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Lange Theaterabende als Bußübung

Die Theatersaison geht zu Ende. Und im Rückblick zeichnet sich ganz unabhängig von Autoren, Stücken und Regisseuren ein Trend ab: Die Theaterabende dauern immer länger. Bühnen-Marathons von bis zu 24 Stunden sind keine Seltenheit mehr, sodass die Theaterferien nun notwendiger denn je erscheinen.

Von Christian Gampert |
    Seit Längerem schon geht das Gerücht um, das Theater, gerade das subventionierte, diene nicht dem Vergnügen und auch nicht einem, wie auch immer beschaffenen, Erkenntnisgewinn, sondern sei als eine Art Bußübung zu betrachten, der sich Zuschauer wie Ausübende in einem masochistischen Akt zu unterwerfen hätten. So wie manche früher zum Meister nach Poona pilgerten oder zum Selbsterfahrungs-Wochenende, so wie man sich zu Schrei- oder Schweige-Therapien oder zu bioenergetischen Übungen traf, so entrichtet man nun seinen Obolus an der Theaterkasse, um nach mindestens 8-stündiger Spieldauer, also einem ganzen Arbeitstag, nach Hause zu taumeln mit dem wohligen Gefühl, es sich nun einmal richtig gegeben zu haben …

    Für den Normalverbraucher haben die europäischen Gesellschaften sich auf eine mittlere Verweildauer von etwa zwei Stunden im Schauspielhaus geeinigt; aber auch das ist manchem Wirtschaftsführer, der die Gattin zur Kultur begleiten muss, viel zu viel. Vielleicht sollte man die erregenden Bilder im Theater friedlich schlafender Manager mal ins Netz stellen, um den Wert der Bühnenkunst für das Wirtschaftsleben zu würdigen. Auch schlafende Theaterkritiker gehören zum Alltag, wiewohl das hinterher die Fantasie zu beflügeln scheint.

    Für die Hardliner, die Hardcore-Konsumenten aber gibt es seit den 1970er-Jahren den Theater-Marathon, erfunden von Peter Stein zunächst mit diversen Schaubühnen-Projekten, dann mit dem 21-Stunden-Faust an zwei Tagen, letzthin, bei den Wiener Festwochen, mit einem düsteren, italienischsprachigen Dostojewski-Nachtmahr, den man auch um die Hälfte hätte kürzen können.

    Stefan Bachmann verabschiedete sich 2003 aus Basel mit einer achtstündigen Inszenierung von Paul Claudels "Der seidene Schuh", einem barocken Welttheater, woraufhin der Regisseur selber sich erst einmal auf Weltreise begab. In Norwegen, beim "Bergen Festival", gingen wir 2009 während der Aufführung von Ibsens "Wildente" ausgiebig spazieren und dann im Hafen Fish and Chips essen; nachts um halb drei wurde die Inszenierung von Vegard Vinge und Ida Müller dann vom Festivalleiter abgebrochen, weil die Splatter-Regisseure über den ersten Akt noch nicht hinausgekommen waren und sich nur noch wenige Zuschauer im Raum befanden.

    Die beiden norwegischen Exzentriker avancierten aber in diesem Jahr in Berlin zum Kultphänomen, als ihr "John Gabriel Borkman" zwölf Stunden dauerte, bis nachts um vier. Berlin hat offenbar erhöhten Bedarf, sich quälen zu lassen – obwohl, oder weil es angeblich so sexy ist. Ebendort, in Berlin, brachte Matthias Lilienthal zum Abschluss seiner Hebbel-am-Ufer-Intendanz den "Unendlichen Spaß" von David Foster Wallace an acht verschiedenen Spielorten zur Aufführung. Das Ganze dauerte 24 Stunden, der Spaß hielt sich in Grenzen.

    Gestern war ich im Münchner Marstall-Theater, einer Nebenspielstätte des Resi. Drei Premieren, von abends um sieben bis nachts um zwölf. Eigentlich sehr human. Am Tag zuvor fanden aber ebenfalls drei Premieren statt, die ich vorsorglich ausgelassen hatte. Motto der Veranstaltung war: Alle Regieassistenten dürfen jetzt mal inszenieren. Das sagt man auf den Flyern natürlich ganz anders: Es gehe in den Stücken um das Thema Hochstapelei und sofort.

    Das ist auch im übertragenen Sinne richtig. Es geht im Theater immer um Hochstapelei. Und um Hochleistung, ums Guinnessbuch der Rekorde. Wer hat den Längsten, wer kann am längsten. Wer quält wen am längsten. Jeder Regisseur ein Hochstapler, jeder Schauspieler ein Hochtöner. Jeder Zuschauer eine arme Sau. Der Schauspieler Robert Niemann kam die große Showtreppe runter und brüllte sich durch Heiner Müllers "Hamletmaschine", zuerst mit Liedermacher-Geschrammel, dann mit Hardrock-Gedröhn. Immer auf dem Weg zu der Einsicht: "Mein Drama findet nicht mehr statt". Das stimmt.

    Früher hieß es: Theater muss wie Fußball sein. Jetzt sagt die Mode: Theater soll wie Folter sein. Es muss mindestens im Sechserpack daherkommen. So geht die Saison zu Ende, und selten waren die Theaterferien notwendiger als jetzt. Möglicherweise könnte man auch die theaterfreie Zeit auf eine Rekordlänge erweitern: vielleicht bis Weihnachten.