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Laune der Natur

Mit Sonnenschein ist die peruanische Hauptstadt Lima nicht verwöhnt. Neun Monate hängt der "Eselsbauch" über der Stadt. Heute leben hier etwa 11 Millionen Menschen, Tendenz steigend.

Von Wolfgang Martin Hamdorf | 02.01.2011
    Der Wind weht leise und der Himmel ist hellgrau. Hochnebel liegt über der Stadt und nur drei Monate lang scheint die Sonne. Schon 30 Kilometer außerhalb sieht das ganz anders aus. Die Stadt hat ein eigenes Mikroklima, das aus dem Zusammenstoß zweier Meeresströme entsteht. Der peruanische Kameramann Jorge Vignati ist besonders durch seine Arbeit mit Werner Herzog bekannt geworden:

    "Diesen grauen Himmel außerhalb der Sommermonate nennen wir Fotografen und Kameramänner "Eselsbauch". In Lima regnet es nicht, das hat mit der Meeresströmung "El niño" zu tun und der Himmel wirkt immer eintönig. Es gibt keine Wolken in Lima, der Himmel ist nie blau und es ist nicht einfach, gute Bilder zu machen. Aber das hängt natürlich auch von der Geschichte ab, weil diese Atmosphäre hat natürlich auch was."

    Die Kathedrale von Lima ist dem Touristen eigentlich nur zu einem Aufpreis als Museum geöffnet. Aber jeden Sonntag um 11.00 Uhr öffnen sich die schweren Tore der Kathedrale zur Messe. Die peruanische Kirche ist gespalten, einer der Hauptdenker der Theologie der Befreiung Gustavo Gutierrez ist Peruaner, der Erzbischof dagegen gehört zum konservativen Opus Dei. Das gewaltige Gebäude steht auf den Resten eines vorkolumbianischen Tempels.

    Die Kathedrale liegt an der "Plaza Mayor". Hier liegen die weltlichen und geistlichen Gewalten nah beieinander: Präsidentenpalast, Kathedrale und der Regierungssitz des Bürgermeisters. Eine Machtpräsentation mit kolonialen Fassaden, falschen Balkonen und einer langen Tradition, sagt der Schriftsteller Luis Lucha:

    " Alle diese Balkone sind aus dem Jahr 1938, als der Platz völlig renoviert wurde, da wurde der neue Regierungspalast und der neue Bischofspalast errichtet. Alle Balkone wurden im kolonialen Stil nachgebaut, bis auf diesen grünen, der kommt noch original aus der Kolonialzeit. Und der hat kleine Fensterchen, hinter denen die Kinder die öffentlichen Veranstaltungen beobachten konnten. Denn hier fanden alle großen Ereignisse statt, die Ankunft des Vizekönigs oder des Erzbischofs, die Trauerfeiern, Stierkämpfe, Wochenmarkt, die Ketzerverbrennungen der Inquisition, hier wurden Menschen gehenkt oder erschossen und Hahnenkämpfe gab es natürlich auch. Mehr als 300 Jahre war das hier das Zentrum."

    Am 18. Januar 1535 wurde Lima von dem spanischen Eroberer Francisco Pizarro gegründet. In einer kleinen Kapelle am Eingang der Kathedrale aus dem Jahre 1935 sollte Pizarros seine letzte Ruhe finden. Aber Dichtung und Wahrheit liegen in Lima eng beieinander, sagt Luis Lucho:

    "Die Kapelle wurde zum 400. Jahrestag der Stadtgründung gebaut und vor einer hohen Mauer im venezianischen Stil bettete man die Überreste des Stadtgründers in einen Glassarg. Aber dann in den 80er-Jahren entdeckte man, dass es gar nicht Francisco Pizarro war."

    Aber der Conquistador aus dem spanischen Extremadura bereitete auch später Kommunalpolitikern Kopfzerbrechen. So wurde das große Reiterstandbild des Eroberers 2002 auf Initiative des Bürgermeisters von der Plaza Mayor weg in den letzten Winkel des Parks geschafft. Sein Pferd streckt jetzt das Hinterteil dem brausenden Verkehr der Transamericana entgegen.

