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Langer Kampf gegen die Apartheid

Der Afrikanische Nationalkongress blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Anfangs waren es friedliche Demonstranten, die das Bild des ANC bestimmten, später radikalisierte sich die Bewegung. Die größten Errungenschaften des ANC jedenfalls sind unumstritten: Die Verabschiedung der legendären Freiheitscharta und die Überwindung der Apartheid .

Von Claus Stäcker | 08.01.2012
    Vor einem Jahr erlebte Sharpeville, eine knappe Autostunde südlich von Johannesburg, einen denkwürdigen Aufstand. Menschen warfen mit Pflastersteinen, errichteten Straßenbarrikaden, zündeten Müllberge an. 50 Jahre nach dem Massaker von Sharpeville, das die neue Geschichte Südafrikas, die Geschichte des Afrikanischen Nationalkongresses ANC so prägte, 50 Jahre nach ihrem Aufruhr gegen das weiße Apartheid-Regime gingen sie wieder auf Straße. Diesmal gegen die eigene, die schwarze Regierung, die seit 1994 die Macht innehat.

    Die Ortsfunktionäre des ANC, die Verwaltungschefs trauten sich nicht mehr auf die Straße, mehrere Polizisten wurden verletzt, eine Bibliothek ging in Flammen auf, ein Verwaltungsbüro. In den Kirchen, wie hier in der Ebenezer Church von Sharpeville, wurde wie einst in den Tagen des Widerstands gebetet - für Versöhnung. - Manchmal kommt es Madile Sepampuro vor, als wäre die Zeit stehen geblieben. 1960 war sie zehn Jahre alt, als das Massaker vor ihrer Haustür begann.

    "Als ich aufwachte an jenem Morgen sah ich die Leute vom Distriktbüro zur Polizeistation marschieren. Es waren viel Polizisten da, weiße und schwarze. Gegen Mittag war die Menschenmenge schon sehr groß, Flugzeuge tauchten auf, gepanzerte Fahrzeuge. Mein Vater war mitten drin. Die Alten warnten uns, dass wir nach Hause gehen sollten. Hier würde bald Blut fließen. Dann fingen sie an zu schießen, und wir sind weggerannt. Ich habe gesehen, wie mein Vater erschossen wurde, direkt hier vor der Polizeiwache. Er starb sofort, auch meine Schwester wurde getroffen, in den Bauch. Ihre ganzen Eingeweide guckten heraus. Aber wenigstens sie hat überlebt."

    68 werden erschossen, Hunderte verletzt, nur weil sie gegen die perfiden Passgesetze demonstrieren. Sharpeville wird zum Wendepunkt in der südafrikanischen Geschichte, zum Wendepunkt in der Geschichte des Afrikanischen Nationalkongresses. Denn der bis dahin friedfertige ANC radikalisiert sich jetzt. Der Politologe und Vizekanzler der Universität Johannesburg, Professor Adam Habib:

    "Der ANC war damals nicht nur eine anti-militante, sondern auch noch eine erzkonservative Bewegung. Die Gründer haben sich als loyale Subjekte des Empire gesehen. Nicht im Leben wäre ihnen eingefallen, sich mit marxistischen Bewegungen einzulassen, die damals auch auf die Bühne traten."

    1925 wird Nkosi Sikel i'Afrika - Gott segne Afrika, die Hymne des Afrikanischen Nationalkongresses. Sie ist heute - mit angepasstem Text - die Nationalhymne Südafrikas. Doch mit den Gesängen verändert sich noch lange nicht die Bewegung. Erst als Südafrika die Wirtschaftskrise spürt und 1948 das einfache weiße Volk, die Buren, die Nationalpartei wählt, ändert sich alles.

    "Unsere Politik wird in der Sprache Afrikaans mit dem Wort Apartheid beschrieben, was all zu oft missverstanden wird. Man könnte es ebenso gut beschreiben als eine Politik der friedlichen Nachbarschaft."

    Die "gute Nachbarschaft" des Apartheid-Vordenkers und Premierminister Hendrik Verwoerd, der in Leipzig studiert hatte, nimmt Anleihen direkt bei den Nazis. Professor Adam Habib:

    "Rassismus war kein südafrikanisches Phänomen, ganz Westeuropa war 20, 30 Jahre mit dem Nationalsozialismus konfrontiert und die NP war die Fortsetzung davon. Die Nationale Partei war genauso ein Produkt ihrer Zeit wie der ANC. Natürlich, in dem Maße wie das weiße Südafrika in Richtung Apartheid marschierte - auch wenn es die Rassentrennung ja schon vorher gab - so sehr marschierte der ANC nun in Richtung Massenmobilisierung."

