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Langsame Annäherung

Van in Ostanatolien war Jahrtausende lang religiöses und kulturelles Zentrum der Armenier. Nach 100 Jahren kehren die einst vertriebenen armenischen Christen zurück, um einen Gottesdienst zu feiern. Die Zeichen stehen auf Versöhnung.

Von Susanne Güsten | 18.09.2010
    Aufbruchsstimmung im Sommerhaus der Familie Celiktas in Selimbey am Stadtrand von Van. Vorzeitig zieht die kurdische Familie in diesem Jahr zurück in die Stadtmitte; das großzügige Sommerquartier unter Obstbäumen wird für Gäste hergerichtet. Familienvater Fevzi Celiktas führt durch die Räume: das Schlafzimmer mit weiß bezogenen Betten, das Wohnzimmer mit zwei knallroten Ausziehsofas, das Bad, die Küche.

    "Hier ist die Küche, die haben wir auch für die Gäste hergerichtet."

    Aufgekratzt laufen die Kinder durch das frisch geputzte Haus. Fevzi Celiktas zieht die Türe hinter sich zu.

    "Unsere Kinder wissen nichts davon. Sie wissen nur, dass Gäste kommen - Menschen, die früher hier gelebt haben. Mehr wissen sie nicht. Wir erzählen ihnen nichts davon, dass wir uns einmal gegenseitig aufgehängt und abgeschlachtet haben."

    Von den Armeniern spricht der kurdische Kaufmann: von der Volksgruppe, die bis zu den Massakern an den Armeniern im untergehenden Osmanischen Reich fast die Hälfte der Bevölkerung von Van ausmachte und die es seither hier nicht mehr gibt. Erstmals seit ihrer Vertreibung aus Ostanatolien im Ersten Weltkrieg kommen die Armenier an diesem Wochenende zurück nach Van. Tausende armenische Besucher werden am Sonntag zum Gottesdienst in der Heilig-Kreuz-Kirche von Van erwartet - dem ersten armenischen Gottesdienst in der Stadt seit fast einhundert Jahren. Wie werden sie dort wohl aufgenommen?

    In den Redaktionsräumen der Lokalzeitung "Sehrivan" zieht Chefredakteur Aziz Aykac einen Zettel aus der Brusttasche seines Anzuges und blickt durch dicke Brillengläser auf die jüngsten Zahlen, die er dort notiert hat.

    "Wir können derzeit 5213 armenische Besucher in privaten Gästezimmern unterbringen, so viele Betten haben die Bewohner von Van bisher angemeldet. Weil die Hotelbetten der Stadt längst ausgebucht sind, hat unsere Zeitung diese Kampagne gestartet und die Bevölkerung aufgerufen, den Armeniern ihre Häuser zu öffnen. Mehr als tausend Familien haben sich darauf gemeldet und diese Plätze angeboten. Die Leute wetteifern geradezu darum, sie willkommen zu heißen."

    Auch im Gouverneursamt von Van laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Gouverneur Münir Karaloglu, ein Vertrauter von Ministerpräsident Erdogan und seit einem Jahr als Statthalter Ankaras in Van, hat die Genehmigung für den Gottesdienst von der Regierung erwirkt und organisiert auch die Unterbringung:

    "Wir haben alle Beamtenwohnheime für die Gäste freigemacht. Wenn das nicht reicht, werden wir auch die Studentenwohnheime nutzen, um die Besucher unterzubringen. Und wenn das auch nicht reicht, dann greifen wir auf die privaten Gästezimmer zurück, die Tausende Einwohner auf den Appell der Lokalpresse hin angeboten haben."

    Dass die Bevölkerung von Van so enthusiastisch auf den Besuch reagiert, überrascht den Gouverneur nicht.

    "Ich wusste, dass die Bevölkerung dieser Stadt keine Ressentiments hat. Es gab natürlich anfangs Kritiker, die vor Protesten gewarnt haben, aber das ist nicht eingetreten, im Gegenteil: Die Leute wollen zeigen, dass sie die Ereignisse der Geschichte hinter sich lassen wollen."