    Die Präsidentengarde zieht auf – jeden Sonntag um 12.00 Uhr. Ein alter Wasserwerfer steht auf dem Platz und erinnert an zahlreiche Demonstrationen und Volksaufstände in den letzten Jahrzehnten hier vor dem neoklassizistischen Regierungspalast.
    Wenig entfernt vom Zentrum der weltlichen und geistlichen Macht liegt das alte Wirtschaftszentrum des Landes.

    Die Innenstadt, das deklarierte Weltkulturerbe, zieht tagsüber die Touristen in Scharen an. In der Passage der ehemaligen Hauptpost bieten kleine Läden Souvenirs an. Die Fußgängerzone, die große alte Geschäftsstraße JIRON DE LA UNION kündet von vergangenem Wohlstand. Die großen Kaufhäuser im Zentrum der Stadt sind verödet.

    "Das ist eine Fußgängerzone und war eine großartige Einkaufsstraße. Heute ist sie leider etwas heruntergekommen, die Zeiten haben sich eben geändert. Aber bis in die 80er Jahre lagen hier die wichtigsten Geschäfte der Stadt und im 18. und 19. Jahrhundert gab es hier die exotischsten Dinge aus aller Welt: chinesische Seide, Schaumstoff von den Philippinen, französische Porzellan, spanische Schwerter. Alles gab es hier in dieser Straße und den fünf Nebenstraßen. Heute hat sich das alles vollständig verändert."

    Heute vermischen sich Geschäft und Armut, werden gegrillte Hähnchen, billiger Modeschmuck, Tätowierungen, schwarz gebrannte DVDs und andere Dienstleistungen angeboten. Die Fußgängerzone führt an Jugendstilgebäuden an leer stehenden Tanzsälen, und Konzerthallen wie dem "Le Palais Concert" vorbei. Manchmal finden hier noch Rock- und Underground-Konzerte statt.

    In der schönsten Kirche der Stadt in San Francisco geht es traditionell zu. Hier stehen die Schutzheiligen der einzelnen Provinzen und viele Gläubige sind aus dem Inland in die Hauptstadt gezogen und sprechen in erster Linie die zentralen indigenen Sprachen wie Amara oder Ketchua. In der Kirche der Franziskaner wird die Messe manchmal in diesen Sprachen gehalten. Bis zum letzten Winkel ist die barocke Pfarrkirche des Klosters gefüllt. In dichten Schwaden zieht Weihrauch durch das Kirchenschiff.
    Obwohl sich die Eliten der Hauptstadt immer spanisch, europäisch oder nordamerikanisch fühlten, kommt ein immer größerer Teil aus den ländlichen Regionen Perus in die Metropole auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Für den Film- und Theaterschauspieler Gustavo Bueno liegt hier der Grundkonflikt der Stadt Lima:

    "Lima ist ein Spiegel dieses peruanischen Dramas, der Ausgrenzung von Millionen Ketchua sprechender indigener Bevölkerungsgruppen, die in ihren Heimatprovinzen einfach keine Möglichkeit haben, sich weiter zu entwickeln. Es gibt Regionen in Peru, die sind so gotterbärmlich arm und einfach weit weg von jeder gesellschaftlichen Entwicklung und weit weg von jeder persönlichen Weiterentwicklung. Und an dieser Tragödie Perus leidet Lima ganz besonders."

    Unterdessen hat die Prozession die barocke Kirche von San Francisco verlassen. Die Gläubigen, die meisten von ihnen mit starkem indigenen Einschlag, tragen die Figuren der Jungfrau Maria und Christus. Die lebensgroßen Statuen sind aus filigranem Wachs gestaltet und bewegen sich schwankend vor der barocken Kulisse der Franziskaner Kirche. Von hier aus bietet sich ein Blick, der alle Gegensätze des Zentrums vereinigt: die Kirchtürme des historischen Zentrums, San Francisco, Santo Domingo der Platz am Fluss, die Transamericana, die Schnellstraße, die den amerikanischen Kontinent von Norden bis zum Süden vereint, der Fluss Rimaq und dahinter der Berg mit den Armenvierteln, der "Cerro de San Cristobal", mit seinen bunt bemalten Fassaden.

