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Langsames Licht

Normalerweise ist Licht sehr flott unterwegs: Mit 300.000 Kilometern pro Sekunde rast es durch den luftleeren Raum. Doch der kosmische Temporekord gilt nur im Vakuum. In Wasser, Glas und anderen Medien breiten sich Lichtwellen gemächlicher aus. Um herauszufinden, wie stark sie sich abbremsen lassen, greifen Forscher seit 10 Jahren tief in die optische Trickkiste.

Von Ralf Krauter | 22.11.2009
    Wir ließen das Dorf hinter uns und folgten den schwindelerregenden Serpentinen der Straße in ein höher gelegenes Land von langsamem Glas. Ich hatte die Farmen nie zuvor gesehen und fand sie zunächst etwas unheimlich – ein Eindruck, den Phantasie und äußere Umstände verstärkten.

    Ich hatte die Geschichte vom langsamen Glas schon oft gehört, ohne dass ich das Funktionsprinzip je verstanden hätte. Ein Bekannter mit wissenschaftlicher Ausbildung erklärte mir einmal, ich müsse mir das Ganze wie ein Hologramm vorstellen, dessen Bildinformation man ohne kohärente Laserstrahlen auslesen könne.


    "Langsames Licht – das ist die Fähigkeit, die Geschwindigkeit eines Lichtpulses kontrolliert zu verändern. So dass es sich in einem bestimmten Material viel langsamer ausbreitet als im Vakuum."

    Das Material zwinge einfach alle Photonen, die hindurch flögen, auf Spiralbahnen um jedes seiner Atome. Diese für mich völlig unverständliche Erklärung überzeugte mich einmal mehr davon, dass ein technisch unbegabter Kopf wie meiner sich weniger mit Ursachen befassen sollte als mit Wirkungen. Die aus der Sicht des Durchschnittsmenschen wichtigste Wirkung von langsamem Glas ist, dass Licht sehr lange braucht, um eine Scheibe zu durchdringen.

    Im Jahr 1966 veröffentlichte der nordirische Science-fiction-Autor Bob Shaw eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Licht vergangener Tage", "Light of Other Days". Darin spielt "langsames Glas" eine Schlüsselrolle: Ein futuristisches Material, durch das man in die Vergangenheit blicken kann. Licht, das Scheiben aus langsamem Glas durchquert, braucht dazu Monate, Jahre oder Jahrzehnte. 1966 war solch ein Material Science Fiction. Doch die Zeiten ändern sich.

    "Wir konnten demonstrieren, dass wir einen Laserpuls in einem handelsüblichen Glasfaserkabel stark abbremsen können."

    Ein Material, in dem sich Licht so langsam fortbewegt, dass es darin förmlich eingefroren wird. 40 Jahre nachdem Bob Shaw diese Vision zu Papier brachte, gibt es tatsächlich kleine Schritte zu ihrer Verwirklichung. Slow light, "langsames Licht" - so haben Physiker das Forschungsgebiet getauft. Einer der Experten ist Daniel Gauthier von der Duke University in Durham, im US-Bundesstaat North Carolina. 2007 gelang es dem Physikprofessor, einen Laserpuls in einer Glasfaser komplett anzuhalten und kurz darauf wieder auf die Reise zu schicken. Stop-and-Go im Lichtverkehr; Kommunikationstechniker wurden hellhörig.

    "Für die optischen Signale auf den Datenautobahnen haben wir bis heute nichts, was dem Arbeitsspeicher eines Computers entspricht. Computer arbeiten mit elektrischen Signalen und speichern digitale Information in Form elektrischer Ladungen. Für Datenpakete aus Licht gibt es solche Speicher noch nicht. Und deshalb arbeiten wir in diese Richtung: Wir wollen einen Kurzzeitspeicher für optische Datenpulse bauen."

