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Laufsport
Vor 75 Jahren läuft Rudolf Harbig Weltrekord

Am 15. Juli 1939 zeigten die Stoppuhren nach dem 800 Meter Rennen in Mailand eine Überraschung an: 1,8 Sekunden war Rudolf Harbig schneller als der bis dahin weltschnellste Mann über 800 Meter. Niemals zuvor oder danach gab es einen derart deutlichen Sturz des 800-Meter-Weltrekordes.

Von Eduard Hoffmann |
    Rudolf Harbig gewinnt souverän den 800m-Lauf bei den deutschen Meisterschaften 1939 im Berliner Olympiastadion.
    Auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere lief Rudolf Harbig 1939 binnen weniger Monate vier Weltrekorde. (dpa)
    Die Gardemaße eines Spitzenathleten hatte der sächsische Mittelstreckenläufer Rudolf Harbig nicht gerade. Mit 1,74 Metern und 68 Kilogramm wirkte der Dresdener Gasmann eher schmächtig. Aber zäh und willensstark lief er sich mit großem Trainingsfleiß nach ganz oben in die Weltspitze. Vor 75 Jahren, am 15. Juli 1939, zeigten die Stoppuhren nach dem 800 Meter Rennen in Mailand eine Fabelzeit.
    "Harbig spurtet mit langen Schritten, wunderbar wie dieser Mann läuft, 2 ½, 3 Meter und hinter ihm verzweifelter Kampf, aber Harbig hat sicher gewonnen, der erste deutsche Sieg über die halbe Meile." Das war im August 1937 beim Länderkampf gegen England in London. Nach dem Rennen stand der 23-Jährige Rudolf Harbig dem Reporter Rede und Antwort.
    "Die Zeit auf der Bahn, ist ziemlich gut, beträgt 1,54,8, die ich meinem Kamerad Mertens, der mir zum Teil das Tempo gemacht hat, zu verdanken habe."
    Immer bescheiden und freundlich, ein schlichter, heiterer Mensch, so beschreiben alle Freunde den am 8. November 1913 in Dresden geborenen Rudolf Harbig. Der vorbildliche Sportsmann, der zunächst Handball spielte, war bei den städtischen Gaswerken als Kassierer angestellt.
    1934 hatte Reichstrainer Woldemar Gerschler das läuferische Talent Harbigs entdeckt. Das war am Tag des unbekannten Sportsmannes, vom Reichsbund für Leibesübungen organisiert, um Talente für die Olympischen Spiele 1936 ausfindig zu machen. "Und da war einer drunter, der uns auffiel durch seine Qualität, obwohl er gar nicht trainiert oder gar nicht bekannt war. Ich bin dann hinterher zu ihm hingegangen und habe gesagt, wissen Sie, Herr Harbig, ich glaube Sie würden gut tun, wenn Sie zu uns in den Dresdener Sport Club kämen."
    Fortan kümmerte sich Gerschler um Harbig, baute das große Lauftalent behutsam auf und führte es an die Weltspitze heran. Gerschler, der als Entdecker des Intervalltrainings gilt, nutzte für die harte Trainingsarbeit stets auch die neuesten sportmedizinischen Erkenntnisse. "Wir konnten so arbeiten, weil ich damals schon in engster Verbindung mit der Universität Freiburg, mit Professor Reindell, alle Athleten von ihm untersuchen ließ, und so war ich immer orientiert über den Entwicklungsstand, wie man eine solche Anstrengung organisch verkraftet."
    Harbigs Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Bei den Olympischen Spielen 1936 schied er zwar krankheitsbedingt über 800 Meter im Vorlauf aus, gewann aber mit der 4 x 400 Meter Staffel die Bronzemedaille. 1938 wurde der ehrgeizige und willensstarke Kämpfer dann Doppeleuropameister, mit der 4 x 400 Meter Staffel und über 800 Meter.
    Der größte Sieg gelang dem Dresdener ein Jahr später in Mailand. Am 15. Juli 1939 trat Rudolf Harbig über 800 Meter gegen seinen ewigen Rivalen Mario Lanzi an. Die italienischen Zuschauer in der Arena Civicafeuerten ihren Landsmann begeistert an. Der lag vom Start an in Führung. Doch aus der letzten Kurve heraus zog Harbig den Spurt an, ging an Lanzi vorbei und gewann das Rennen in unglaublicher Weltrekordzeit. Unvergesslich für Trainer Woldemar Gerschler. "Als ich auf meine Uhr schaute, und 1'46'6 las, da hab ich gar nicht geglaubt, dass das stimmt, und erst als der Lautsprecher dann das brachte, da war uns natürlich bewusst erst geworden, was wir in diesen einer Minute 46'6 erlebt hatten."
    Ein kleines Wunder: 1,8 Sekunden war Harbig schneller als der bis dahin weltschnellste Mann über 800 Meter, der Brite Sydney Wooderson. Niemals zuvor oder danach gab es einen derart deutlichen Sturz des 800-Meter-Weltrekordes.
    Fast alle Zeitungsreporter gaben die unfassbare Zeit vorsichtshalber nicht in Zahlen, sondern in Buchstaben an ihre Redaktionen weiter. Die internationale Fachpresse sprach von „einer Revolution im Mittelstreckenlauf". 16 Jahre lang hielt der Rekord. Erst am 3. August 1955 lief der Belgier Roger Moens mit 1'45'7 eine neue Weltbestzeit.
    Kurz nach dem 800 Meter Erfolg kassierte das sächsische Ausnahmetalent auch den Rekord über 400 Meter. Und 1941 gelang ihm noch über 1.000 Meter die weltbeste Zeit. Bis heute ist Rudolf Harbig der einzige, der gleichzeitig über die drei Mittelstrecken den Weltrekord hielt.
    Der Traum von olympischem Gold jedoch blieb unerfüllt. Am 5. März 1944 fiel der Ehemann und Vater einer Tochter gerade mal 30-jährig in der Ukraine.