Ein junger Schauspieler auf den Spuren von Molière:
" Die Wanderung... mal ganz ehrlich: Wenn es sich darum gehandelt hätte, im Auto auf Tournee zu gehen, dann hätte ich nicht mitgemacht. Mir ging es um diese körperliche Erfahrung: Laufen - 25, 30 km am Tag..."
Und ein Schriftsteller und Philosoph über Momente des Glücks in der Natur:
" Mein Ziel ist nicht der Sport. Mein Ziel ist die (...) Lust, beim Wandern mit der Welt in Kommunikation zu treten und alle fünf Sinne zu schärfen."
Gesichter Europas: Le Bonheur en marchant oder: das Glück beim Wandern – Frankreich zu Fuß. Eine Sendung von Bettina Kaps. Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Simonetta Dibbern.
Le Bonheur
Der Wind bläst vom Meer, fegt über die grüne Hochebene, biegt Gräser und Pflanzen landeinwärts. Vor einem Kraut mit bläulich schimmernden Blättern bleibt Yves Paccalet stehen. Der hagere Mann mit der hohen Stirn und dem grauweißen Vollbart zieht einen kleinen Spiralblock aus der Tasche seines gelben Anoraks, notiert: chou maritime. Dann geht er vor dem Seekohl in die Hocke. Nachdenklich betrachtet er die unscheinbare Pflanze.
"Dieser Seekohl ist ein Vorfahre aller Kohlsorten, die wir heute essen. Unsere Urahnen aus der Zeit des Neolithikum haben festgestellt, dass die Blätter dieser wild wachsenden Pflanze gut essbar sind und haben sie dann angebaut. Das war ungefähr vor 7000 Jahren."
Der Seekohl blüht leuchtend gelb. Das ist nicht der beste Zeitpunkt für eine Kostprobe, macht ihn strenger im Geschmack. Paccalet rupft dennoch ein junges Blatt ab, zerreibt es zwischen den Fingern, riecht. Dann beißt er hinein.
"Wenn ich so eine ursprüngliche Pflanze sehe, dann mache ich eine Zeitreise und stelle mir vor, wie unsere Ahnen die ersten Schritte zur ihrer Kultivierung unternommen haben. Wer mag wohl damals zuerst ein solches Kohlblatt in den Mund genommen haben, voller Spannung: Ist es gut oder nicht, wird es mich vergiften? Oder werde ich es mit Genuss essen?"
Paccalet steht auf, geht weiter mit dem langsamen, aber gleichmäßigen Schritt des unermüdlichen Wanderers.
"Mein Ziel ist nicht der Sport. Mein Ziel ist die Lust. Natürlich vermittelt auch die körperliche Anstrengung Lustgefühle, aber mir geht es vor allem um die Lust, beim Wandern mit der Welt in Kommunikation zu treten und alle fünf Sinne zu schärfen."
Von den Klippen starten weiße Möwen zum Flug. Schwarze Dohlen gleiten mit weit ausgestreckten Schwingen im Wind. Paccalet greift wieder zum Stift, notiert: Goeland und Chouca. Armeria, Orchis Buffon, Löwenzahn ... Die Namen von Fauna und Flora der normannischen Landschaft füllen die Seiten. Paccalet kennt sie alle, erzählt ihre Herkunft, ihre Geschichte. Vor fast 40 Jahren hat er die Pariser Elitehochschulen absolviert, dort vor allem Philosophie studiert. Der 57-Jährige besitzt ein enzyklopädisches Wissen. Doch statt Karriere zu machen, hat er sich einer Leidenschaft verschrieben, die ihn schon als Kind in den französischen Alpen begeistert hatte: dem Wandern in der Natur.
"Mir macht es Freude, das leidenschaftliche Insekt auf der Haut der Erde zu spielen, in allen Winkeln des Planeten, den ich als Mutter betrachte. Ich erforsche die Erde mit meinen zwei Füßen. Überall gibt es Schönheit - und natürlich auch Hässlichkeit. Wenn ich abends am Ufer der Seine durch Paris laufe, bin ich begeistert. Wenn ich in Tibet zwischen dem Jangtsekiang und dem Mekong ins Gebirge steige, bin ich glücklich. Ebenso wenn ich in Amazonien laufe, dabei Kaimane und Riesenottern beobachte. Das sind Augenblicke des Glücks beim Wandern."
