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Laulupidu und Tantsupidu

Kinder könnten Laulupidu und Tantsupidu für Comic-Figuren halten oder für Riesen in einem Märchen. Laulupidu bezeichnet aber ein "orales" Weltkulturerbe der UNESCO: ein Sängerfest, das seit 140 Jahren alle fünf Jahre im estnischen Tallinn stattfindet. 1934 bekam es einen Bruder: den Tantsupidu.

Von Mirko Schwanitz |
    Wer an diesem Wochenende vom Turm der Tallinner Olaikirche hinunterblickt, schaut in ein Sirren und Schwirren. Zwischen mittelalterlichen Häuserzeilen tummeln sich schon seit Tagen Schmetterlingsschwärmen gleich bunte Trachtengruppen. Mal vermischen sie sich mit den Besucherströmen, lösen sich in ihnen auf, nur um irgendwann und irgendwo in einer anderen Gasse wieder zusammenzufinden.

    "Mein Name ist Marie, ich komme eigentlich aus der Umgebung von Tartu. Aber jetzt bin ich in Tallinn, weil ich am Tanzfest teilnehmen möchte. In ein paar Stunden fängt auch das heutige Sängerfest an."

    Marie ist mit ihrer Tanzgruppe nach Tallinn gekommen, denn seit 1934 gibt es parallel zum Laulupidu - dem Sängerfest - auch noch das Tantsupidu - das Tanzfest. Und so sehen die Besucher derzeit überall auf Tallinns Straßen und Plätzen Gruppen singender und tanzender Menschen.

    "Wir sind hier gerade auf dem Rathausplatz. Es ist eine tolle und gemütliche Atmosphäre hier. Ich schaue zum Himmel und freue mich, dass es nicht regnet."

    Üks, kaks, kolm - Ein, zwei, drei und schon beginnen sich die Tänzer um Marie zu drehen. Oberkörper schwingen vor und zurück, bunte Röcke fliegen. Und während sie singen und tanzen haben sie wohl noch immer die Stimme ihrer Tanzlehrerin im Ohr: Oberkörper gerade halten! Kleine Schritte! Takt halten!

    Nach Hunderten Drehungen und Pirouetten ist Maries verschmitztes rundes Gesicht leicht gerötet, ihre geflochtenen Zöpfe sind etwas aus der Form, doch der Kranz aus roten Blüten auf dem Kopf hat sich gut gehalten. Auffallend ist auch ihre in allen Farben schimmernde Tracht.

    "Rot, blau, dann grün, hellrosa, gelb, weiß und schwarz. Über dem Rock trage ich eine Bluse, deren Ärmel und Kragen mit Stickereien geschmückt sind. Den Kranz habe ich auf dem Kopf, weil man eine Tracht bei uns nie ohne Kopfbedeckung tragen darf. Die verheirateten Frauen haben meist eine Haube, unverheiratete Mädchen einen Blumenkranz."

    Wie dicht Tradition und Moderne in Estland zusammenliegen, lässt sich kaum besser beobachten als in diesen Tagen des Sängerfestes. Was sich so bescheiden anhört ist ein Mega-Event. Bereits seit Februar sind alle Hotelbetten in Tallinn und Umgebung ausverkauft, tausende Touristen und Sangesgruppen aus ganz Europa sind gekommen. Auch dieser schwedische Männerchor der im Kultcafé "Moskau" mal einfach so ein Ständchen gibt.

    Während die Herren singen, kämpfen zwei Damen mit mächtigen Hüten mit zwei ebenso mächtigen Tortenstücken. Familien schneien mit ihren Kindern auf einen Milch-Shake herein. Begehrt sind vor allem die Plätze an den Fenstern, von denen man gestern den großen Festumzug von Tänzern, Sängern und Chören im Blick hatte.

    Da marschierten die Tanzgruppen und Chöre als Botschafter ihrer Regionen die dicht gesäumten Straßen entlang bis zum Festplatz, singend, tanzend und lärmend feierten sie ihre Heimatstädte wie hier die Sänger und Tänzer aus Hapsaluu

    In den Reihen der Besucher erkannten viele schon von weitem an den Trachten, woher der eine Chor, die andere Tanzgruppe kam, denn jede estnische Region hat ihre eigene Tracht, vor allem aber ihre ganz eigenen Farbkombinationen und Muster, in denen Eingeweihte lesen können wie in einem ethnografischen Lexikon.

    Ausländische Chöre dürfen am Sängerfest nur sehr selten teilnehmen. Und wenn, dann müssen auch sie estnisch singen. Warum das so ist, versucht Aet Matee zu erklären, die schon auf dem Festplatz steht und aufgeregt den Einmarsch der Chöre beobachtet.

    "Also beim Sängerfest geht es nicht nur darum, dass gesungen wird. Estland ist ein sehr kleines Land und hat gerade einmal anderthalb Millionen Einwohner. Singen ist eines der wichtigsten Elemente unserer kulturellen Identität. Das Sängerfest steht auch symbolisch dafür, dass wir uns zusammenfinden, auf diesem Platz hier und das beim gemeinsamen Singen ein außergewöhnliches Gefühl entsteht - nämlich das Gefühl, ein Körper, ein Volk zu sein."