    Die Ereignisse der Geschichte, damit ist hier der armenische Aufstand von Van im April 1915 gemeint, als russische Truppen von Osten her auf das Osmanische Reich vorrückten und armenische Partisanen sich auf ihre Seite schlugen. Der Aufstand, obgleich blutig niedergeschlagen, lieferte der osmanischen Regierung den Vorwand zur Vertreibung der Armenier aus ganz Anatolien; Hunderttausende Angehörige dieser Minderheit wurden dabei massakriert. Bis heute unterhalten Armenien und die Türkei keine diplomatischen Beziehungen, die Grenze zwischen den beiden Ländern ist geschlossen. Das müsse sich ändern, sagt Gouverneur Karaloglu:

    "Wir wollen, dass die Beziehungen endlich auftauen. Dieses Ereignis zeigt doch, dass es die politischen Probleme, über die so viel geredet wird, zwischen den Völkern eigentlich gar nicht mehr gibt. Vielleicht kann ja dann der Druck von unten dazu führen, dass sich die Beziehungen normalisieren. Hoffentlich kann dieses Ereignis einen Anlass dazu bieten."

    So pragmatisch und realpolitisch will Mustafa Aladag, der eigentliche Initiator der Willkommenskampagne, seine Initiative gar nicht verstanden wissen. Auf Facebook hatte der beleibte Rechtsanwalt den ersten Aufruf gestartet, die Armenier in Van willkommen zu heißen. Die Facebook-Gruppe hat heute an die tausend Mitglieder und eine ganz bestimmte Absicht, wie Aladag erklärt:

    "Das Gouverneursamt und die Behörden unterstützen die Kampagne zwar, aber unsere Motive sind verschieden. Die Behörden sehen das als eine Art Tourismuskampagne, sie wollen die Stadt in einem positiven Licht zeigen. Wir aber, meine Freunde und ich, wir haben diese Initiative ergriffen, um hundert Jahre nach dem Völkermord zu bekunden, wie leid es uns tut, dass das geschehen ist und dass unsere Vorfahren das getan haben."

    Anders als die meisten seiner Mitbürger schleicht der massige Mann nicht auf Zehenspitzen um das Wort Völkermord herum.

    "In den mündlichen Überlieferungen der Kurden sind die Erinnerungen an den Völkermord an den Armeniern sehr lebendig, denn sie waren ja unmittelbar dabei. Fast jeder Kurde in Van wird ihnen auf die Frage nach den Armeniern sagen können: 'Mein Großvater hat fünf Armenier getötet' oder 'meine Großmutter war Armenierin' oder 'mein Feld hat früher Armeniern gehört'. Die meisten Kurden wissen von dem Völkermord an den Armeniern und erkennen ihn auch als solchen an."

    Aladag und seine Freunde wollen es deshalb nicht mit Gesten der Gastfreundschaft bewenden lassen, wenn die Armenier nun kommen, sie wollen einen Schritt weiter gehen:

    "Wir wollen sie am Flughafen begrüßen, und zwar mit einem Transparent, auf dem wir uns offiziell entschuldigen wollen dafür, dass unsere Vorfahren vor hundert Jahren an diesen Massakern beteiligt waren. Wir wollen ein Transparent machen, auf dem das steht, auf Englisch, Türkisch, Kurdisch und Armenisch."

    So weit würden sich freilich noch immer die wenigsten Menschen in Van vorwagen. Sehr viele Bewohner der Stadt denken aber so wie Fevzi Celiktas, der in seinem frisch geputzten Sommerhaus am Stadtrand über seine Beweggründe nachdenkt:

    "Wir wollen die Enkel dieser Menschen kennenlernen, die mit unseren Großvätern das Brot gebrochen haben. Und wir wollen, dass diese Blutfehde endlich ein Ende hat. Das ist alles passiert, ja, aber es muss nun vorbei sein. Diese Feindschaft lastet auf mir, ich empfinde sie als eine Schande."