"Le Bonheur en marchant", das Glück beim Wandern – das ist der Titel eines der zahlreichen Bücher von Yves Paccalet, Schriftsteller und passionierter Wanderer – er ist einer von rund 15 Millionen Franzosen, ein Viertel der Bevölkerung also, die regelmäßig ihre Stiefel schnüren und den Rucksack packen. Regelmäßig, das heißt: zwei- bis dreimal im Monat; eine Grande randonnée, also ein ausgiebiger Ausflug zu Fuß, dauert im Durchschnitt dreieinhalb Stunden. Und gar jeder zweite Franzose wandert ab und zu, in der Natur, durch seine Stadt, auf den Spuren von Künstlern, aus gesundheitlichen Gründen oder zur Entspannung: Seit Mitte der 90er Jahre hat die Franzosen die Wanderlust stärker gepackt denn je – die Féderation Française de Randonnée Pédestre, die nationale französische Wandervereinigung, konnte in den letzten fünf Jahren einen Mitgliederzuwachs von zehn Prozent verzeichnen.
Rund 300.000 Kilometer im Sinne des Wortes ausgezeichnete Wanderwege überziehen das Land, neben regionalen gibt es die nationalen, die GR, Sentiers de Grandes Randonnées, rot-weiß markiert und durchnummeriert, vom Elsass bis nach Korsika, von der Bretagne bis in die Alpen. 120.000 Kilometer sind es insgesamt, nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet und bis heute zentral verwaltet vom FFRP in Paris – instand gehalten werden die Wege von Freiwilligen vor Ort. Sie sorgen dafür, dass die Natur sich die Pfade nicht zurückerobert, sie schneiden Büsche und Ranken zurück und malen die Markierungen nach. Zum Beispiel auf dem sentiers des douaniers, dem alten Küstenpfad der Zöllner bei Marseille.
"Diese Drahtbürste dient dazu, den Felsen zu säubern. Den Staub putze ich mit einem Lappen weg und dann kommt der Pinsel dran.
Wenn die Markierungen zu lang sind, verkürzen wir sie ein bißchen -
- mit dem Riffelhammer.
Wir setzen die Markierungen nicht auf Bäume, denn die können verschwinden, weil es hier oft Brände gibt."
Henriette, Raymond und Henri. Drei Spezialisten für die Auszeichnung von Wanderwegen. Henriette trägt Stahlbürste und Putzlumpen im Rucksack. Ihr Mann packt Meissel und Riffelhammer ein, nimmt noch zwei grobe Sägemesser und eine Heckenschere. Henri, der Hobbymaler, kümmert sich um Farben und Pinsel. Es ist Donnerstag. Das ist der Tag, an dem die Rentner des Wandervereins von Marseille die Wege im Reich der Calanques instand halten. Woche für Woche. Das karstige Bergmassiv im Süden der Stadt kennen sie wie ihre Westentaschen. Aber an der Richtungstafel machen sie dennoch Halt.
Das hier ist also ein Zugang zu den Calanques. Die Tafel zeigt vier Wege an: Der blaue Weg führt in das Fischerdorf Morgiou, der braune zum Col Moutte, der schwarze nach Callelongue und dann geht hier noch der GR ab in rot und weiß, das ist der große Wanderweg, der Marseille mit Cassi verbindet.
Raymond betrachtet das sandfarbene Schild, fährt die Inschriften mit dem Finger nach. Die Tafel ist sein Werk. Zusammen mit seinen Freunden hat er den massiven Sockel aus Zement gegossen, sorgfältig verputzt, dann die Ortsnamen eingraviert und farbig ausgemalt. Perfekte Arbeit. Wer hier los geht, kann seinen Weg nicht verfehlen.
Raymond nimmt den braun markierten Pfad, der zum Pass führt. Er trägt ein schwarz-rot-kariertes Holzfällerhemd, blaue Kniebundhosen, nackte Waden. Die silberweissen Haare im Borstenschnitt lassen sein wettergegerbtes Gesicht dunkel erscheinen. Der ehemalige Bankangestellte wohnt in einer Parterrewohnung im Zentrum von Marseille. Das Küstenmassiv ist sein riesengroßer Garten. 17 Jahre schon pflegt er die Wege. Früher wurden sie nur markiert. Raymond fing an, sie auch freizuräumen, Büsche und Bäume zu beschneiden, die Seiten zu befestigen. Heute ist er der Motor der Gruppe: Der 75-Jährige überlegt, was zu tun ist, teilt seinen Freunden die Arbeit zu.
"In den Calanques gehen viele Menschen spazieren, die nicht auf den Wegen bleiben. Sie laufen kreuz und quer. Dadurch entstehen unzählige Pfade. Wer sich nicht auskennt, verliert die Orientierung. Wir versuchen, jeweils einen Weg auszuwählen. Den machen wir etwas breiter und zeichnen ihn aus, weil wir die Leute auf die Wege ziehen wollen. Denn wenn sie blindlings alles zertrampeln, dann bilden sich Rinnen und die Erde wird weggeschwemmt."
