Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Langsame Eroberung Englands?

Anthropologie. - Im 5. Jahrhundert nach Christus fielen die Angeln und Sachsen in Britannien ein und etablierten sich trotz Minderzahl. Heute trägt die Hälfte der britischen Männer das Y-Chromosom eines germanischen Urvaters in sich und dass, obwohl Angeln und Sachsen nie mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten.

Von Michael Stang | 10.11.2008
    Wie kann man die angelsächsische Dominanz im britischen Genpool erklären? Für Mark Thomas vom University College London blieb nach populationsgenetischen Simulationen, historischen und archäologischen Recherchen nur eine mögliche Erklärung übrig, warum sich die Germanen genetisch gegen die Briten durchsetzen konnten: mit Hilfe eines rassistischen Gesellschaftssystems.

    "Es gab verschiedene Gesetzestexte, allem voran das "Gesetz von Ine", das je nach ethnischer Zugehörigkeit die gleichen Straftaten juristisch unterschiedlich wertete. Bei einer Tötung eines Angelsachsen erwartete den Täter eine fünfmal höhere Strafe als bei der Tötung eines Briten. Ein solcher ungleicher sozialer Status schlägt sich in allen Bereichen nieder. Dann kommt es auch zu demographischen Verschiebungen und ermöglicht, dass sich Einwanderer genetisch in einer Population derart manifestieren können."

    Ohne ein striktes Gesellschaftssystem wie Apartheid würde heute nicht jeder zweite Brite ein germanisches Y-Chromosom tragen, folgert Thomas. Wie nicht anders zu erwarten, ließ heftige Kritik nicht lange auf sich warten. John Pattison von der University of South Australia präsentierte kurz darauf im gleichen Journal - in den Proceedings der Royal Society – eine Gegenstudie. Der Gesetzestext von Ine sei keine Benachteiligung der britischen Ureinwohner gewesen, sondern eine Art Anreiz oder Druckmittel, sich die germanischen Lebensformen schnell anzueignen. Das genetische Gleichgewicht zwischen Germanen und Briten sei einzig und allein auf ein eine permanente Zuwanderung zurückzuführen.

    "Die germanischen Völker sind seit jeher nach England gekommen, das kann man hochrechnen. Ausgehend von der britischen Bevölkerung im Jahr 2001 habe ich die Wachstumsraten und den Einfluss der Zuwanderer berechnet. Ich komme zu dem Ergebnis, dass Mark Thomas falsch liegt. Man kann die heutige genetische Situation der Briten simulieren, ohne zwangsläufig von einem Apartheidsystem auszugehen."

    Pattisons Vermutung zufolge müssen 50 Prozent aller heutigen Inselbewohner von überall auf der Welt zugewandert sein. Im Gegensatz zu Mark Thomas geht er nicht davon aus, dass sich von einer Einwanderwelle aus die germanische Gruppe etablieren konnte. Pattison sieht damit auch die vermuteten Zwangsehen britischer Frauen mit germanischen Männern widerlegt.

    "Ich weiß nichts von irgendwelchen Zwangsheiraten. Es gab zwar Mischehen, aber die beruhten meiner Meinung nach nicht auf Zwang und meinen Hochrechnungen zufolge braucht es das auch gar nicht. Ich denke, dass viele Argumente von Mark Thomas erhebliche Schwachstellen aufweisen. Es ist unwahrscheinlich, dass es ein Apartheidsystem in ganz England gegeben hat – allein wenn man sich die verschiedenen Stämme und die lange Zeit anschaut. Für mich klingt das nicht nach der Wahrheit."

    Pattison zufolge ging die von ihm propagierte permanente Einwanderung nach Britannien relativ friedlich zu – ohne Apartheid und ohne Gefechte. Dies bezweifeln allerdings nicht nur Genetiker, sondern auch Historiker und Archäologen. Für ein friedliches Szenario war die Zeit schlicht zu kurz, um ein solches massives Umkrempeln der Bevölkerung zu erreichen. Mit den neuen Interpretationen und der Abwertung seiner eigenen Studie konfrontiert geht Mark Thomas gelassen um.

    "Es wäre natürlich ein Leichtes John Pattisons Studie Detail für Detail zu kritisieren und zu fragen, wie er überhaupt zu diesen Ergebnissen gekommen ist, aber das führt an der Sache vorbei. Er behauptet, dass wir sämtliche Einwanderungen aus der ganzen Welt eingerechnet haben. Das ist schlicht falsch und außerdem bei unserer Frage irrelevant. Bei unserer Studie ging es allein darum hochzurechnen, wie groß der Einfluss der Einwanderer aus dem kontinentalen Nordwesteuropa war."

    Die Immigration für ganz Britannien in einem Modell darzustellen, sei kaum möglich, sagt Mark Thomas, dazu sei der Sachverhalt viel zu komplex. Einer weiteren Debatte mit Pattison wäre er jedoch nicht abgeneigt – im Gegenteil.