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Langsame Eskalation

Von 1992 bis 1995 dauerte der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Er begann, als die Jugoslawische Volksarmee den Flughafen in Sarajewo besetzte und bosnische Muslime, Serben und Kroaten für ihre widerstreitenden Interessen keinen Kompromiss mehr fanden. Etwa 100.000 Menschen kostete er das Leben.

Von Norbert Mappes Niediek | 04.04.2012
    "Irgendwie hat meine Mutter dann gesagt, ja, du fährst nach Belgrad, bis diese Abi-Feier stattfindet, also so zwei Wochen oder zehn Tage und dann kommst du zurück und dann warten wir, bis sich das alles irgendwie beruhigt hat. Und irgendwie – man braucht diese Ausrede, und in dem Moment, wo ich dann aus dem Haus rausging, wusste ich: Ich komme nicht zurück","

    erinnert sich die damals 18-jährige Abiturientin Armina Galijas, die in Banja Luka lebte, der zweitgrößten Stadt Bosnien-Herzegowinas, und die sich heute als Historikerin mit dem Geschehen von damals beschäftigt. Von dem Krieg mit seinen hunderttausend Toten war im Frühjahr 1992 vorerst nur eine Spannung und eine böse Ahnung zu spüren. Kriegserklärung, gab es keine, auch keinen spektakulären ersten Schuss. Am späten Abend des 4. April besetzte eine Einheit der bosnisch-serbischen Armee zum ersten Mal den Flughafen von Sarajevo, in den beiden Tagen darauf auch alle Straßen. Noch wusste man nicht, dass die Hauptstadt mit ihrer halben Million Menschen von nun an – mit kurzen Erholungsphasen – dreieinhalb Jahre lang für den normalen Verkehr nach außen abgeschnitten sein würde. Das Leben wurde mit den Bedrohungen, der Gefahr und der schlechten Versorgung zunehmend unerträglich.

    Der Krieg kam; niemand wollte ihn. Noch am Tag nach der Besetzung fand in Sarajevo eine Friedensdemonstration gegen die Anführer der nationalen Parteien statt, gegen den Serben Radovan Karadzic, aber auch gegen den muslimischen Staatspräsidenten Alija Izetbegovic statt. Armina Galijas:

    ""Es schien mir das alles total fern zu sein. Es schien mir, ein bisschen lächerlich zu sein. Weil, die hatten Tito-Bilder dabei, die hatten rote Fahnen dabei, und die waren gegen Nationalisten. Die haben verlangt, dass Karadzic und Izetbegovic weggehen. Aber wer kommen soll, also da gab es keine richtigen Vorschläge."

    Es war ein Krieg, den zwar niemand wollte, den aber auch niemand verhinderte. Drei große Volksgruppen lebten und leben noch heute in dem Land mit seinen vier Millionen Einwohnern: die muslimischen Bosniaken, die Serben und die Kroaten. Keine von ihnen hält eine absolute Mehrheit, aber jede hatte andere Interessen. Wenn es darum ging, ob Bosnien beim zerfallenden Jugoslawien bleiben sollte, standen Bosniaken und Kroaten gemeinsam gegen die Serben. Ging es aber um Bosnien als selbstständigen Staat, waren die Bosniaken allein; Serben und Kroaten wollten die Aufteilung auf die Nachbarländer Serbien und Kroatien. Und keiner konnte nachgeben, sagt der Balkan-Historiker Florian Bieber:

    "Jeder hatte seinen Preis für den Frieden, und der war zu hoch für die andere Seite."

    Das zusammenwachsende Europa wollte sich erstmals als Friedensstifter bewähren und riet den Bosniern, eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit abzuhalten.

    "Das war aus meiner Sicht ein strategischer Fehler, weil klar war, dass in ein
    em Referendum die Mehrheit entscheidet und das eine Minderheit keine Mitsprache hat, und es war klar, dass in Bosnien damals die kroatische und muslimische Bevölkerung eine Mehrheit stellen und damit über die Zukunft Bosniens entscheiden können und dass die Serben ausgeschlossen bleiben. Und das hat natürlich die Notwendigkeit, einen Kompromiss zu finden, sehr stark reduziert in Bosnien."

    Als alle genügend Fehler gemacht hatten, blieb nur noch der Krieg. Einen großen Masterplan für das Geschehen, wie damals viele dachten, gab es nicht.

    "Es gab viele Pläne und viele Fantasien von politischen Parteien in Bosnien und in den Nachbarstaaten, gerade in Serbien, aber auch in Kroatien, aber ich glaube, der Kriegsausbruch war die Konsequenz von gegenseitig inkompatiblen Plänen und Vorstellungen, die langsam eskaliert sind, und es gibt da viele Verantwortliche. Man kann sich deren Pläne anschauen und kann sehen: Ja, es gibt tolle Ideen, was man – sei es ein Großserbien oder was auch immer – planen sollte, aber das war nicht die wirkliche Planungsrealität der meisten politischen Akteure. Die meisten politischen Akteure haben reagiert."

    Daran hat sich auch zwanzig Jahre später nichts geändert, meint der Philosophie-Professor Miodrag Zivanovic. Der ethnische Hass war nicht die Ursache, sondern ist vielmehr die Folge des Krieges, und nachträglich gibt der Hass dem Krieg einen Sinn: Sind die Erinnerungen an die Gräuel, die ethnischen Säuberungen zu schlimm, dann kann man in der Zukunft nicht mehr zusammenleben.

    " Den geringsten Hass gab es noch an der Front. Dort war der Hass nicht groß. Man schaute zu, dass man am Leben blieb, nicht umkam. Aber in den Städten, dort also, wo es keinen physischen Krieg gab, da hat der Hass Wurzeln geschlagen und sich in der Gesellschaft eingenistet. Es gibt eine sozialwissenschaftliche Untersuchung, die zeigt, dass heute, 20 Jahre nach dem Krieg, die ethnische Distanz größer ist als während der Kriegsjahre."