Zwischen rosa blühenden Tamarisken und dunkelgrünen Seekiefern führt der Pfad deutlich erkennbar über den felsigen Boden. Alle paar Meter taucht die Markierung auf: ein brauner Strich auf einem Felsblock. Weg und Auszeichnung - alles haben sie geschaffen. Hin und wieder säumen Felsblöcke den Pfad. Auf einmal schauen die Wanderer besorgt.
"Das ist jetzt Mode: die Leute wollen schnurstracks gehen. Wenn der Weg eine Kurve macht, schneiden sie ab und gehen quer. Das beschädigt die Wege. Oh la la! Ohlalalala! Et voilà. Da müssen wir wieder von vorn anfangen."
Die Steine sind weggerutscht. Der Pfad franst aus. Die Drei bücken sich, räumen Geröll zur Seite, rollen große Steine an den Rand. Nächstes Mal werden sie Schaufeln mitnehmen, um die Blöcke tiefer im Boden zu verankern. Henri sorgt sich um die Zukunft der empfindlichen Landschaft.
"Wenn man auf eine junge Kiefer tritt, erdrückt man den kleinen Stamm. Der Baum geht ein. Es reicht schon, dass es in dem Massiv so oft brennt. Der Hang dort vorne war früher ganz bewaldet, da gab es einen wunderbaren Weg mit großen Kiefern. Das Feuer hat alles vernichtet, da wächst jetzt nichts mehr. Das ist jetzt eine Wüste, leider."
Henri ist der älteste in der Gruppe. Der ehemalige Geografielehrer geht mühsam, zwei lange Wanderstöcke geben ihm Halt. Der Mann hat seinen Stolz: Niemand darf ihm helfen, während er als letzter den Gipfel erklimmt. Zufrieden betrachtet er die sauberen Markierungen auf dem Fels. Das ist seine Arbeit: zehn Zentimeter lang, zwei Zentimeter breit. Ganz nach Vorschrift. Die hat der Dachverband der Wandervereine in Paris definiert. Früher, da wurde ganz unbefangen markiert: mit breitem Pinsel, die Striche bis zu einem halben Meter lang. Wenn Henri, Henriette und Raymond alte Wegmarken sehen, juckt es ihnen in den Fingern.
"Erst gehen wir mit der Bürste rüber, um alle Felssplitter zu entfernen. Dann übermalen wir die alten Markierungen. Es sieht nicht schön aus, wenn wir nur die Hälfte übermalen. Da kommt dann Raymond und verkürzt sie unerbittlich mit seinem Riffelhammer."
"Bewundert mal die Arbeit unseres Künstlers Henri. Schaut, wie gut das geschrieben ist."
"Es ist nicht einfach, auf diesem unförmigen Felsen zu schreiben. Gar nicht einfach. Aber mit Geduld schafft man es."
Malen ist seine Leidenschaft: zuhause kopiert Henri seine Lieblingsmaler, Cezanne, Pissaro oder Baselitz. Wenn über die Calanque der Mistral bläst, legt er sich schon mal bäuchlings auf die Felsen, damit die Ortsangaben auch ganz sauber werden.
Der Weg wird immer felsiger, die Wanderer nehmen die Hände zur Hilfe. 400 Höhenmeter sind wir gestiegen. Wir erreichen ein Plateau, suchen einen windgeschützen Platz für die Mittagspause. Zwischen lila blühendem Thymian und stark duftendem Rosmarin packen wir das Picknick aus.
"Das ist sehr sehr wichtig, das Mittagessen darf man nicht verpatzen. Als Aperitif gibt es einen kleinen Pastis, außerdem habe ich meinen Orangenwein mitgebracht, dazu essen wir Radischen und Oliven. Dann probieren wir reihum unsere Weine. Später trinken wir dann Kaffee und reichen die Plätzchen herum..."
Raymond streckt die Beine aus, legt sich aufs Moos, pfeift ein Chanson. Hinter uns ist Marseille zu sehen, mit seinen Hochhäusern, dem Hafen und der Kirche Notre-Dame-de-la-Garde, die wie ein Leuchtturm über die Stadt wacht. Vor uns erstreckt sich die gezackte Küste mit ihren tief eingeschnittenen Meeresbuchten, den Calanques. Drei Inseln liegen im blaugrünen Wasser, grobe Klötze, menschenleer.
Henriette und Henri schauen in die Weite. Für diese Landschaft, diesen Blick wollen sie noch oft ausrücken mit all ihrem Werkzeug im Rucksack.