    Ein junger Wilder trat mit der ANC-Jugendliga an die Spitze, löste eine parteiinterne Palastrevolte aus: Nelson Mandela.

    Mit ihm traten andere kluge Heißsporne auf die Bühne: Walter Sisulu, Oliver Tambo. Während die Apartheid-Regierung ein Rassengesetz nach dem anderen verabschiedet, sammeln sich in Kliptown, Soweto, unter Führung des ANC die Bürgerrechtsbewegungen zum "Kongress des Volkes" und verabschieden die legendäre Freiheitscharta, die bis heute das Fundament der ANC-Politik bildet. - Die 50er-Jahre sehen die Geburt des passiven Widerstands, Passverbrennungen, Boykott-Kampagnen, Demonstrationen, Protestmärsche. Und dann passiert Sharpeville. Am 21. März 1960. Augenzeugin Elizabeth Chabeli, damals zehn Jahre alt, hebt wortlos ihre Hand. Ihre Geste sagt mehr als Worte. Seit dem Massaker fehlt der Ringfinger links.

    "Ich spürte, wie etwas gegen meine Hand peitschte. Hier vor der Polizeiwache wurde ich an der Hand getroffen, ich sah, wie ich überall blutete, und bin weggerannt. Ein Mann hat mich gesehen und fragte, wo ich wohne. Aber ich war so verwirrt, dass ich es ihm nicht sagen konnte. Er brachte mich in ein Auto und fuhr mich ins Krankenhaus. Ich wurde immer wieder ohnmächtig und wusste nicht, was vor sich ging. Sie haben mich behandelt und verbunden und als ich wieder zu mir kam, wurde mir bewusst, dass es meinen Ringfinger nicht mehr gab."

    Der ANC ruft zum Generalstreik. Albert Luthuli, der weise, aber vorsichtige Vorsitzende, verbrennt nun auch seinen Ausweis. Das weiße Regime ruft den Notstand aus. Der ANC und der radikalere Panafrikanische Kongress PAC werden verboten. Ungesetzliche Organisationen sind sie fortan, 30 Jahre lang. ANC und Kommunistische Partei schließen in Durban einen Geheimpakt, gründen unter Führung Nelson Mandelas Umkonto weSizwe, Speer der Nation, MK, den bewaffneten Flügel des ANC. Mandela ist illegal außer Landes, wird militärisch geschult. Kurz vor Weihnachten gehen vor Regierungsgebäuden die ersten Bomben hoch. Robben Island, die unwirtliche Atlantikinsel vor Kapstadt, wird als Gefängnisinsel für politische Häftlinge vorbereitet.

    ANC-Chef Albert Luthuli bekommt in Oslo als erster Afrikaner den Friedensnobelpreis. Aber dann wird Nelson Mandela in Howick, nahe Durban verhaftet, verraten von einem CIA-Agenten. Fünf Jahre Haft. Es folgt der Rivonia-Prozess gegen fast die gesamte MK-Spitze. Walter Sisulu, der Vater von Thabo Mbeki, Govan Mbeki, Ahmed Katrada, Dennis Goldberg, Lionel Bernstein - und der bereits inhaftierte Mandela. Mandela verteidigt sich selbst und hält am letzten Prozesstag seine berühmte Rede.

    "Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft. Ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe dem Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft gedient, in der alle Menschen harmonisch zusammenleben mit den gleichen Lebenschancen. Das ist ein Ideal, für das ich zu leben hoffe. Es ist ein Ideal, für das ich aber, wenn es sein muss, auch zu sterben bereit bin."

    Es wird lebenslänglich, nicht der Strang. Der ANC ist führungslos, viele fliehen ins Exil. Andere bauen mühsam neue Zellen auf. Noch hat die Bewegung längst nicht die Sympathien aller Schwarzen gewonnen. Aber die Exilführung unter Oliver Tambo spürt in den 60er-Jahren viel Sympathie - in Ost und West. Und trifft die richtige Maßnahme.

    "Sie macht Nelson Mandela zur Symbolfigur des Widerstands. Weltweit. Free Nelson Mandela, so einfach. Robert Sobukwe vom radikalen PAC war inzwischen gestorben. Und Mandela wurde zur Ikone. Die Mandela-Konzerte. Die Popkünstler. Das hat das Image des ANC radikal verändert. Aus Mandela dem militanten Kämpfer wurde Mandela der Staatsmann."

