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Lateinamerika im Porträt

Lateinamerika ist eine aufstrebende Region mit wachsendem Selbstbewusstsein. Der Journalist Sebastian Schoepp erklärt in seinem Buch "Das Ende der Einsamkeit", was die restliche Welt von Lateinamerika lernen kann.

Von Victoria Eglau |
    Die Einsamkeit ist ein Begriff, den zwei berühmte Schriftsteller – der Mexikaner Octavio Paz und der Kolumbianer Gabriel García Márquez – gewählt haben, um Lateinamerikas Zustand, Befindlichkeit und Stellung in der Welt zu beschreiben. Paz veröffentlichte sein Essay "Das Labyrinth der Einsamkeit" 1950, García Márquez‘ Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" erschien 1967. Für Sebastian Schoepp, außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung, ist die Zeit, in der Lateinamerika isoliert und vergessen von der Welt sein eigentümliches Dasein fristete, definitiv vorbei. "Das Ende der Einsamkeit – was die Welt von Lateinamerika lernen kann", hat Schoepp daher sein Buch genannt, in dem er schreibt:

    "Vielleicht waren es ja genau diese Einsamkeit, dieser innere Zwang zur Eigentümlichkeit, dieser Hang zu friedlicher Irrationalität, zu Reflexion statt Aggression, zu Kontemplation statt Expansion, die Lateinamerika letztlich auf den richtigen Weg gebracht haben. Tatsache ist, dass der lateinamerikanische Weg zunehmend Beachtung verdient in einem Moment, da das Fortschrittsmodell der industrialisierten Welt an seine Grenzen stößt."

    Und was kann die Welt von Lateinamerika lernen? Etwa das überwiegend friedliche Zusammenleben verschiedenster Kulturen, Ethnien und Religionen, führt Sebastian Schoepp aus. Er zitiert den kolumbianischen Essayisten William Ospina mit den Worten, die größten Fortschritte in der Geschichte der Menschheit könne man von Völkern erwarten, die den Zusammenstoß der Zivilisationen bereits erlebt hätten. In Lateinamerika mit seiner bunten Menschenmischung aus Indigenen, europäischen und asiatischen Einwanderern sowieso Nachfahren afrikanischer Sklaven ist dies zweifellos der Fall. Sebastian Schoepp legt "Das Ende der Einsamkeit" zu einem Zeitpunkt vor, da die gewaltsamen Umstürze in der arabischen Welt und die Finanzkrisen Europas und der USA die Berichterstattung europäischer Medien bestimmen. Viel weniger Platz stellen die Blätter und Sender dagegen für Nachrichten aus Lateinamerika zur Verfügung: das rasante Wachstum und die wirtschaftliche Stabilität der meisten Staaten, die Festigung demokratischer Strukturen, die juristische Aufarbeitung blutiger Militärdiktaturen und die zum Teil erfolgreiche Bekämpfung der Armut. Zweihundert Jahre, nachdem die Länder des Subkontinents den Weg zur Unabhängigkeit einschlugen, wird der Politikertypus des "Caudillo", der autoritären, charismatischen Führungsfigur, immer seltener, und modernere, gemäßigte Regierungschefs setzten sich durch.

    "Träger des politischen Fortschritts seit 2000 sind in vielen Fällen die, die den Folterkellern und der Verfolgung der 1970er- und 80er-Jahre entkamen: Michelle Bachelet in Chile, Dilma Rousseff und Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien, José Mujica in Uruguay. (…) Ihr Aufstieg zeigt, dass eine andere Politik, die die Geschichte revidiert, offenbar möglich ist. Sie sind links orientiert – direkte Konsequenz des Rechtsrucks der vorhergehenden Jahrzehnte. Jedoch haben sie von klassenkämpferischen Maximalforderungen beizeiten Abschied genommen und sich auf den mühseligen Weg begeben, als gewählte Volksvertreter zweihundert Jahre schiefgelaufene Entwicklung mit marktwirtschaftlich orientierten, aber staatlich gesteuerten Modellen in eine andere Richtung zu lenken."

    Sebastian Schoepp wirft sein Augenmerk auch auf jene Vertreter der lateinamerikanischen Linken, denen das Etikett "autoritär und populistisch" anhaftet – wie Venezuelas Präsident Hugo Chavez und sein bolivianischer Kollege Evo Morales. Schoepps historische Einordnung lässt die Leser verstehen, dass diese Politiker nicht vom Himmel gefallen sind, sondern eine Antwort auf postkoloniale Gesellschaftsstrukturen und zutiefst ungerechte Klassensysteme darstellen. Chavez ist für Schoepp – Zitat – nicht der Erbauer des neuen Lateinamerikas, sondern ein Mann des Übergangs.

    "Hugo Chávez in Venezuela, Rafael Correa in Ecuador und Evo Morales in Bolivien ändern die Verfassungen ihrer Länder, passen sie zum Teil ihren Plänen an, versprechen ein Ende der Macht der alten, postkolonialen Eliten und gehen auf Konfliktkurs zu den USA. Sie treten durchaus autoritär auf. Ihr Stil wird von europäischen Beobachtern gern als Populismus gegeißelt; doch fallen ihre Maßnahmen oft nicht so extrem aus wie ihre Worte. Sie sprechen die Sprache ihrer im Alltagskampf abgehärteten Wähler und bedienen die Sehnsucht der Marginalisierten nach Anerkennung, Würde und Selbstwertgefühl."

    "Das Ende der Einsamkeit" bietet Analyse, Historie, Reportagen und Interviews – eine gut lesbare Mischung, die der Autor durch persönlich gefärbte Anekdoten von seinen zahlreichen Lateinamerika-Reisen ergänzt. Sebastian Schoepp nimmt die Leser mit an so unterschiedliche Orte wie eine Bananenplantage in Costa Rica, die indianische Großstadt El Alto in Bolivien oder die boomende Nord-Süd-Schnittstelle Panama City. Der Autor stellt auch die in Lateinamerika heute maßgeblichen Denker und Schriftsteller vor. Dem aufmerksamen, lateinamerika-interessierten Medienkonsumenten dürfte nicht alles, was Journalist Schoepp zusammengetragen hat, neu sein. Und Kennern des Subkontinents könnten hier und da Oberflächlichkeiten und kleinere Fehler auffallen – wie der, dass auf dem Höhepunkt der Argentinienkrise in dreizehn Tagen fünf Übergangspräsidenten regierten, tatsächlich waren es vier. Derlei tut Schoepps Verdienst keinen Abbruch, umfassend und tiefschürfend eine Weltregion porträtiert zu haben, der Europa und die USA bisher oft mit Ignoranz und Arroganz begegneten. Eine aufstrebende Region mit wachsendem Selbstbewusstsein, von der sich die sogenannte Erste Welt wie auch andere ehemalige Kolonialstaaten einiges abschauen können.

    Sebastian Schoepp: Das Ende der Einsamkeit: Was die Welt von Lateinamerika lernen kann
    Westend Verlag, 288 Seiten, 17,99 Euro, ISBN: 978-3-938-06058-2