Bevor der Mensch wanderte, ging er. Er ging zur Kirche, zur Arbeit, musste anstrengende Fußmärsche in Kauf nehmen, um von einem Ort zum anderen zu kommen – und war froh, wenn er sich ein Pferd oder einen Wagen leisten konnte und später glücklich über die Erfindung der Eisenbahn. Freiwillig ging kaum einer zu Fuß – ausgenommen Künstler und Philosophen vielleicht auf der Suche nach Visionen und Inspirationen. Wie Dante Alighieri und wie Petrarca, als Erster freiwillig den Mont Ventoux erklomm, um die Welt von oben zu sehen: der Beginn des Humanismus. Erst 400 Jahre später entdeckte der aufklärende Denker Jean-Jacques Rousseau die Schönheit der Natur, fand auf den Bergen Weitblick und Raum für freies Denken, rühmte Klima und Luft: sein Credo "Retournons à la nature" wurde zum Grundsatz der Romantiker und hallt bis in unser Jahrhundert. Rousseau ist der erste überzeugte Fußwanderer – und ein Suchender auch. Lange bevor er in seinen melancholisch-düsteren "Träumereien des einsamen Spaziergängers" über das Fremdsein in der Welt philosophiert, beschreibt er in den Bekenntnissen weniger die Wanderungen, die er als junger Mann unternommen hat: von Genf nach Paris, später auch nach Lyon – als vielmehr die Lust am unterwegs sein: zu Fuß.
Rousseau: Bekenntnisse
Was ich im Hinblick auf die Einzelheiten meines Lebens, die ich aus der Erinnerung verloren habe, am meisten bedauere, ist, dass ich keine Tagebücher über meine Reisen geführt habe. Nie habe ich so viel nachgedacht, nie war ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewusst, nie war ich sozusagen mehr ich selbst als auf den Reisen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe. Im Wandern liegt etwas meine Gedanken Anfeuerndes und Belebendes, und ich kann kaum denken, wenn ich mich nicht vom Platz rühre; mein Körper muss in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll. Der Anblick des freien Feldes, der Wechsel angenehmer Aussichten, die frische Luft, der gute Appetit, das Wohlbefinden, das sich beim Wandern einstellt, die Ungebundenheit des Gasthauslebens, die Entfernung von allem, was mich meine Abhängigkeit fühlen lässt, von allem, was mich an meine Lage erinnert – all das befreit meine Seele, gibt mir eine größere Kühnheit der Gedanken, schleudert mich gewissermaßen hinein in die unendliche Mannigfaltigkeit der Wesen, mit der Kraft, sie zu verbinden, sie auszuwählen, sie mir nach Gefallen, ohne Scheu und Furcht, anzueignen. Ich verfüge als Herr über die ganze Natur; mein Herz, von Gegenstand zu Gegenstand gaukelnd, verbindet sich verschmilzt sich mit denen, die ihm zusagen, umgibt sich mit reizenden Bildern, berauscht sich an seligen Empfindungen. Oh, hätte man die Gedanken meiner ersten Jugend sehen können, die während meiner Reisen entstanden, die ich gestaltete und niemals niederschrieb ...! Warum, wird man sagen, schriebst du sie nicht nieder? Und warum hätte ich sie niederschreiben sollen? Gebe ich zur Antwort. Warum mich der Lust des gegenwärtigen Genusses berauben, um andern von vergangenem Genusse zu sprechen? Was bedeuteten mir Leser, Publikum, die ganze Welt, indes ich in den Himmeln schwebte? Im Übrigen: Trug ich denn Papier und Feder bei mir? Wenn ich an das alles gedacht hätte, wäre mir nichts eingefallen. Ich sah nicht voraus, dass mir Gedanken kommen würden; sie erscheinen, wenn es ihnen, nicht, wenn es mir gefällt. Sie kommen entweder gar nicht oder in Menge, sie erdrücken mich durch ihre Zahl und ihre Kraft. Zehn Bände täglich, würden nicht genügt haben. Woher sollte ich die Zeit nehmen, sie zu schreiben? Bei der Ankunft dachte ich nur an eine gute Mahlzeit, beim Aufbruch nur daran, frisch drauflos zu marschieren. Ich wusste, dass vor dem Tore ein neues Paradies meiner warte, und dachte nur daran, es zu suchen.
Jean-Jacques Rousseau blieb gar nichts anderes übrig als frisch drauflos zu marschieren – in der Hoffnung, sich nicht zu verirren und vor Einbruch der Nacht eine Herberge zu finden: Topografische Karten für Wanderer gab es Anfang des 18. Jahrhunderts noch nicht, die uralte Form der Wegbeschreibungen dagegen längst nicht mehr. Früher nämlich wurden auch in Europa Landkarten in Liedern gezeichnet: der Gesang entsprach dem Rhythmus des Gehens, Flussläufe konnten in Melodien beschrieben werden, ebenso Blätterrauschen, Vogelstimmen, polternde Steine. Entwickelt von Druiden und Schamanen, tradiert von fahrenden Sängern.