    Ähnlich wie rote Ampeln an einer Straßenkreuzung den Verkehr regeln, müssen auch die Lichtpulse in den weltweiten Glasfasernetzen synchronisiert werden. Bislang ist das umständlich. Um optische Datenpakete eine Weile aufzuhalten, werden sie zunächst in leicht manipulierbare elektrische Spannungspulse umgewandelt. Anschließend durchlaufen sie eine elektronische Warteschleife und werden dann wieder in optische Signale konvertiert, die mit Lichtgeschwindigkeit auf die nächste Etappe gehen. Alles in allem eine zeitraubende Angelegenheit. Robuste und preiswerte Lichtbremsen, hofft Dan Gauthier von der Duke University, könnten sie vielleicht überflüssig machen.

    "Have you seen optical fibre before?"

    "Haben sie schon mal ein Glasfaserkabel gesehen", fragt er auf dem Weg ins Labor.

    "So we have one kilometer of standard optical fibre here. You can see it’s a little bit shiny but it takes up a really tiny volume on the spool."

    Dan Gauthier nimmt eine graue Spule aus einem Regal. Sie sieht aus wie eine kleine Rolle Nylongarn - nur dass der schimmernde Faden kein Nylon ist, sondern ein ein Kilometer langes Stück jener Glasfaserkabel, die das Rückgrat der Datennetze bilden, für Breitband-Internet und Kabelfernsehen.

    "The core itself, where the light is being guided is only about six microns in diameter."

    Gerade mal sechs Mikrometer Durchmesser hat jene Region im Zentrum der Glasfaser, durch die die infraroten Lichtpulse rasen - zehnmal dünner als ein menschliches Haar. 2007 gelang es Dan Gauthier weltweit erstmals, einen Laserpuls in solch einer handelsüblichen Glasfaser für einen Moment zu stoppen. In einem fünf Meter langen Kabelstück konnte er einen Laserpuls festsetzen: zwölf Nanosekunden lang, zwölf Millionstel einer Millisekunde. Klingt nach wenig, ist aber eine echte Leistung. Weil Licht im Vakuum 300.000 Kilometer pro Sekunde zurücklegt, bewegt sich der ungestörte Laserpuls in zwölf Nanosekunden etwa drei Meter. Die Lichtdompteure aus Durham haben ihn komplett zum Stillstand gebracht. Gauthier:

    "The piece of fibre we used for the stopped light experiment was only five meters long. So a very short length of fibre. So maybe let’s go around to the other side…"

    Der Versuchsaufbau in dem abgedunkelten Raum ist erstaunlich übersichtlich: ein schwingungsgedämpfter Metalltisch, ein Plastikvorhang schützt ihn vor Staub. Darauf ein Dutzend bauklötzchenförmige optische Komponenten: Laser, Polarisationsfilter und Lichtverstärker. Über Glasfaserkabel gelangen die Laserpulse von einem Bauteil zum nächsten. Einen Großteil der durchweg ziemlich neuen Gerätschaften, erklärt Dan Gauthier, habe er bei Ebay ersteigert.

    "2001, nach dem Platzen der Internet-Blase, war die Telekom-Industrie am Boden. Viele Start-up-Firmen gingen pleite, große Unternehmen machten ihre Forschungslabors dicht und verscherbelten ihre Ausrüstung für einen Bruchteil der Anschaffungskosten. Wir haben hier Equipment für 200.000 Dollar stehen, für das wir nur rund 30 000 Dollar bezahlt haben. Die Laser, das sind diese Klötzchen mit den schwarzen Kühlrippen, die Sie hier sehen. Wir benötigen zwei, um das Licht in der zentralen Glasfaser zu stoppen. Einer der Laserstrahlen, der so genannte Pump-Laser, ist sehr intensiv. Seine Leistung beträgt kurzzeitig 100 Watt. Der andere Strahl, der, der die optische Information trägt, ist viel schwächer. Ihn schicken wir in entgegengesetzter Richtung durch die Faser. Wenn der Pumpstrahl ihn trifft, wird er abgebremst."

