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Lastkraftwagenfahrt mit Publikum

"Rimini Protokoll" nennt sich eine Gruppe von Regisseuren aus Deutschland und der Schweiz. In ihrer Arbeit spielen Grenzen und Randgebiete eine wichtige Rolle. Dabei kann es um das Überschreiten von Genregrenzen gehen - die Protokolleure mixen Theater mit Performance, produzieren aber auch Klangkunst fürs Radio. In dem Projekt "Cargo Sofia - X" wird die Grenze aber konkret erfahrbar: Das Stück nimmt die Zuschauer mit auf eine Lkw-Fahrt durch Grenzgebiete, derzeit durch das bei Basel.

Von Christian Gampert |
    Natürlich kann man dieses Lastwagentheater als netten Event abqualifizieren, als Kaffeefahrt und Schulausflug - aber es ist eben eine andere Art, mit Theater umzugehen, den Zuschauer anders anzupacken. Das Publikum sitzt quasi als Ladung, als Ware längsseitig auf der Ladefläche eines Lastwagens und wird durchs Schweizer Grenzgebiet geschaukelt. Anfangs schaut man nur auf die Wand der Ladefläche, auf die ein Film einer Fahrt durch Sofia projiziert wird - man fährt also real durch Basel, im Film aber durch die bulgarische Hauptstadt; eine seltsame Doppelbelichtung, die ziemliche Irritation auslöst.

    Dann geht die Leinwand hoch: Die Längswand des Lastwagens ist durchsichtig, und man sieht wieder Basel als Straßentheater - mit den Kommentaren zweier bulgarischer Lastwagenfahrer, die unsere Fremdenführer und Reiseleiter sind.

    Sie erzählen in gebrochenem Deutsch und Englisch ganz lakonisch über ihr Hundeleben im Truck; zwischendurch begegnen wir Zöllnern, Lagerarbeitern und einer Bauchtänzerin und Sängerin, einer Sirene am Straßenrand, die einerseits wohl allegorisch die käufliche Liebe darstellt, andererseits aber als Sehnsuchtsfigur bulgarische Melodien singt. Das waren die überzeugendsten Szenen: die Sängerin einsam auf einem leeren Parkplatz in einer Industriebrache, wie auf einem Straßenstrich; dann, noch einmal, die Sängerin in einem surrealen Arrangement auf einer Verkehrs-Insel in einem Kreisverkehr - der Laster mit dem Publikum umkreiste sie, und die übrigen Verkehrsteilnehmer trauten ihren Augen kaum.

    Die Gruppe Rimini Protokoll, in diesem Fall ist der Regisseur Stefan Kaegi allein verantwortlich, betreibt ein Theater der "Experten des Alltags": sie holt Laien auf die Bühne, die über ihr Leben berichten. In Basel erfährt man auf diese Weise eine Menge darüber, wie dieses hochindustrialisierte Europa funktioniert, welche Mengen an Waren täglich auf überlasteten Verkehradern verschoben werden und was das mit den Leben derer macht, die das transportieren müssen: transistäre Existenzen, immer unterwegs, immer im Stau - es ist weniger die Poesie des Road Movies, die in diesem Theater sichtbar wird, es ist die Härte und Banalität des Unterwegsseins: man sieht, was für ein Knochenjob es ist, Dinge von einem Ort an den anderen zu schaffen.

    Mindestens 10 Stunden Wartezeit vor der Grenze, die Dusche auf dem Rastplatz für 2 Euro, immer müde, ein paar Fotos als Erinnerung an Frau und Kinder, ständige Kontrolle durch die Firmenzentrale, ständig neue Sprachen, neue Regeln, andere Gesetze: ein Leben in dauernder Anspannung und Überforderung. Auch die sozialen Währungen wechseln: im Ostblock bekommt man - unter der Hand - eine ganze Tankfüllung Diesel für eine Ausgabe des "Playboy".

    Der Zuschauer kam durch dieses dokumentarische Theater also an Orte, an die er sich sonst kaum begeben würde: ins Basler Industrie-Areal, den Containerhafen, die riesigen Lagerhallen, in die größte Zoll-Abfertigungs-Anlage Europas. Und es entwickelte sich beim eher an Schreibtischarbeit gewöhnten Mitfahrer das Gefühl: was für ein Glück, nicht täglich in der Fabrik oder im Laster zu sitzen, sondern am Computer.

    Andererseits: hat diese Art von Theater nicht auch etwas Voyeuristisches? Jein. Bei der letzten Inszenierung von "Rimini Protokoll" in Zürich, "Blaiberg und Sweetheart 19", wurden Herzpatienten und ernsthaft Partnersuchende, also solche, die ihr Herz verlieren wollten, vorgestellt und dadurch auch bloßgestellt - da wurde es sehr intim, und man fragte sich: was ziehen diese laienhaften Theater-Protagonisten für einen Gewinn daraus, öffentlich ihre Probleme auszubreiten?? Die Inszenierung wucherte mit dem Gestus: wir zeigen euch echte Herztransplantierte...

    Hier, bei diesem Lastwagentheater, ist es ganz anders, viel zurückhaltender. Da geht es um Arbeitswelt. Zwar erfährt man auch etwas über die Biographien unserer beiden Cicerone, der LKW-Piloten, aber es bleibt angenehm distanziert und auf das Fern-Fahren bezogen.

    Kein Welttheater also, aber eine lohnende Expedition. On the road again: Motorengebrumm, bulgarische Musik, die Kommentare der beiden Reiseleiter - man begreift, dass das Herz unserer heutigen Zivilisation, nämlich die Industrie und ihre Infrastruktur, die Produktionshallen, Autobahnen und Verladerampen, eben auch der Rand der Zivilisation ist, ein Wasteland, in dem jeder einzelne sich verzweifelt zu behaupten versucht, jeden Tag neu.