Gesungen wird heute nur noch während des Gehens, der moderne Wanderer kann sich auf die gut ausgezeichneten Wegweiser verlassen – wenn er sie denn sieht. Im Wanderverein "La Patte Agile" aus Paris ist jeder Zweite auf seine Ohren angewiesen, und auf seine Füße.
La Patte agile
Ein Zug hält in Ozoir – la Ferrière. Wanderer steigen aus. Viele werden von ihren Hunden geführt. Vier, acht, zwölf, 14, 15 große Tiere trotten durch die Sperren, fast alles Labradors mit rundem Kopf und hell- oder dunkelbraunem Fell. Sie tragen Glöckchen am Halsband und bimmeln wie Ziegen auf einer Bergwiese.
Die Hunde gehen bei Fuß. Sie wirken aufgeregt, schnüffeln erregt, aber keiner zieht und einer, der bellt, fällt auf wie ein Mensch, der sich daneben benimmt. Herren und Hunde sammeln sich auf dem Vorplatz. Die Frauen und Männer zögern einen Augenblick, horchen, dann drehen sie sich nach rechts, folgen dem Klang einer Frauenstimme.
Die Wanderer scharen sich um die Frau, die sie zählen will, doch es gelingt ihr nicht. Es sind zu viele und die Nachzügler haben den Bahnhof noch immer nicht verlassen. Elisabeth hat die Tour organisiert, fühlt sich verantwortlich. Sie ist groß und schlank, hat blaue Augen und lange blonde Haare, die bis in den Rücken fallen. Elisabeth sieht. Aber ihre Stimme trägt nicht weit. Michel Rossetti übernimmt das Kommando. Er überragt sie um einen Kopf. Mit seinem krausen Vollbart und den grau gelockten Haaren, die er zu einem kleinen Zopf zusammengebunden hat, erinnert er an Moustaki. Nur die Augen, die erkennt man nicht. Der 54-Jährige verbirgt sie hinter einer hellbraunen Sonnenbrille.
"Wir sind... ich weiß nicht, wie viele wir sind. Jetzt laufen wir erst mal ein Stück, und dann zählen wir uns ganz in Ruhe. Wir kommen sofort in den Wald, 200 Meter von hier. Wir machen einen Spaziergang von rund 15 Kilometern. Dabei müssen wir nur eine einzige Straße überqueren. Wir sind heute eine große Gruppe. Deshalb appelliere ich an die Sehenden unter uns: Bitte schaut noch aufmerksamer als sonst, benutzt beide Augen, um die Hunde zu überwachen. Wir werden sie hin und wieder zurückrufen. Weil es so viele sind, machen wir das ein bisschen öfter als sonst. "
Nicht nur die Hunde, auch die Wanderer sind aufgeregt. Sie lärmen so fröhlich wie eine Schulklasse beim Ausflug. Michel greift nach Elisabeths Arm, das Paar geht voran, die Gruppe folgt. Hinter dem Bahngleis beginnt der Wald. Elisabeth schaut sich um. Jetzt geht´s, sagt sie leise. Auf diesen Augenblick haben die Blinden und ihre Hunde gewartet. Michel gibt das Kommando: "Ihr könnt das Geschirr abnehmen und die Hunde laufen lassen."
Das Rudel jagt los. Die Hunde stürzen sich in die Wasserläufe links und rechts des Wegs, suhlen im Schlamm, krabbeln wieder raus, schütteln das Fell, bis die Tropfen nach allen Seiten spritzen, streifen mit dem nassen Körper vertrauensvoll um ihre Besitzer, und rennen wieder fort, japsend vor Freude. Michel schnürt das Geschirr an seinem Rucksack fest: ein breiter Lederriemen mit weißem Plastikbügel zum Festhalten. Den braucht er jetzt nicht mehr. Im Wald haben die Hunde frei. Das ist der Zweck des Ausflugs.
"Oft lehnen es die Wandervereine ab, wenn sich ein Blinder allein mit seinem Hund einschreiben will. Sie schieben Probleme vor, mit den Versicherungen und so. Klar, wenn der Blinde seinen Hund laufen lässt, braucht er jemanden, der ihn führt. Aber das ist nicht kompliziert. Wir wissen nicht, ob sie die Hunde ablehnen oder die Blinden. Nun ja, die Hunde stellen wirklich ein kleines Problem dar. Manch einer mag es nicht, wenn sie vollkommen nass aus dem Wasser kommen und sich an den Beinen reiben."