    Wo sich die beiden Laserstrahlen überlagern, beginnen die Atome des Lichtleiters zu zittern. Sie bewegen sich periodisch hin und her und erzeugen so eine Schallwelle in der Glasfaser. Die Schallwelle ist ein akustisches Abbild des Signals. Schaltet man den Laser ab, klingt sie einige milliardstel Sekunden nach. Dadurch bleibt die ursprüngliche Information kurzzeitig gespeichert und lässt sich mit einem weiteren Laserpuls per Knopfdruck wieder auf die Reise schicken.

    "Wir sprechen von einer 3-Wellen-Wechselwirkung, bei der eine Schallwelle und zwei Laserstrahlen zusammentreffen."

    Das Ergebnis ist eine Warteschleife für Licht.

    Ein neues Stück langsames Glas war immer pechschwarz, denn noch hatte es kein Lichtstrahl durchdrungen. Aber wenn man es etwa am Ufer eines malerischen Sees aufstellte, wurde - nach sagen wir einem Jahr - erstmals das phantastische Panorama darauf sichtbar. Montierte man die Scheibe dann ab und installierte sie in irgendeiner trostlosen Stadtwohnung, hatten deren Bewohner ein Jahr lang den Eindruck, auf den malerischen See zu blicken. Und sie hatten während dieses Jahres nicht nur ein sehr realistisches Stillleben vor Augen: Das Wasser würde sich im Sonnenlicht kräuseln, stille Tiere würden kommen, es trinken und Vögel den Himmel darüber kreuzen. Nacht würde auf Tag folgen und Jahreszeit auf Jahreszeit. Solange, bis eines Tages, rund ein Jahr später, die in subatomaren Spiralbahnen gefangene Schönheit erschöpft wäre und die gewohnte graue Stadtlandschaft durchs Fenster dringen würde.

    Ein Lichtstrahl legt im luftleeren Raum 300.000 Kilometer pro Sekunde zurück. Laut Albert Einstein kann weder Materie noch Information jemals schneller unterwegs sein. Doch der kosmische Temporekord gilt nur im Vakuum. In optisch dichteren Medien kommen die elektromagnetischen Lichtwellen langsamer voran. In Luft ist die Lichtgeschwindigkeit bereits ein Zehntausendstel geringer. In Wasser sinkt sie auf drei Viertel der Vakuumlichtgeschwindigkeit, in mancher Glasscheibe auf die Hälfte. Je größer die Brechzahl eines Materials, umso langsamer pflanzt sich ein Lichtstrahl darin fort. Transparente Substanzen, die in der Natur vorkommen, können Licht bestenfalls auf ein Viertel seines Vakuumtempos abbremsen. Doch mit technischen Tricks hebeln Physiker diese natürliche Grenze seit zehn Jahren systematisch aus. Maßgeblich daran beteiligt ist der Schweizer Professor Luc Thévenaz von der Staatlichen Polytechnischen Hochschule in Lausanne.

    "2004 hörte ich bei einer Konferenz mehrere Vorträge über langsames Licht. Damals gelang es Leuten nur mit sehr exotischen Materialien, Licht stark zu bremsen. Die ersten Experimente verwendeten tiefgekühlte Atome. Die Ergebnisse waren beeindruckend, aber alles andere als praxistauglich."

    1998 war es der Harvard-Physikerin Lene Hau gelungen, einen Laserpuls mit Radfahrertempo herzustellen. Mit 17 Metern pro Sekunde kroch das Licht durch eine Wolke ultrakalter Natrium-Atome – fast 20 Millionen mal langsamer als üblich. Spezielle Resonanzphänomene machten die tiefgekühlte Atomsuppe auf Knopfdruck undurchsichtig und froren das Licht darin praktisch ein. Bei Folgeexperimenten gelang es Lene Hau und einem konkurrierenden Forscherteam 2001, den Laserpuls in der Gaswolke komplett zu stoppen, kurz zu parken und anschließend wieder frei zu setzen. Es war ein Durchbruch für die Grundlagenforschung. Doch die frühen Warteschleifen brauchten raumfüllende Apparaturen, die fragile Quanteneffekte nutzten. Praktische Anwendungen schienen Lichtjahre entfernt, erinnert sich Luc Thévenaz.

