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Lars von Triers "Dancer in the Dark" auf der Bühne

Lars von Trier ist durch seine eigenwillige cinematographische Machart ein Etablierter der Szene. Mit dem preisgekrönten "Dance in the Dark" wechselt er teils ins Musical-Fach. Doch was auf der Leinwand funktioniert, muss es nicht auf der Bühne. Das Schauspiel und Ballett Stuttgart haben sich versucht.

Von Christian Gampert | 29.11.2012
    Im Stuttgarter Programmheft werden die "weiblichen Christusse" beschworen, die seit den 1970iger Jahren auch im Kino die Lücke füllen, die die Abwesenheit der Vatergötter angeblich gerissen hat. Lars von Trier inszeniere diese weibliche Figuren wahlweise als Opfer, starke Frau und Heilige, manchmal auch als alles zusammen.

    Das darf er ja. Es ist nur gut, sich auch der Machart dieser Filme zu erinnern: von Trier, der große Frauenversteher, bringt es ja schon seit "Breaking the Waves" auf wundersame Weise fertig, pseudo-dokumentarisches Kameragewackel und traditionelles Rührstück harmonisch miteinander zu verquicken. In seinem vielfach preisgekrönten "Dancer in the Dark" entwirft er gar das Musical als freundliche Gegenwelt, die den grauen Fabrikalltag überstrahlt. Der Film endet mit einer unglaublichen, langgezogenen Hinrichtungsszene – aber er lebt fast nur von seiner schrägen Hauptdarstellerin, der Popsängerin Björk, und deren Musik.

    Das kann (und will) das Stuttgarter Staatstheater natürlich nicht bieten, der Ansatz ist ein ganz anderer. Die langsam erblindende Selma der Ute Hannig hat viel mehr Bodenhaftung als die enthoben schwebende Björk, und vom Musical ist so eine Art akustisches Kopfkino übrig geblieben, eine Collage aus historischem Jazz und dumpf grollendem Sound, etwas unfreundlicher gesagt: ein ziemlicher Mischmasch.

    Der Stuttgarter Trick besteht nun darin, das Musical völlig zu verkörperlichen, zu vertanzen. Im ersten Teil gelingt das sehr gut, vor allem, wenn Selmas traurige Fabrikwelt von den Choreografen Louis Stiens und Marco Goecke in maschinelle Körperlichkeit übersetzt wird. Selma steppt, aber das Stuttgarter Ballett zuckt und rudert und schiebt und zittert sich durch alle möglichen Bewegungssegmente, durch die Nuancen entfremdeter Industriearbeit.

    Die Bühne besteht aus spiegelnder Leere – und aus einem ganzen Wald von oben herabhängender Mikrofone nebst Kabel. Das sieht, bei diabolischer Beleuchtung, ein bisschen aus wie die Industrie-Version von Akira Kurosawas Spinnwebwäldern. Auch Selmas Sohn, der leptosome Alessandro Giaquinto, geistert als spinnenartige, insektoide Gestalt durch die Szenen. Dass Selma langsam blind wird und sich in der Fabrik für ihr Kind aufopfert, hat allerdings auch bei Regisseur Christian Brey eine langsame dramaturgische Erblindung zur Folge: Zunehmend bekommt die tänzerische Ebene eine nur illustrierende, verdoppelnde Funktion.
    Das ist insofern tödlich, als auch die Handlung – mit den absolut reduzierten, hölzernen Dialogen von Patrick Ellsworth – überhaupt nicht trägt.

    Die eher robuste Selma der Ute Hannig spart ja für eine Augen-Operation ihres Kindes; und die Spardose steht beständig wie eine Monstranz auf der Stuttgarter Bühne. Dass Selma das Geld von dem verschuldeten Polizisten Bill, ihrem Vermieter, gestohlen wird, leitet den endgültigen tragischen Breakdown ein, der in Stuttgart zunächst nur durch peinliche lange Pausen und sakrales Herumstehen skizziert wird, dann aber in einer quälenden Mordszene kulminiert: Selma versucht minutenlang, Bill die Geldtasche entreißen, und der masochistische Mann nötigt sie, ihn zu erschießen. Das ist eine ambivalente, tödliche Mischung aus Ringkampf und verkapptem Liebesspiel.

    Die folgende Gerichtsverhandlung und Hinrichtung ist in Stuttgart leider nur ein lang gezogenes Beschwören der weiblichen Opferrolle. Die Emotionen der blinden Selma werden von der Tänzerin Angelina Zuccarini in schlangengleiche Bewegung gebracht – schön anzusehen, dramaturgisch aber eine einfältige Verdoppelung. Sagen wir es so: Das Zusammenwirken von Schauspiel und Ballett setzt hier keine Synergien frei. Während die Choreografien der Fabrik-Automaten auch ganz allein bestehen können, schmiert das das Blindendrama doch ziemlich ab – in die Hilf- und Sprachlosigkeit.