    Nunmehr ist der ANC der offizielle Gegenspieler des weißen Apartheidregimes. 1976 wird der zweite große Wendepunkt. Der Schüleraufstand von Soweto. Spontan boykottieren sie die Schule, weil plötzlich Afrikaans, die Herrensprache der Buren, zur Unterrichtssprache erhoben wird. Die Polizei schießt auf wehrlose Kinder. Ein Ruck geht durchs das Land, durch die Welt. Das gerade im Westen vielerorts geduldete Apartheidregime ist zu weit gegangen. Den Widerstand führt längst nicht mehr Nelson Mandela - dafür reichen die aus dem Gefängnis geschmuggelten Botschaften nicht.

    "Mandela hat zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss, es ist Oliver Tambo, der den Widerstand leitet. Mandela wurde zum Gesicht des Widerstands, aber Tambo war das Herz."

    Das Ende des Kalten Krieges bringt den Durchbruch. Der ANC verabschiedet sich von allen kommunistischen Ideen und Einflüssen. Die Apartheidregierung erkennt, dass sie intern gegen die schwarzen Mehrheit, von außen isoliert, auf Dauer keine Chance hat. 1990 gibt Präsident Frederik de Klerk endlich nach. Hebt das Parteienverbot auf. Und lässt Mandela ohne Vorbedingungen frei. Lange, zähe Verhandlungen beginnen, bis man sich auf eine Übergangsverfassung und freie Wahlen mit Stimmrecht für alle einigt. Mehrfach steht das Land am Rande eines Bürgerkrieges. Aber der Radikale von einst, Nelson Mandela, ist altersweise und milde geworden. Und mit ihm ein bisschen auch der ANC. 1994 wird Mandela Präsident.

    Die große Angst vor Enteignungen und sozialistischen Experimenten erweist sich als unbegründet. Der Afrikanische Nationalkongress ist ein Produkt seiner Zeit, sagt Professor Habib.

    "In den 60er-Jahren wäre das sicher anders ausgegangen. Dann hätte es mit Sicherheit geheißen, erst erobern wir das politische Königreich und dann das ökonomische. Ein Ein-Parteien-Staat hätten fast alle im ANC legitim gefunden. Aber Anfang der 90er gab es darüber nicht mal mehr eine Debatte. Es war nicht mehr legitim! Und so ist die Mehrparteiendemokratie bis heute lebendig, auch wenn die Opposition nur 16 Prozent hat, mit wachsender Tendenz zwar, aber eben noch nicht mehr. Wir haben ein Macht und Gegenmacht-Gefüge, wir haben unsere Lektion gelernt."

    3,7 Millionen Billighäuser sind seit 1994 gebaut, 7 Millionen Stromanschlüsse gelegt worden. 15 Millionen Menschen bekommen Sozialhilfe. 2005 tritt sogar die ehemalige Apartheidpartei NNP dem ANC bei. Was für eine Volte der Geschichte. - Der ANC gewinnt weiter die Wahlen. Aber er ist behäbig geworden, selbstgefällig. Die Armut ist nach 17 Jahren Macht genauso hoch wie zu Apartheidzeiten. Eine regierungsnahe Elite bereichert sich ohne Skrupel. Deshalb gehen die Leute wieder auf die Straße. Und die Opposition ist hoch erfreut.

    "Korrupte Führer machen arme Menschen nur noch ärmer, rief Oppositionsführerin Helen Zille im jüngsten Wahlkampf. Der ANC stehe für Korruption, und korrupte Führer gehörten ins Gefängnis."

    Wie eine messianische Erscheinung wurde 2008 die Gründung der Volkskongress-Partei COPE gefeiert. Der vorbestrafte ehemalige ANC-Kämpfer Alan Boesak genoss, wieder auf der Bühne zu stehen.

    "Auf unseren Träumen ist herumgetrampelt worden. Unsere Hoffnungen auf Gerechtigkeit haben sich nicht erfüllt. Wir sind immer noch nicht ein Volk! Wir haben noch immer kein vereintes, nicht-rassistisches Südafrika, von dem wir geträumt und für das wir gekämpft haben."

    COPE präsentierte sich als der bessere, der wahre ANC. Und kam damit vor allem bei jungen und gebildeten Wählern an.