    "2004, bei dieser Konferenz, dachte ich mir: Vielleicht können wir das Ganze in Glasfasern schaffen. Das wäre doch wirklich toll. Ich rief einen Kollegen an, der heute Professor in Spanien ist, und wir diskutierten am Telefon, wie man das machen könnte."

    Was dann geschah, ist bemerkenswert: Die beiden Experten hatten eine Idee und kamen zu dem Schluss, dass in Luc Thévenaz' Labor am Ufer des Genfer Sees alle Gerätschaften standen, um sie zu testen.

    "Einer meiner Postdocs machte sich sofort an die Arbeit – und zwei Stunden später das entscheidende Experiment. Ich erinnere mich genau. Es war an einem Freitag im September 2004. Ich sagte ihm: So könnte es vielleicht klappen. Er sagte: OK, ich werde es einfach probieren. Und am selben Freitag um 18 Uhr hatte er die ersten Ergebnisse. Nebenbei bemerkt können Sie daran sehen, dass wir hier auch freitags um 18 Uhr noch arbeiten. Dass wir so schnell erfolgreich waren, lag daran, dass wir das Experiment schon komplett aufgebaut hatten. Wir benutzten es seit Jahren, um einen ganz anderen Effekt der Lichtausbreitung in Glasfasern zu messen, da ging es um die Entwicklung optischer Sensoren. Wir mussten den Aufbau nur leicht veränderten, und schon konnten wir damit langsames Licht erzeugen."

    2005 publizierten Luc Thévenaz und seine beiden Kollegen die Ergebnisse. Das renommierte Fachmagazin "Nature" wertete sie als großen Fortschritt.

    "Alles, was wir damals machten, war neu. Wir konnten in alle Richtungen forschen. Das war wirklich eine tolle Zeit."

    Der kommerzielle Erfolg langsamen Glases beruhte neben seinem Neuheitswert auch auf der Tatsache, dass es keinen fühlbaren Unterschied machte, ob man ein Stück Land tatsächlich besaß – oder nur ein Fenstorama davon. Der ärmste Höhlenbewohner konnte auf einmal den Ausblick auf eine neblige Parklandschaft genießen. Und welche Rolle spielte es, dass sie ihm nicht gehörte? Ein Mensch, der wirklich gepflegte Gärten und Landgüter besitzt, verbringt seine Zeit nicht damit, über den Boden zu kriechen, um die Erde zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Alles, was er von seinem Land wahrnimmt, sind Lichtmuster. Und mit Fenstoramen konnte man diese Lichtmuster einfangen und mitnehmen, in Kohlegruben, U-Boote und Gefängniszellen. Es dauerte nur wenige Jahre, bis langsames Glas von einer wissenschaftlichen Kuriosität zum großen Geschäft wurde.

    2004 gelang es Luc Thévenaz’s Team als erstem, Laserpulse in normalen Glasfasern auf ein Drittel ihres Tempos zu verlangsamen. Und zwar mit einem vergleichsweise simplen Versuchsaufbau, dessen Herzstück – ein paar Meter Lichtleiter – in einen Briefumschlag passte. In den fünf Jahren seitdem gab es weitere Erfolge - aber mindestens genauso viele Rückschläge.

    "Für Anwendungen in der Telekommunikation war unsere Arbeit von 2004 ein wichtiger Schritt. Allerdings wissen wir heute, dass langsames Licht wohl doch nicht für jene Dinge taugt, die wir seinerzeit im Visier hatten."

    Optische Verteilerknoten für Glasfasernetze – in diese Idee hatte unter anderem die US-Rüstungsforschungsagentur Darpa große Hoffnungen gesetzt - und viel Geld gesteckt. Doch sie scheint im Licht heutiger Erkenntnis kaum praktikabel.