Vor acht Jahren bekam Michel seinen ersten Blindenhund - Icare. Damals suchte er einen Ausgleich, um den Stress abzubauen, den der Alltag in der Großstadt verursacht. Weil die beiden nirgends willkommen waren, gründete er den Wanderverein "Die flinke Pfote". Seither machen sich die blinden Wanderer gemeinsam mit ihren sehenden Freunden alle 14 Tage auf die Socken, denn dass, so sagen sie, sind sie ihren Hunden schuldig.
"Heute habe ich einen neuen Hund dabei, den ich bislang nur am Wochenende nehme, eine Hündin. Sie heißt Sixteen und ist dort drüben im Wasser, ich höre ihr Glöckchen. Wir wandern heute gute 15 km, aber die Hunde, die laufen mindestens das Doppelte."
Der große Mann beugt sich nach unten, streckt die Hand aus, hält sie erwartungsvoll ins Leere, wartet geduldig. Ein paar Sekunden vergehen, dann kommt die Hündin angerannt, schmiegt sich gehorsam an die offene Hand. Sie ist 20 Monate alt, wird noch in der Schule für Blindenhunde dressiert. Im Juni soll Sixteen den Job des alten Icare übernehmen.
Michel gibt dem Hund einen liebevollen Klaps, das Tier rennt fort, er geht allein weiter. Der Weg ist matschig. Die Sehenden weichen den Pfützen aus, die Blinden tappen hinein. Michel hat schon nasse Füße.
"Unser Problem besteht darin, dass wir nicht antizipieren können. Wir spüren die Art des Bodens erst, wenn ihn der Fuß berührt. Vorhin waren die Wege sehr schlammig. Ein Sehender kann im Voraus überlegen, welchen Weg er wählt. Wir tappen rein. Und müssen alle Stöße auffangen, hauen uns die Füße an. Das schlaucht. Ich merke den Unterschied zu vorher, als ich noch sehen konnte. Jetzt tun mir abends die Füße weh."
Michel hat sein Augenlicht vor 13 Jahren verloren. Netzhautablösung. Elisabeth beschreibt ihm den Laubwald, das frische Grün der Büsche, den wolkenlosen Himmel, erzählt, dass ein Zitronenfalter vorbeiflattert.
"Eins ist sicher: Seit ich nicht mehr sehen kann, habe ich viel weniger Freude am wandern. Heute scheint die Sonne, das spüre ich immerhin. Aber wie ist das Unterholz in dieser Jahreszeit, wie sieht die Landschaft aus ... Obwohl unsere Begleiter manches beschreiben, empfinde ich nicht mehr dasselbe Vergnügen. Aber mal abgesehen davon: Ein Blinder kann ohne Probleme wandern gehen."
Die Statistik des FFRP, des französischen Wandervereins, besagt, dass zwei Drittel der aktiven Wanderer Frauen sind, das Durchschnittsalter liegt bei Mitte 50 - meistens sind es die Großeltern, die die Wanderlust an ihre Enkel weitergeben.
Nicht eingerechnet bei dieser Rechnung sind die professionellen Wanderer, die Cheminots zum Beispiel. Cheminot – so heißen alle Angestellten der Eisenbahn in Frankreich, nach dem französischen Wort für Schienen: chemin de fer, wörtlich: Weg aus Eisen. Doch unter den cheminot gibt es einige, die tatsächlich langsam ihres Weges ziehen. Schritt für Schritt gehen sie regelmäßig die Gleise ab, überprüfen den Zustand von Schwellen und Böschungen – sie sind Garanten der Sicherheit. Auch im Zeitalter von Satellitenbeobachtung und Videoüberwachung kann die Bahn auf den Fußmarsch ihrer Kontrolleure nicht verzichten.
Cheminot
Jean-Christophe zieht eine zitronengelbe Weste über den Wollpullover, steckt einen Kreidestift in die Hosentasche, befestigt sein Maßband am Gürtel. Zuvor hat er die Schuhe gewechselt: Neben der reflektierenden Weste sind Sicherheitsschuhe mit Kappen und Sohlen aus Metall vorgeschrieben. In der Hand hält er ein schwarzes Notizbuch. Das ist die Ausrüstung des Streckenläufers.
Der junge Mann mit der drahtigen Figur arbeitet im Bahnhof von Auxerre. Zu Füßen des Büros erstreckt sich seine Marschroute: die Gleise bis Cravant, dann gabelt sich die Strecke, führt westlich nach Clamecy und östlich nach Avallon. 90 Kilometer Schotter, Schwellen, Schienen. Der Streckenläufer geht sie in kleinen Etappen ab, den Blick nach unten gerichtet. Sieben Kilometer pro Kontrollgang, mehr ist nicht möglich bei dieser Arbeit.
