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Lavaters Maske

Von Hofmannsthals Chandos-Brief bis zu Hildesheimers "Ende der Fiktionen", vom trotzigen, ästhetischen Abschwören der 68er bis zu Koeppens resigniertem Schweigen - die Geschichte der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts ließe sich auch als eine Geschichte höchst unterschiedlich motivierter Sprach-, Ausdrucks- und Erzählkrisen schreiben. Die Unzulänglichkeit der Sprache gegenüber einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit, aber auch die selbstkritische Einsicht in die dubiosen Rollenklischees einer Schrifstellerexistenz in literaturfeindlicher Zeit, erschüttern früher oder später jeden, der sich ernsthaft mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Literatur auseinandersetzt. Bewältigt werden diese Krisen - von den Ausnahmen radikalen Verstummens abgesehen - in der Regel schriftlich, in Form neuer Werke. Der Autor gleicht in solcher Bewältigung dem Baron von Münchhausen, der sich selbst am Schopf der Sprache mitsamt seinem Pegasus aus dem Sumpf der Krise herauszieht.

Klaus Modick |
    Der neue Roman des Berliner Schriftstellers Jens Sparschuh gehört in diese Tradition, erzählt er doch von der Erzählkrise eines Autors und bildet zugleich die Dekonstruktion eines immer fadenscheiniger werdenden Autoren-Ichs. Das klingt kompliziert, und ist auch in der Tat nicht ganz simpel gestrickt - leider aber auch ziemlich umständlich. Sparschuhs namenlosem Protagonisten, dem unverkennbar autobiographische Züge des Autors eingeschrieben sind, ist die Inspiration abhanden gekommen. Ihm fällt nichts mehr ein. Als ihn sein Agent auf ein neues Werk anspricht und dieser Anfrage dadurch Nachdruck verleiht, daß eine Filmproduktionsfirma Interesse bekundet habe, lügt der Erzähler, ohne zu wissen, warum, er arbeite an einem Buch über Lavater, den Zeitgenossen Goethes und Begründer der physiognomischen Lehre. Besser ein Filmexposé als gar kein Text!

    Der Erzähler, der gerade ein Literaturstipendium als Stadtschreiber in tiefster Provinz verzehrt, reist nach Zürich, um dort in der Zentralbibliothek Lavaters Nachlaß zu sichten. Er stößt in dem Handschriftenkonvolut auf die Gestalt Enslins, des Sekretärs Lavaters, der sich unter mysteriösen Umständen das Leben nahm, und beschließt, diese Figur ins Zentrum des Filmstoffs zu stellen. Zugleich macht er in Zürich die Bekanntschaft einer Frau, die sich gleichfalls für den Lavater-Nachlaß interessiert, freilich aus anderen Gründen, ist sie doch Mitarbeiterin einer Unternehmensberatung, die aus den Physiognomien von Bewerbern deren Charaktereigenschaften zu bestimmen versuchen. Zwischen den beiden entwickelt sich ein Flirt, der von der Dame insofern sehr eigennützig forciert wird, weil sie davon überzeugt ist, daß der Erzähler ein Lavater-Fragment an sich genommen hat, das für ihre Zwecke unverzichtbar scheint.

    Eingeschoben in diese Konstruktion liefert Sparschuh Impressionen der Autorenexistenz als Literaturstipendiat sowie einer Lesereise, während der der Erzähler weiter an dem Filmprojekt arbeitet und auch Kontakte zu dem notorisch nörgelnden Filmproduzenten aufnimmt. Nach zahlreichen unbefriedigenden Anläufen gelingt dem Erzähler schließlich ein Plot, der darauf hinausläuft, daß der Sekretär nicht sich selbst, sondern Lavater umgebracht und anschließend jahrelang in dessen Existenz geschlüpft weiterlebte - eben als Lavaters Maske. Autorschaft als Rolle, das Schauspieler- und Maskenhafte eines Schriftstellers, werden hier durchaus subtil vorgeführt und sollen sich mit dem Maskenmotiv des Lavaterstoffs kurzschließen.

    Aber diese gelegentlich angestrengt komplizierte Konstruktion tut dem Roman nicht sehr gut. Das Ganze leidet unter einer zentrumslosen Fahrigkeit, bildet eher eine Collage diverser Einfälle (bis hin zum Selbstzitat) denn eine erzählte Einheit. Möglicherweise ist diese Unkonzentriertheit von Sparschuh beabsichtigt, um die Desorientiertheit seines Helden vorzuführen. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Beschreibung des Fahrigen und einer fahrigen Beschreibung. Und eine Erzähl- oder Schreibkrise wird nicht einfach dadurch bewältigt, daß man sie gewissermaßen im O-Ton zu Papier und dann als Roman unter die Leute bringt. Und es scheint, als wolle Sparschuh dieses Manko vertuschen, indem er die Geschichte sprachlich in eine forcierte Munterkeit taucht, die im Detail oft ausgesprochen treffend und witzig ist, öfter aber auch nur schal bis albern vor sich hin kalauert. Sparschuh verfügt, wie wir schon aus seinen vorigen Büchern wissen, insbesondere aus seinem erfolgreichen Roman "Der Zimmerspringbrunnen", über ein bemerkenswertes Sensorium für die Doppelbödigkeit von Sprache und über einen listigen Sprachwitz. Der hat ihn hier zwar nicht verlassen, aber er wird überlagert von einem zwanghaftem Hang zur Pointe um jeden Preis. Die Erzählkrise des Protagonisten entpuppt sich solcherart als eine des Autors selbst.

    Bei der Beschreibung einer Autorenlesung heißt es einmal: "Aus der Oberfläche des sprudelnden Selters wurden immer neue winzige Perlen in den Lichtkegel der Leselampe geschleudert, wo sie für einen schwerelosen Moment bewegungslos in der Luft standen - sich auflösten, verschwanden, um neu auffliegenden Kügelchen das Luftfeld zu räumen." In diesem Zitat steckt, gewollt oder ungewollt, eine Charakteristik dieses Buchs, das auf der Suche nach Stoff und Thema nicht fündig wird, aber in winzigen Sprachperlen durchaus vergnügt sprudelt. Wenn der Schriftsteller Jens Sparschuh mit "Lavaters Maske" eine Schreibkrise bewältigen wollte, bleibt allerdings unbehaglich offen, ob ihm das gelungen ist oder nicht. Eine Antwort wird wohl erst - und hoffentlich - sein nächstes Buch geben. Der Roman "Lavaters Maske" bewältigt die Krise nämlich kaum - bestenfalls beschreibt er sie.