    "People wanted to make all optical routers for telecom. And we know that it probably won’t be a good solution for that."

    Heute übernehmen elektronische Verzögerungsschleifen die Rolle roter Ampeln auf den Datenautobahnen. Um Informationspakete künftig mit lichtgesteuerten Bauteilen zu synchronisieren, bräuchte man optische Warteschleifen, die einen beträchtlichen Teil solcher Pakete für Sekundenbruchteile hinhalten könnten. Im Klartext heißt das: Sie müssten kurzzeitig viele Bits eines modulierten Laserpulses speichern. Trotz kleiner und wichtiger Fortschritte sieht es nicht so aus, als ob die Technologie das jemals leisten könnte. Thévenaz:

    "Wir lassen zwei Laserstrahlen kollidieren: Den Pumpstrahl und den Signalstrahl. Wo beide aufeinander treffen, beginnt die Glasfaser zu vibrieren. Dabei entsteht eine Schallwelle, deren Frequenz so hoch ist, dass wir sie nicht hören können. Die periodischen Dichteschwankungen in der Glasfaser wirken wie ein optisches Gitter, das den Signalstrahl vor und zurück reflektiert und ihn dadurch verzögert."

    Stimulierte Brillouin-Streuung – so heißt der physikalische Effekt, den seit den ersten Versuchen in Lausanne auch Dan Gauthier in Durham benutzt. Weil der Effekt sehr schwach ist, muss man den Pumplaser ziemlich stark aufdrehen. Nur so kann er das Signal nennenswert abbremsen. In Dan Gauthiers Stop-and-Go-Experiment mit zwölf Nanosekunden Verzögerung betrug die Leistung kurzzeitig 100 Watt.

    "Für den Einsatz an den Knotenpunkten der Glasfasernetze wäre es wünschenswert, mit viel schwächeren Pumplasern auszukommen. Deshalb erproben wir jetzt Glasfasern mit veränderter Zusammensetzung. Wir verwenden ein Material, in dem sich Licht und Schallwellen viel stärker beeinflussen und glauben, dadurch mit einem Hundertstel der Laserleistung auszukommen."

    Auch Luc Thévenaz in der Schweiz testet derzeit solche neuartigen Fasern aus arsenhaltigen Chalkogenid-Gläsern. Doch selbst wenn die sich bewähren sollten, wird die Bremswirkung wohl nicht reichen, um mehr als ein paar Bit eines optischen Datenpakets zu verzögern. Thévenaz:

    "Wir konnten bislang maximal vier Rechteckpulse verzögern. Aber die waren dann extrem verzerrt. Mittlerweile haben wir eine Methode gefunden, um die Deformierung des Signals zu verhindern. Aber dazu benötigen wir zusätzliche Komponenten, die alles wieder komplizierter machen."

    Etwa zehn Bits scheinen derzeit machbar für eine optische Verzögerungsschleife. Doch für den Einsatz auf der Datenautobahn müssten sie kurzzeitig hundertmal mehr Information speichern können. Wie das jemals gelingen soll, weiß keiner. Auch in einem anderen Bereich stockt es, bei den optischen Sensoren. In Labor und Industrie sind sie unverzichtbar, um Gase und Flüssigkeiten zu analysieren oder Drücke und Temperaturen zu messen. Millionenfach sind sie heute in Straßentunnels installiert oder längs von Pipelines. Die Idee war, solche Messfühler mit langsamem Licht kompakter und empfindlicher zu machen. Thévenaz:

    "Wenn wir Licht bremsen, hat es mehr Zeit, mit den Atomen eines Materials in Wechselwirkung zu treten. Deshalb dachten wir: Langsames Licht wird uns erlauben, bessere optische Sensoren zu bauen. Denn wenn wir Licht hundertmal langsamer machen, brauchen wir statt 100 Metern Glasfaser nur noch einen, um denselben Effekt zu messen."

