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Lateinamerikas Moderne

Lateinamerikanische Kunst ist in Deutschland wenig verbreitet. In den staatlichen Museen finden sich immer die gleichen Vertreter der künstlerischen Moderne: Diego Rivera, Wifredo Lam, Roberto Matta und natürlich Frida Kahlo. Im Alten Rathaus Potsdam werden nun Werke des ecuadorianischen Expressionisten Oswaldo Guayasamin ausgestellt. Seine Themen: Der Mensch, und seine Kritik an Elend, Unterdrückung und Krieg.

Von Peter B. Schumann |
    Zwar haben sich die Galerien vermehrt, die Zeitgenössisches aus Brasilien, Argentinien, Mexico oder Cuba anbieten. Aber die große Tradition, die künstlerische Aneignung des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika ist bei uns weitgehend unbekannt geblieben. Auch hat eine ernsthafte Auseinandersetzung unserer Kunsthistoriker mit dieser Thematik bisher kaum stattgefunden. Dabei gibt es viel zu entdecken, beispielsweise die europäischen Einflüsse und ihre Weiterentwicklung zu einer authentischen Kunst.

    Eine der seltenen Gelegenheiten bietet sich zurzeit am Rande Berlins, in Brandenburgs Hauptstadt Potsdam und seinem Alten Rathaus. Ein Ecuadorianer wird hier vorgestellt, dessen Namen bei uns nur die Eingeweihten kennen: Osvaldo Guayasamín, den Pablo Neruda, der chilenische Nobelpreisträger der Literatur, hoch schätzte: "Die Namen Orozco, Rivera, Portinari, Tamayo und Guayasamín" – so schrieb er – "bilden das andine Rückgrat des Kontinents. Sie ragen empor, hoch und überwältigend, schroff und eisig." Und weiter: "Nur wenige Maler unseres Amerikas verfügen über die künstlerische Urkraft eines Guayasamín."

    Sie spürt jeder, der sich mit den 60 Ölbildern und Aquarellen auseinandersetzt, die in Potsdam versammelt sind und einen vorzüglichen Überblick geben über das halbe Jahrhundert seines unermüdlichen Schaffens. Der Kämpfer von 1947 deutet den Stil an, dem er bis zu seinem Tod 1999 treu geblieben ist: figurativ mit konstruktivistischen Elementen, die später ins Surreale übergehen – bei Picasso hat er sie entlehnt; scharf konturiert das Motiv – an den mexikanischen Muralisten Orozco und Rivera hat er dies studiert; suggestiv der Protestcharakter – der deutsche Expressionismus hat ihn darin bestärkt. Diese Einflüsse hat er mit indianischen Formen und Farben der ecuadorianischen Kunsttradition in seinem unverwechselbaren Stil verschmolzen.

    "Meine Malerei soll verletzen" – so hat er geäußert – "sich ins Herz der Menschen einritzen und es heimsuchen. Um zu zeigen, was der Mensch gegen den Menschen verrichtet." Zeitalter des Zorns heißt sein berühmtester Zyklus, von Mitte der 60er bis Mitte der 80er Jahre entstanden. Es sind nur noch Teile von Verzweifelten, Gefolterten, Erhängten – so die Titel – die er mit großen Strichen malt: grau-bräunliche Skelette auf dunklem Untergrund oder Beine, Hände, Schmerz verzerrte Gesichter rot konturiert – der Mensch als Rudiment des Terrors.

    Osvaldo Guayasamín war kein Künstler der leisen Töne und besinnlichen Details. Seine Kunst schreit: er war einer der großen Expressionisten Lateinamerikas, der glaubte, nur so dieses 20. Jahrhundert künstlerisch verarbeiten zu können, das er für das schrecklichste der Menschheitsgeschichte hielt. Einen Großteil seines Lebenswerks hat er mit dieser Thematik verbunden, sie auf zahllosen Bildern festgehalten und damit die Welt bewegt.
    Einmal – Mitte der 60er Jahre – hat er das Konturenhafte seines Stils verlassen und vier fleischige, unförmige Köpfe gemalt, Karikaturen von den Verursachern menschlichen Elends: Politikern, Diktatoren, Militärs, Kirchenoberen. Auch seine Heimatstadt Quito hoch in den Anden war immer wieder Gegenstand seiner Kunst: eine erdfarbene Landschaft mit dunklen Bergen und schwarzen Wolken oder eine schwarze Gewitterlandschaft mit blutigen Konturen – die ecuadorianische Hauptstadt zahlloser politischer Konflikte und sozialer Explosionen.

    In seinem letzten Zyklus Zeitalter der Zärtlichkeit sieht Osvaldo Guayasamín die Welt mit milderen Augen. Die Mutter, die auf früheren Bildern voller Entsetzen die Hände vor dem Gesicht verkrampfte, hält jetzt ein Kind in den Armen. Das Expressive der grau-schwarzen Töne ist weichen Konturen und harmonischen Farben gewichen, die sogar lebhaftes Orange vertragen. Grandiose Portraits hat er gemalt und Stillleben in pastellenen Tönen.
    Osvaldo Guayasamín, der Maler der menschlichen Not, dessen Kunst weit über Lateinamerika hinausstrahlt, hat sich selbst ein Denkmal gesetzt mit der Kapelle des Menschen. In diesem architektonischen Raum, der noch immer nicht vollendet ist, soll keinen Göttern gehuldigt, sondern der Menschen, ihrer Leiden und Kämpfe gedacht werden – und zwar in Form von Kunstwerken, von der prä-kolumbischen Zeit bis heute. Guayasamín hat sie Zeit seines Lebens gesammelt und genauso wie sein eigenes Werk den Ecuadorianern geschenkt.