Als politisches Gemeinwesen kann sich Europa im Bewusstsein seiner Bürger nicht alleine in Gestalt des Euro festsetzen.
Aber vielleicht ändert sich das ja demnächst. Bundesaußenminister Joschka Fischer, Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac und andere führende europäische Politiker haben eine Debatte angestoßen über die politische Zukunft Europas. Wie diese Zukunft aussehen kann, das ist vor allem Thema des europäischen Verfassungskonvents, der kürzlich seine Arbeit begonnen hat.
Zu dieser Debatte liefert Larry Siedentop einen sehr engagierten Beitrag unter dem Titel: "Demokratie in Europa". Siedentop fehlt es nicht an Selbstbewusstsein. Der Amerikaner, der in Oxford politische Ideengeschichte lehrt, spielt mit dem Titel "Demokratie in Europa" bewusst an auf Alexis de Tocquevilles großes Werk "Über die Demokratie in Amerika". Nun darf man zwar bezweifeln, dass Siedentop ähnlich nachhaltige Wirkung erzielt. Aber immerhin, der Bezugspunkt ist klar. Klar ist auch, dass es Larry Siedentop um eine eklatante Schwäche der Europäischen Union geht, ihren blassen demokratischen Charakter.
Siedentops Europa-Bild fällt drastisch aus. Es kommt nicht daher mit den feinen Nuancen eines Aquarells, sondern mit der Wucht des Holzschnitts. Zwischentöne verschwinden so. Das ist in gewisser Weise eine Schwäche des Buches und ließe sich leicht gegen Siedentop wenden. Nur ein Beispiel: Wenn eine föderale, bundesstaatliche Verfassung das Ziel ist, dann lohnt sich ein genauerer Blick auf den deutschen Föderalismus, auf seine Stärken und Schwächen.
Siedentops Holzschnitt hat, umgekehrt, den Vorzug der Schärfe. Er verliert sich nicht in Verästelungen, sondern er rückt mit einer wohltuenden Klarheit die Demokratiefrage ins Zentrum der europäischen Verfassungsdiskussion. Siedentops Projekt, für das er streitet, ist ein föderatives Europa. Das soll sich an den Vereinigten Staaten orientieren: also an sauberer Trennung von exekutiver, legislativer und judikativer Gewalt, an Teilung der Macht zwischen den Einzelstaaten und dem Zentrum, an unveräußerlichen Bürgerrechten, an Normenkontrolle durch Gerichte. Und das alles, betont Siedentop ausdrücklich, müsse eingebettet sein in eine "Kultur des Konsenses". Da steht Siedentop ganz in der Tradition liberalen Verfassungsdenkens, wie es sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, worin Siedentop "die aktuelle Misere Europas" sieht:
Hinter dem Schleier der Schönrednerei über die ökonomische und politische Integration verbirgt sich eine wichtige Entwicklung: die schnelle Anhäufung von Macht in Brüssel.
Dass Europa so geworden ist, wie es heute ist, das führt Siedentop im Kern auf zwei Punkte zurück. Zum einen auf das Verkümmern des traditionellen politischen Denkens, das ein allgegenwärtiger "Ökonomismus" verdrängt hat. Der zweite Punkt wiegt für Siedentop weit schwerer: die Europäische Union sei ganz nach dem Muster des französischen Zentralismus geschneidert, Brüssel folge dem Vorbild Paris.
Siedentop sieht drei nennenswerte Verfassungsmodelle in Europa: zum einen das britisch-pragmatische, zum anderen das deutsch-rechtsstaatliche und schließlich das französisch-zentralistische Verfassungsmodell, in dem die Bürokratie dominiert. Und dieser französische Typus des Staates sei dabei, sich in Westeuropa durchzusetzen – mit bösen Folgen, wie Larry Siedentop meint:
Das französische Staatsmodell zählt zu den am wenigsten geeigneten, wenn es darum geht, eine Kultur des Konsenses in Europa zu fördern. Die Fähigkeit eines Zentralorgans, trotz weitverbreiteter Bedenken oder gegen wichtige örtliche Interessen seinen Willen rasch durchzusetzen, ist vielmehr geeignet, eine Kultur des Misstrauens und des Zynismus zu fördern – die Ansicht zu verbreiten, dass Macht in den Händen der anderen – 'les autres' – liegt, die sie nicht wie ein gewissenhafter Friedensrichter ausüben, der versucht, Ansprüche auszugleichen und der öffentlichen Meinung Ausdruck zu verleihen.
Damit einher geht, schreibt Siedentop weiter, dass sich eine "ernsthafte Kluft" auftut zwischen den Bürgern Europas und ihren Politikern. Eine Kluft, die für Europa gefährlich ist:
Wenn die europäische Idee in erster Linie mit der Arroganz von unverantwortlichen Eliten in Verbindung gebracht wird, dann sind die Aussichten für Europa finsterer, als sie es seit 1945 je gewesen sind. Dann wird die europäische Idee den Kontinent eher sprengen als zusammenführen. Sie wird Nationen innerlich spalten, und sie kann sogar Nationen gegeneinander aufbringen.
Siedentops Analyse mündet in den Ruf nach einer eigenen politischen Klasse in Europa. Was für deren Heranbilden getan werden könne, das freilich bleibt eher blass. Vor allem Siedentops Wertschätzung der Juristen ist nur schwer nachzuvollziehen. Anderes – Stärkung regionaler Identitäten und Schutz lokaler Autonomien, Anerkennung von Englisch als zweiter Sprache – überzeugt eher. Das gilt auch für den Vorschlag von Larry Siedentop, einen Europäischen Senat zu schaffen, dessen Mitglieder aus den nationalen Parlamenten heraus gewählt werden. Da berühren sich Siedentops Vorstellungen mit denen von Joschka Fischer oder Lionel Jospin, dem französischen Ministerpräsidenten.
Bei dem Angelsachsen Larry Siedentop sind die anti-gallischen Animositäten zwar nicht zu überhören. Aber erhellend ist seine Analyse, wie es um die "Demokratie in Europa" bestellt ist, gerade da, wo Siedentop überzeichnet. Das ist höchst anregend. Anregend auch deshalb, weil Siedentop ein beherztes Plädoyer vorgelegt hat für ein Europa der Bürger.
Soweit Ulrich Rose. Es ging um das Buch von Larry Siedentop: "Demokratie in Europa". Erschienen ist es bei Klett-Cotta in Stuttgart. 366 Seiten. Der Preis: 25 Euro.