogar diese Gräberfelder in einer religiös inspirierten Terrorherrschaft noch in Folterkammern für die Überlebenden umfunktionieren kann.

    Die Kriege, die in den vergangenen 35 Jahren in Afghanistan tobten, haben nicht nur, im wahrsten Sinne des Wortes, keinen Stein auf dem anderen gelassen. Sie haben auch sämtliche über Jahrhunderte gewachsenen politischen und administrativen Strukturen hinweggefegt.

    Ergebnis ist eine hochgradig politisierte, sich über ethnische, politische und religiöse Identifikationen definierende Gesellschaft. Geblieben ist ihnen nur noch der verbale Gebrauch des Begriffs Afghanistan. Damit betonen alle Afghanen empathisch eine gemeinsame historische national-kulturelle Erfahrung. Denn der Staat Afghanistan ist heute weder politisch, noch ökonomisch, noch kulturell Realität. Afghanistan ist eine "imaginierte Staatsgesellschaft", ist die Idee, dass auf dem historischen Staatsgebiet ein demokratisches und ökonomisch sich entwickelndes Staatsgebilde entsteht, das jedem Bürger grundlegende Menschenrechte garantiert.

    Wer dem afghanischen Staat neues Leben einhauchen möchte, muss nicht nur die Taliban und El Kaida bekämpfen, sondern gleichzeitig die neuen staatlichen Institutionen mit Hilfe einer starken, unabhängigen Justiz von Kriegsverbrechern der Mujaheddin, Warlords und Drogenbaronen befreien. Gelingt dies nicht, wird nicht nur die Glaubwürdigkeit der Alliierten in der Bevölkerung weiter abnehmen. Afghanistan wird dann auch weiterhin Rückzugsgebiet und Schlachtfeld radikaler islamisch-fundamentalistischer Terroristen aus aller Welt bleiben.