    Vor einigen Monaten fand Luc Thévenaz heraus, dass daraus nichts wird.

    "Wir haben kürzlich gezeigt, dass langsames Licht in Glasfasersensoren keinen Vorteil bringt. Die Empfindlichkeit, die wir durchs Abbremsen gewinnen, verlieren wir prompt wieder, weil ein Teil der Lichtenergie verloren geht, wenn wir die Schallwelle anregen. Beide Effekte heben sich gegenseitig exakt auf. Ich war extrem enttäuscht. Aber wir müssen die Naturgesetze akzeptieren."

    Es gab gute Fenstoramen, die ein Vermögen kosteten, und minderwertige, die preiswerter waren. Neben der in Jahren gemessenen Dicke einer Scheibe war auch ihre aktuelle Dicke oder Phase ausschlaggebend für den Preis. Deren präzise Kontrolle blieb nämlich trotz ausgefeiltester Ingenieurskunst Glücksache. Eine grobe Phasen-.Abweichung konnte dazu führen, dass eine Scheibe, die 5 Jahre dick sein sollte, tatsächlich fünfeinhalb Jahre hatte - sodass das Licht, das im Sommer in sie eingetreten war, im Winter wieder heraus kam. Eine kleine Abweichung konnte bedeuten, dass die Mittagssonne um Mitternacht schien. Solche Unverträglichkeiten hatten für manche einen bizarren Charme. Viele Nachtarbeiter zum Beispiel schätzten es sehr, ihre eigene private Zeitzone zu haben. Im Allgemeinen war ein Fenstorama aber umso teurer, je präziser es mit der wirklichen Zeit im Takt schwang.

    Seine atemberaubende Ausbreitungsgeschwindigkeit macht Licht unschlagbar, wenn es darum geht, Informationen über große Entfernungen zu verschicken. Über eine Milliarde Kilometer Glasfaserkabel liegen heute weltweit im Boden vergraben – und bilden das Rückgrat der globalen Datennetze. Charles Kao, der aus Hongkong stammende Pionier der optischen Telekommunikation, erhielt für seine Arbeiten eben den Physiknobelpreis.

    An ihrem Zielort angekommen, werden die optischen Datenpakete heute elektronisch weiter verarbeitet, von Computerprozessoren und Speicherchips. Doch das muss nicht so bleiben. Die Rechner der Zukunft, glauben manche Forscher, arbeiten mit Lichtteilchen anstelle von Elektronen. Denn Photonen versprechen höheres Tempo bei geringerer Wärmeentwicklung. Noch ist der Weg zum optischen Computer weit. Aber mit speziellen Bauelementen im Chipformat, so genannten photonischen Kristallen, lassen sich Lichtstrahlen heute auf kleinstem Raum effizient manipulieren. Und die Entwicklung geht rasant voran. Ob langsames Licht dabei eine tragende Rolle spielen könnte? Eher unwahrscheinlich - sagen Experten.

    "Die Euphorie, wie sie vor fünf Jahren noch herrschte, ist sicher verklungen. Andererseits ist das Potenzial an möglichen Anwendungen natürlich bei weitem nicht ausgeschöpft."

    Johann Peter Reithmaier vom Zentrum für Nanostrukturwissenschaften der Universität Kassel ist Experte für Halbleitertechnologien.

    "Insofern muss man sich halt auf die ursprünglichen Vorteile eines solchen Phänomens zurückziehen. Nämlich, dass man tatsächlich die Lichtwelle selbst manipulieren kann, was sonst mit keinen anderen Phänomenen möglich ist."