    Tatsächlich wurde das Fest aus dem Geist des nationalen Widerstands geboren. Denn in ihrer langen Geschichte hatte das Völkchen der Esten nur einmal einen eigenen Staat nämlich zwischen 1923 und 1938. Und keiner der Besucher die heute auf der Festwiese sitzen hat vergessen, dass Estland seine zweite und seit 1991 andauernde Unabhängigkeit einer "Singenden Revolution" verdankt. Auch diese Besucherin nicht.

    "Ich erinnere mich noch, das war 1986 und wir gehörten noch zur Sowjetunion. Da sind wir das erste Mal um Mitternacht auf die Straßen gegangen und haben estnische Lieder gesungen. 1988 sind dann etwa eine Million Esten auf die Straßen gegangen und haben einfach gesungen, also Zwei Drittel unserer Bevölkerung. Damals war ich 13 Jahre alt."

    Mu isamaa on minu arm - Mein Vaterland ist meine Liebe. Mit diesem Lied forderten die Esten damals von Michail Gorbatschow die Unabhängigkeit und der entließ das Land aus der Sowjetunion. Inzwischen ist das alle fünf Jahre stattfindende Sängerfest von der UNESCO sogar als "orales" Weltkulturerbe anerkannt. Beim ersten Sängerfest vor 140 Jahren standen gerade einmal 845 Mitwirkende auf der Bühne. Heute bietet sich den zigtausenden Besuchern, die sich auf der sanft abfallenden, einem Amphitheater gleichenden Wiese ein lauschiges Plätzchen gesucht haben, ein ganz anderer Anblick. Heute stehen 30 000 Sänger auf der riesigen Bühne.

    Die Chöre, die es bis auf die Bühne des Festplatzes schafften, mussten sich vorher strengen Prüfungen unterziehen. Lange Jahre ist Aet Matee selbst kreuz und quer durchs ganze Land gereist, um die besten Chöre des Landes für dieses Event zu casten. 20 000 Kilometer legte sie damals in nur einem Jahr zurück, um zu entscheiden, welche Chöre im Sommer nach Tallinn fahren dürfen und welche noch ein wenig üben müssen. Eine beachtliche Leistung in einem Land, das von West nach Ost nur 300 Kilometer misst. Heute ist Aet Matee Organisationsleiterin des Festivals

    "Die Lieder werden bei uns von Generation zu Generation weitergegeben. Natürlich kommt es immer auf die Auswahl der Lieder an, ob es einem Jugendlichen Spaß macht zu singen. Sie müssen den Sänger berühren. Er muss es singen wollen und darf nicht das Gefühl haben, dass er es singen muss. Und bei uns wollen so viele singen, dass wir nie alle Chöre teilnehmen lassen können, die hier teilnehmen wollen."

    40.000 Sänger haben sich in diesem Land, kaum größer als Niedersachsen, in Chören organisiert. Wenn eine solches Sangesmacht zusammenkommt mit einem Pool von 600 Dirigenten und weltbekannten Komponisten wie etwas Arvo Pärt, dann kann man wohl wirklich von einer "singenden Nation" sprechen, meint Aet lachend:

    Es sind der Nation beste Stimmen, die sich heute noch einmal zum größten Chor der Welt vereinen werden. Kein noch so kleiner Flecken ohne Gesandte, ein ganzes Land auf einer Bühne. Sie kommen aus Narva und Moisakula, aus Tartu und Otepää. Aus Tallinn und Belamaa. Selbst Trachten aus Kihvu sind zu sehen, einer einsam in der Ostsee treibenden Insel.

    Was das kleine Völkchen zu Sangesweltmeistern macht, dafür hat jeder Este eine andere, auf jeden Fall seine ganz eigene Erklärung. So auch diese Frau, die gestern beim ersten Konzert wie so viele auf der Festwiese einfach mit den Chören mitsang. Unsere Lieder, sagt sie auf Deutsch, sind wie die Menschen in den verschiedenen Jahreszeiten.

    "Im Sommer lächeln die Menschen viel mehr, sind aufgeschlossener, freundlich, glücklich. Im Winter, so ab November verschließen, schauen die Menschen immer mehr auf die Erde und einander nicht an. Werden müde, ein wenig traurig und verschlossen."

    So sind die estnischen Lieder mal süß und empfindsam wie der Frühling, mal edel und neckisch wie der Herbst, romantisch wie der Sommer oder dunkel wie so mancher langer Winterabend im Norden. Aber alle sind sie gewebt aus der wohlklingenden Sprache mit all den langgezogenen ii-, uu- oder ää-Lauten, von denen dem Besucher schon bald der Kopf angenehm schwirrt. "Sing mein Mund, sei froh mein Herz", heißt es in einem Lied. "Wenn du unter der Erde liegst, dann hast Zeit genug zu schweigen."