"Ich schaue mir das Bahngleis im Ganzen an, ob es Probleme mit den Halterungen gibt, die das Gleis auf der Schwelle fixieren. Wenn mal eine fehlt, ist es nicht schlimm, aber zwei oder drei hintereinander – das ist nicht so gut. Außerdem kontrolliere ich die gesamte Infrastruktur, achte darauf, ob Bäume gestutzt werden müssen, beobachte die Oberfläche des Schotterbetts und die Schwellen. Das ist eine ganze Menge ..."
Jean-Christophe macht große Schritte, unter seinen Füßen geben die Steine nach. Es ist Frühling, ein warmer Tag. Graugrüne Eidechsen zucken zusammen, huschen im letzten Augenblick zur Seite. Der Streckenläufer lässt den Blick schweifen, denn das Stück, das er heute kontrollieren will, beginnt erst einen Kilometer weiter.
"Dort hinten beginnen die Weinberge. Da wächst ein Saint Brie, Weißwein und Rotwein. Die Yonne fließt bis Clamecy parallel zur Bahnlinie, und wenn ich nach Avallon gehe, begleitet mich erst die Curé und dann noch ein anderer Bach, der Cousin. Außerdem sehe ich den Felsen von Saussoi, da fährt der Zug direkt dran vorbei. Das ist auch mein Abschnitt. Da werden sie jetzt bald wieder klettern. Und dann all die Kanäle zu beiden Seiten der Strecke mit den Ausflugsbooten ... bei gutem Wetter bekomme ich da so was wie ein Feriengefühl."
Fünf Jahre schon läuft er diese Strecke ab. Alle neun Monate beginnt er von vorn, den roten Kuli in der Hand, notiert Dellen, misst Risse aus, zählt fehlende Schrauben ... Wenn es nieselt, spricht er die Mängel in ein Diktiergerät. Nur bei starkem Regen verschiebt er die Tour. Im letzten Winter war es manchmal hart, da musste er auch bei Minusgraden ausrücken.
Für die Bahn ist diese Gegend Hinterland: die Anlagen sind alt, an der Wartung wird gespart. Deshalb muss Jean-Christophe seine Strecke öfter kontrollieren als die Kollegen in anderen Regionen. Plötzlich tritt er vom Gleis.
Der Schienenbus von Clamecy. 110 Stundenkilometer. Jean-Christophe hat sein Kommen gehört. Er vertraut seinen Ohren. Nur wenn auf den Feldern neben der Bahn Traktoren lärmen, guckt Jean-Christophe manchmal hoch, um zu sehen, ob ein Zug anrollt, von vorn oder von hinten. Die Linie ist eingleisig und wenig befahren.
14 Jahre war Jean-Christophe in einer Brigade, die bei Paris die Gleisanlagen repariert. In dieser Zeit hat er sich hochgearbeitet, erzählt er stolz, Prüfungen bestanden, wurde Streckenläufer. Der Eisenbahner geht in die Knie, schaut flach über das Gleis, entdeckt eine Unebenheit: Da drückt der Lehm hoch.
Im Büro wird er später eine Brigade anweisen, den Kollegen mitteilen, was er bei seinem Fußmarsch gesehen hat, was repariert werden muss.
"Es ist eine interessante Arbeit, weil sie an der Luft stattfindet. Ich bin in der Natur, zu jeder Jahreszeit. Das gefällt mir, da kann ich dem Alltag entfliehen mit seinen Problemen. Ich bin draußen und ich bin allein. So bekomme ich Abstand von den Sorgen meiner Kollegen und auch von meinen eigenen Sorgen. Hier kann ich meinen Rhythmus selbst bestimmen, meine Arbeit weitgehend allein organisieren. Ich bin freier."
Kurz nachdem die ersten Eisenbahnen durch Europa fuhren, gab Karl Baedeker 1839 seinem ersten Reiseführer den Untertitel "Handbuch für Schnellreisende". Mit der Industrialisierung wurde das Reisen bequemer, die Gefährlichkeit der Natur schien zähmbar – und damit zum ersten Mal reizvoll. Ebenso wie die Langsamkeit. Der erste Alpenwanderverein wurde 1857 in England gegründet, in Deutschland 12 Jahre später. Um 1900 wird das Wandern zur Massenbewegung und zur Ideologie in vielen Ländern Europas, verbunden mit Körperkultur, Volksliedern und Sagen - die Wander- und Jugendbewegungen erfassen alle gesellschaftlichen Schichten. Auch in Frankreich – hier allerdings einige Jahrzehnte später. In den Städten flanierten zwar schon im 19. Jahrhundert die Flaneure, bei Ausflügen aufs Land erfanden sie das Pique-nique - die zum größten Teil arme Landbevölkerung aber wollte sich in ihrer Freizeit nicht auch noch körperlich ertüchtigen. Erst mit der Einführung des bezahlten Urlaubs 1936 gab es erste Anfänge einer Wanderbewegung in Frankreich, in der Bevölkerung wuchs das Bedürfnis nach frischer Luft und Naturerlebnissen. Und immer zahlreicher wurden die Touristen im eigenen Land, in Alpen und Mittelgebirgen vor allem - auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseau.
