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Langer Blick zurück

Jahrhundertelang war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation die prägende Kraft in Mitteleuropa - trotz Investiturstreit, Gegenpäpsten und Reformation. Ein Ende bereitete ihm erst Napoleon, der den Habsburger Franz II. vor 200 Jahren dazu zwang, in Wien die Kaiserwürde niederzulegen. Eine Doppelausstellung in Magdeburg und in Berlin zeigt die Geschichte des Reiches.

Von Christoph Schmitz |
    Fleißige Historiker haben ausgerechnet, wie lange dieser Abschnitt des christlichen Abendlandes gedauert hat, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, auch wenn es nicht von Anfang an so hieß. Es währte 844 Jahre, 6 Monate und 4 Tage. Also fast ein Jahrtausend lang versuchten Dutzende Kaiser und Hunderte Kurfürsten, Bischöfe, Landgrafen und Reichsstädte ein heterogenes Gebilde zwischen Rügen und Siena und Breslau und Metz zu gestalten. Bedingte Souveränität und Dezentralität galten für dieses komplexe politische System zwischen 962 und 1806.

    Zu einem Staat hat sich das Heilige Römische Reich nie entwickelt. Zu einem Nationalstaat erst recht nicht. Aber der Interessensausgleich und innere Frieden dieser multiethnischen, vielsprachigen und später zweikonfessionellen Gemeinschaft gelang über Generationen immer wieder aufs Glücklichste: mit Rechtsakten wie dem Reichskammergericht, der Goldenen Bulle, dem Ewigen Landfrieden und dem Religionsfrieden, wenn auch manchmal erst nach furchtbaren Gemetzeln. Und in dieser großen und zugleich kleinteiligen Völkergemeinschaft im Herzen Europas konnten vor allem die Künste und die Theologie und die Philosophie erblühen. So entstand eine in der Menschheitsgeschichte einmalige Kulturlandschaft, von der wir bis heute geprägt sind und zähren.

    Die Geschichte dieses Alten Reiches, wie es oft genannt wird, seine politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung wird nun erstmals in einer großen und faszinierenden Doppelausstellung vergegenwärtigt. Ein gewaltiges Unterfangen, das klugerweise auf zwei Schultern verteilt wurde. Den mittelalterlichen Teil von Otto dem Großen bis Maximilian I. hat das Kulturhistorische Museum Magdeburg übernommen. Dort hatte man schon vor wenigen Jahren mit einer Ausstellung über die Ottonen und Europa einen musealen Erfolg verbuchen können. Den neuzeitlichen Teil von 1500 bis zur Abdankung des Habsburgers Franz II. unter Napoleons Druck zeigt das Deutsche Historische Museum in Berlin. Beide Museen haben aus aller Welt die seltensten und erlesensten und auch bedeutendsten Goldschmiedearbeiten, Gemälde, Bücher, Urkunden, Waffen und Sakralgegenstände zusammengetragen: das 1356 erlassene "Grundgesetz" des Alten Reiches etwa, jene schon erwähnte Goldene Bulle, die die Wahl des Kaisers und seine Krönung regelte. Den goldenen Kopf des Friedrich Barbarossa mit seinem strengen imperialen Blick und dem sorgfältig gekräuselten Haupt- und Barthaar. Das schönste mittelhochdeutsche Liederbuch mit seinen zauberhaften Malereien, der Codex Manesse. Und die Rüstung Karls V. und die Abdankungsurkunde des letzten Kaisers.

    Aber auch unbekanntere Exponate sind zu sehen. Der purpurne Mantel eines Stauferkaisers zum Beispiel. Aus Samtseide gewirkt, mit Löwen bestickt – was auf die politische Macht römischer Cäsaren anspielte, in deren Nachfolge man sich sah. Und als philosophisches Gegenstück dazu der so genannte Karlsteppich: Karl der Große zwischen Seneca und Cato.

    Raum haben die Einzelstücke und individuelles Licht. Eingefügt sind sie in ein strenges Ausstellungskonzept. Die Geschichte des Reiches wird chronologisch erzählt, vertieft durch thematische Ergänzungen. Hauptstationen sind die Dynastien von den Ottonen, über die Salier, Staufer und Luxemburger bis zu den Habsburgern. Zusammen mit den prägnanten Einleitungstexten und Beschriftungen eine vorbildliche Schau, die zum Verweilen einlädt und neugierig macht auf vier Bände kluger historischer Essays und Dokumentationen. Doch die Berliner haben ihre Räume imposanter gestaltet als die Magdeburger: Eine kaiserliche Porträt-Galerie der Habsburger auf dunkelrotem Grund vor blauer Wand. Vielleicht etwas zu viel Glanz für eine nicht immer ganz so glanzvolle Zeit.

    Was wirklich fehlt, sind die Inbilder des Reiches - die Reichsinsignien: Reichsapfel, die Heilige Lanze, Kaiserkrone. Nach ihnen in Wien auch nur zu fragen, würde schon eine Staatskrise zwischen Österreich und Deutschland auslösen, meinte Hans Ottomeyer, Direktor des Deutschen Historischen Museums. Hitler hatte sie sich beim "Anschluss" angeeignet. Ihre Symbolkraft scheint ungebrochen, auch wenn das erste deutsche Reich sich aus dem Bewusstsein der Gegenwart ansonsten so gut wie verflüchtigt hat. Nach dem fatalen Untergang des zweiten Reiches, des deutschen Kaiserreichs, im Ersten Weltkrieg und des Dritten Reichs in Völkermord und weiterem Krieg war der Begriff des Reiches endgültig diskreditiert.

    Eine Geschichtsschau wie die aktuelle wäre vor 1989 und ohne europäische Integration undenkbar gewesen. Doch die Zeit scheint jetzt reif zu sein, um wieder wahrzunehmen, wie tief die Wurzeln unseres föderativen Systems und unserer Kulturlandschaft in die Vergangenheit zurückgreifen, aber auch wie groß die europäische Integrationskraft des Alten Reiches war.