    Seit einigen Jahren befasst sich auch Reithmaier mit langsamem Licht. Im aktuellen EU-Forschungsprojekt Gospel, an dem auch Luc Thévenaz beteiligt ist, will er neuartige Radar- und Mobilfunksender entwickeln - Sender, die ihre Empfänger aktiv anpeilen. Die Idee: Statt eine intensive Funkwelle abzustrahlen, überlagert man geschickt viele schwache Wellen. Es genügt, einzelne davon einen winzigen Moment zu verzögern und schon löschen sie sich in einer Richtung aus, während in entgegengesetzter Richtung das Signal umso stärker wird. Heute kommt dabei rauschanfällige Elektronik zum Einsatz - morgen vielleicht langsames Licht. Denn für diese Aufgabe, betont Luc Thévenaz, sei die Technologie perfekt.

    "Langsames Licht kann Mikrowellenpulse schnell und kontrolliert verzögern – genau das, was die Antennenbauer wollen."

    Johann Peter Reithmaier sieht das genauso und tüftelt bereits an Warteschleifen im Chipformat. Mit winzigen Halbleiterstrukturen auf Basis so genannter Quantenpunkte will er Mikrowellen kontrolliert aufhalten. Nicht lange, aber lange genug für die neuartigen Antennen. Denn während die Signale, die heute in Glasfaserkabeln unterwegs sind, um ein Vielfaches ihrer Wellenlänge verzögert werden müssten, genügt hier eine maximale Verzögerung von einer Wellenlänge. Die Physiker sprechen von einer Phasenverschiebung von 360 Grad. Und die ist mit langsamem Licht eine relativ leichte Übung. Johann Peter Reithmaiers Partner an der Technischen Universität Kopenhagen sind auf dem besten Weg dorthin. Reithmaier:

    "Was man zeigen konnte mittlerweile, ist innerhalb einer Stufe so um die 100 bis 120 Grad. Sodass man in zwei oder drei Stufen eine komplette 360 Grad-Verzögerung erreichen kann. Für diese Anwendung ist das tatsächlich die Zielrichtung. Und das ist absehbar, dass man das umsetzen kann im Rahmen des Projektes."

    Warteschleifen für Mikrowellen könnten langsamem Licht den Weg vom Labor in die Praxis ebnen. Noch allerdings sind auch hier viele Hürden zu überwinden. Die Herstellung der filigranen Halbleiterstrukturen ist eine Wissenschaft für sich. An der Universität Kassel nutzt man dazu einen staubfreien Reinraum samt millionenschwerem Gerätepark von Aufdampfanlagen, Ionenstrahlsägen und Elektronenmikroskopen. Mit den 30.000 Dollar, die der US-Forscher Dan Gauthier bei Ebay für sein Glasfaser-Equipment ausgegeben hat, wäre auf dem Gebiet kein Blumentopf zu gewinnen. Ob sich der Aufwand lohnt, ist wie immer in der Forschung ungewiss. Reithmaier:

    "Auch wenn man sich jetzt Anwendungen anschaut, wie eine Radaranwendung, die zum Beispiel in einem Flugzeug eingebaut werden kann, die eventuell breitere Anwendung finden könnte: Das sind natürlich teure Systeme. Und da muss man dann sehen, ob so ein Kostenvorteil mit unserer neuen Technologie dann überhaupt zum Tragen kommt, wenn andere Konkurrenzprodukte da den Markt schon unter sich ausgemacht haben."

    Falls der Siegeszug von langsamem Licht jemals stattfindet, dann sicher langsamer als in der Science-fiction-Novelle vom Licht vergangener Tage. Für Grundlagenforscher bleibt das Gebiet trotzdem faszinierend. Und wer, gibt Luc Thévenaz zu bedenken, wisse schon, wofür das Ganze einmal gut sein könnte?

    "Ein Forschungsprojekt startet man mit einer bestimmten Motivation. Es ist wie eine Rakete, die man auf ein Ziel abfeuert. Während des Fluges gibt es dann aber oft Ereignisse, die die Rakete so vom Kurs abbringen, dass sie an einem völlig anderen Ort landet als ursprünglich geplant. Ich bin mir sicher: Wir werden langsames Licht irgendwann für Dinge nutzen, die uns anfangs nie in den Sinn gekommen wären."