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Langzeitbeobachtung einer verschwindenden Musikszene

Ingolf Rech und George Lindt haben zusammen einen Dokumentarfilm über die unabhängige Musikszene in Hamburg und Berlin gedreht. Der Film zu einem Dokument über eine verschwindende Szene geworden, die von der digitalen Revolution überrollt wurde.

Von Florian Fricke | 01.11.2012
    Christiane Rösinger: "Aber im Großen und ganzen kann man ja, wenn man jetzt solange Musik gemacht hat und so lange unterwegs und so, dieses Bandleben so lange kennt, ist es auch ganz schwer davon Abschied zu nehmen oder damit aufzuhören – das ist auf jeden Fall keine Alternative. "

    Am Anfang stand nur die Idee, einen Film über die Menschen hinter den Kulissen der alternativen Musikszene in Berlin und Hamburg zu machen. George Lindt und Ingolf Rech schnappten sich eine Kamera und legten los. Aber es kam alles ganz anders.

    George Lindt: "Durch die Ereignisse in der Musikindustrie, also es hat sich ja in den letzten Jahren sehr gewandelt durch die Musikkrise. Und auch unsere persönlichen finanziellen Verhältnisse, da wir ja den Film komplett allein produziert haben ohne Filmförderung, hat sich das so entwickelt, dass der Film während des Arbeitsprozesses historisch wurde. Das haben wir erst als Gefahr gesehen und als Manko, fanden es aber dann viel interessanter."

    Uli Rehberg: "Das dürfte eine der ältesten, der älteste Laden in der Stadt sein, den es zumindest noch gibt – denk ich mal. '76, '77 hab ich hier angefangen zu arbeiten."

    Heraus kam eine Langzeitbeobachtung, die eine Szene zeigt, wie sie jetzt in dieser Form schon gar nicht mehr existiert: Plattenläden sind vom Verschwinden bedroht, die kleinen Labels, selbst der Gitarrenladen um die Ecke, dem Ebay das Geschäft kaputtmacht. Natürlich sind die Fakten allzu bekannt und viele Schicksale auch. Aber nach diesem Film fällt es schwer, mit einem Schulterzucken einfach weiterzumachen.

    Die Filmemacher haben in legendären Clubs wie dem Golden Pudels gedreht, sind in die Katakomben der Proberäume abgetaucht, haben Alec Empire von Atari Teenage Riot in der U-Bahn Station interviewt und Tocotronics Dirk von Lowtzow auf dem heimischen Balkon beim Frühstück. Aber auch die Maschinerie dahinter wird beleuchtet, die Plattenvertriebe, Labels und CD-Presswerke. Mit voller Wucht macht dieser Film deutlich, welchen gewaltigen Erschütterungen die Musikindustrie in kürzester Zeit unterworfen war – durch die digitale Revolution.

    George Lindt: "Sachen, die nur schlappe zehn Jahre alt sind, wirken so historisch wie Sachen, die mir meine Mutter aus den 50er-Jahren erzählt hat. Da hat man natürlich auch selber ein bisschen Zukunftsangst, wenn man selber in der Branche drinsteckt, wo das hingeht, wohin das weitergehen kann. Aber gleichwohl ist es natürlich auch sehr spannend, zu beobachten. Ich finde den Film zwar auch zum größten Teil melancholisch, aber nicht hoffnungslos."

    Denn er zeigt, wie die Protagonisten jeder für sich einen Ausweg aus dem allgemeinen und manchmal auch persönlichen Schlamassel suchen. Die punksozialisierten Liedermacher Rocko Schamoni aus Hamburg und Christiane Rösinger aus Berlin finden ihn im Bücherschreiben - und das durchaus erfolgreich. Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen inszeniert seit Jahren fürs Theater. Auch die Hamburger Kollegen von Kante sind in die Hochkultur geflüchtet. Und Jim Avignon nach New York, wo er ein neues Publikum für seine merkwürdige Kunst fand.

    George Lindt: "Es hat mich selber auch überrascht, diese Leute wiederzutreffen, wie die mit ihren Wandlungsprozessen umgehen. Oft war das halt so, dass die Leute eher sich bedeckt gehalten haben und eine Scham oder so was hatten über ihren aktuellen Stand, wie zum Beispiel einer, der gesagt hat, ich hab mich dann scheiden lassen und mein Unternehmen ist fast pleitegegangen und ich mache jetzt nur noch kommerzielle Sachen. Das sind ja auch ganz starke Aussagen."

    Manchmal ist tatsächlich die digitale Revolution die Ursache. Aber auch nicht jede ehemalige Indiegröße, scheint es, ist für eine Stones-Karriere gemacht. Oder warten wir wirklich noch auf ein neues Album von den Sternen? So ist "Wir werden immer weitergehen" auch ein Film über das Altern im Musikbusiness geworden.

    Filminfos:
    Der Film läuft zunächst in kleinen Kinos in Hamburg und Berlin an, in Berlin im Filmcafé in der Schliemannstraße, in Hamburg im 3001. Im Lieblingsbuch Verlag ist außerdem ein Buch erschienen mit Fotostrecken, Essays, Erfahrungsberichten, Porträts und Interviews - und dem Film auf DVD.