    "Wir müssen von der gegenwärtigen Situation erlöst werden, die Jungs da oben sind selbstgefällig und träge geworden, sie bedienen sich selbst und brauchen mehr Druck. Das Volk soll regieren, aber de facto treffen ein paar Wenige alle Entscheidungen selbst. Staat und Partei sind eins geworden, es ist Zeit für einen Wandel."

    Acht Prozent gewinnt die ANC-Abspaltung auf Anhieb. Seither hat sich die Führung derart zerstritten, dass sie sich nur noch vor Gericht trifft. Die wichtigsten Integrationsfiguren, auch der ehemalige Kirchenführer Alan Boesak, sind längst wieder ausgetreten. Was bleibt, ist die Unzufriedenheit. Elizabeth Chabeli, das kleine Mädchen von 1960, dem beim Sharpeville Massaker eine Polizeikugel den Ringfinger zerschmetterte, Elizabeth Chabeli wundert sich heute über ihren ANC.

    "Wir heißen wirklich gut, was der ANC seit 1994 versucht hat. Es gibt Freiheit und Gleichberechtigung jetzt, soziale Errungenschaften. Aber insgesamt hat unsere schwarze Regierung nicht erreicht, was wir erwartet haben. Ihre Macht kommt uns nicht zu Gute. Es gibt keine Transparenz in der Regierung. Warum gibt es denn so große soziale Proteste in Sharpeville und anderen Brennpunkten? Die Leute sind unzufrieden, vor allem die Jungen. Sie machen einige Projekte hier, ja. Aber dafür kommen wildfremde Leute her."Sie beziehen unsere Kinder nicht mit ein, sie schaffen keine Arbeitsplätze für uns. Es sind immer Fremde, die die Jobs bekommen."

    Die Sharpeville-Überlebenden und ihre Familien sind Spiegelbilder dieses Versagens. Kinder sind früh gestorben, oder arbeitslos geblieben, bis heute. Nicht mal ein Studium hat ihnen genutzt. Im besten Fall hängen sie noch am Tropf des Ehepartners. Und sie selbst? Schlagen sich als Straßenverkäuferinnen durch. Süßigkeiten für 50 Cent - 5 Eurocent. Madile Sepampuro:

    "Wir sind überhaupt nicht zufrieden. Es gibt so schöne Projekte, nur nicht bei uns. Schau dich doch um, Entwicklung sieht anders aus. Sie haben es nicht vermocht, unseren Kindern Arbeit zu geben. Wir gehen immer noch hungrig ins Bett. Wir sind nicht zufrieden, mit dem, was unsere Funktionäre leisten."

    Für Professor Habib ist das alles völlig normal. So ist es in Indien passiert, in Ägypten, in Tansania. in Mexiko. Der ANC wundere sich, wenn sich die Armen von ihm abwendeten. Dass sich immer wieder Fraktionen abspalteten.

    "Wir werden mehr davon erleben. Heißt das, der ANC verliert bald die Macht, nein! Aber es wird mehr interne Kämpfe geben, Krisen um die Nachfolge an der Spitze - und all das wird die Opposition immer mehr stärken in den nächsten 10, 15 Jahren. Bis zu dem Augenblick, da der ANC seine Macht tatsächlich verliert. Und er wird die Macht verlieren, egal was Jacob Zuma sagt. Denn so ist nun mal die Natur der Geschichte."

    Bisher gelang es dem ANC, jede Opposition als ein Komplott ewig gestriger Weißer erscheinen zu lassen. Dabei fürchtet man die taffe weiße Oppositionschefin Helen Zille von der Democratic Alliance DA durchaus. Sie regiert die Provinz Westkap und jeder Erfolg trifft den ANC. Und zu allem Überdruss sitzt im Parlament mit der 31-Jährigen Lindiwe Mazibuko seit kurzem auch noch eine junge scharfsinnige und auch noch schwarze Frau an der Spitze der DA-Fraktion. Ihre Geburtstagswünsche sprechen den Menschen von Sharpeville aus dem Herzen, den ANC aber treffen sie ins Herz.

    "Der ANC hat sich soweit entfernt von seinen Wurzeln, dass er es kaum noch verdient, den Namen ANC zu führen. Deshalb ist mein Geburtstagswunsch, dass sich jene, die sich noch an die Traditionen und den Kern des ANC gebunden fühlen, alle anderen daran erinnern mögen. Der ANC von heute ist nicht mehr der wahre ANC. Vielleicht wird 2012 ja zum Jahr der Rückbesinnung auf die alten Werte. Allein mir fehlt der Glaube. Denn beim ANC dient die Macht nur dem eigenen Interesse."