    Ein Strom aus Blech wälzt sich durch die Stadt. Die großen Durchgangsachsen werden renoviert und der Verkehr dringt unaufhaltsam in die Nebengassen. Der Fußgänger kann nur noch auf einen Stau hoffen und dann schlau durch die Lücke schlüpfen. Aber auch für den Autofahrer ist Lima eine Hölle, sagt Gustavo Bueno, der auf dem Weg zur Arbeit immer stecken bleibt:

    "Ich muss ja zu meiner Arbeit kommen. Wenn du dann im Auto sitzt, spürst du richtige Feindschaft. Das ist völlig irrational, aber du spürst Feindschaft dem anderen Autofahrer gegenüber, der neben dir im Stau steht. Das macht Stress, das macht uns fertig."

    Eine Schnellstraße führt an den Stränden aus grobem Sand vorbei. Hinter dem Hafen von Callao liegt eine kleine Idylle. "La punta" mit seinen kleinen Häusern, Fischrestaurants und dem Yachthafen. In den kleinen Restaurants am Strand merkt man die ganz unterschiedliche Einflüsse auf die Gastronomie. Vom Cerviche, dem rohen Fisch, Meeresfrüchten und der "sopa criolla", der traditionellen Landsuppe, bis zur Fusion der chinesischen Küche mit einem traditionellen peruanischen Einschlag, der sogenannten "Chifa". Für Gustavo Bueno ist die Gastronomie das eigentlich Lebenswerte der peruanischen Hauptstadt und lässt ihn auch die Widrigkeiten des Stadtverkehrs vergessen:

    "In Lima kommen gastronomische Einflüsse von Asien bis Spanien zusammen. Das ist ganz stark verwurzelt und hat eine ganz vielseitige Küchenkultur hervorgebracht. So stark, dass ich Lima als gastronomische Hauptstadt Lateinamerikas bezeichnen würde. Jeder Peruaner, jeder Limeño weiß, was er an dieser Vielfalt hat. Wenn wir verreisen, leiden wir, wenn wir diese Vielfalt nicht mehr haben."

    Die Mischung der Mentalitäten, Bräuche und Befindlichkeiten zeigt sich in der Gastronomie aber auch im Straßenbild: "Viva el Chino" steht immer noch an einer großen Hausfassade und bezieht sich auf den ehemaligen peruanischen Präsidenten Fujimoro, der von Anhängern und Feinden seiner japanischen Herkunft wegen "El chino", der Chinese, genannt wurde und der 2009 wegen Amtsmissbrauch und Menschenrechtsverletzung zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde.

    Während das Stadtzentrum sich abends leert, füllen sich die Bars und Tanzschuppen etwa um den Kennedy Park in Miraflores. Traditionelles peruanisches Tanzvergnügen steht neben Jazzkneipen, mit Bier und Pisco Sour, dem peruanischen Nationalgetränk. Die Unterschiedlichkeit seiner Stadtviertel macht den besonderen Charakter Limas aus, meint Lourdes Herrera, die in Lima für das Goethe-Institut arbeitet:

    "Das waren kleine Dörfer in der Nähe von Lima. Hier das Stadtviertel zum Beispiel Miraflores, das war ein Badeort für die Reichen. Hier in Miraflores, Baranco oder Chorillo verbrachten die besser gestellten Familien Limas den Sommer. Mit der Zeit ist das immer mehr zusammen gewachsen."

    Lima ist eine Stadt der Gegensätze, Mischungen und der sichtbaren und unsichtbaren Trennlinien. Eine Stadt bunt getünchter Elendsviertel und zerfallender großbürgerlicher Prestigebauten, eine Stadt der unterschiedlichsten Einflüsse, Fusionen und Mischungen, eine Hauptstadt mit Licht und Schatten wenig Sonne aber großer Lebensfreude.