Wenn ich von meinen Reisen erzähle, geht's mir wie beim Reisen selbst; ich komme nie zum Ziel. Ich wandre gern nach meinem Gefallen und mache halt, wenn es mir passt. Ein Wanderleben ist das, was ich brauche. Zu Fuß meinen Weg machen, bei schönem Wetter, (...) in schöner Landschaft, ohne Eile, als Ziel meiner Reise vor mir etwas Angenehmes, diese Lebensweise ist am meisten von allen nach meinem Geschmack. Man weiß ja, was ich unter einer schönen Landschaft verstehe. Niemals erschien mir ebenes Land so, mochte es an sich noch so schön sein. Ich brauche Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, bergauf und bergab holpernde Wege, Abgründe neben mir, dass ich Angst bekomme. Dies Vergnügen kostete ich in seinem ganzen Reiz aus, als ich mich Chambéry näherte. Nicht weit von einem steil abfallenden Berg unterhalb der großen Straße schießt in schauerlichen Abgründen zischend ein kleiner Fluss hinab, der Tausende von Jahren gebraucht haben muss, um sich Bahn zu brechen. Man hat die Straße, um Unfälle zu verhüten, mit einer Brustwehr versehen, daher konnte ich bis auf den Grund blicken und mich ganz nach Gefallen vom Schwindel packen lassen; denn das Lustige an meiner Vorliebe für abschüssige Stellen ist eben, dass ich schwindlig davon werde und dass mir dieser Schwindel sehr angenehm ist, wenn ich dabei nur in Sicherheit bin. Fest auf meine Brustwehr gestützt, streckte ich die Nase vor, und so blieb ich ganze Stunden, in denen von Zeit zu Zeit der Gischt und das blaue Wasser hinaufschimmerten, dessen Gebrüll ich durch die Schreie der Raben und Raubvögel hindurch vernahm, die sich hundert Klafter unter mir von Fels zu Fels und von Busch zu Busch schwangen. An den Stellen, wo der Abfall steil und das Strauchwerk licht genug war, dass man Steine hinunterwerfen konnte, suchte ich mir solche von weit her und so groß, wie ich sie zu schleppen vermochte, trug sie auf der Brustwehr zu einem Haufen zusammen, und dann, einen nach dem andern hinabschleudernd, ergötzte ich mich daran, zu sehen, wie sie rollten, aufprallten und in tausend Splittern zerbarsten, ehe sie den Grund der Schlucht erreichten.
Die Wahrnehmung der Natur, verbunden mit freiwilliger körperlicher Anstrengung – das romantische Ideal des Wanderers, wie es Rousseau propagierte, ist ein Privileg der Neuzeit. Und heute, im Zeitalter der permanenten technischen Beschleunigung ein notwendiger Gegenentwurf zum globalen Geschwindigkeitsrausch. Zu Fuß unterwegs zu sein ist schick – dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass solche Vagabunden, ob sie nun Fahrende oder Gehende waren, ob reisende Kaufleute, Handwerksgesellen oder Künstler, zur untersten Stufe der Gesellschaft gehörten. Zeigten sie doch, dass sie nichts hatten, angewiesen waren auf die Gastfreundschaft der Sesshaften. Schon die alten Griechen unterschieden zwischen den geachteten Schauspielern der antiken Komödie und den geächteten Mimen, die über die Jahrmärkte zogen. Im Hochmittelalter waren es die Vaganten, die in ihren Liedern vom Leben auf der Straße erzählten – Molière griff im 17. Jahrhundert diese Tradition auf und zog acht Jahre lang mit seiner Wandertruppe durch die französische Provinz.
Aus Elementen der Commedia dell`Arte und immer in engem Kontakt zum Publikum entwickelte er dabei die französische Komödie. Auf den Spuren von Molière machen sich auch die jungen Schauspieler des "Théâtre de Jour" aus Agen regelmäßig auf: 6 Wochen lang wandern sie zu Fuß durch Aquitanien, spielen in kleinen verschlafenen Dörfer zwischen Bordeaux und der spanischen Grenze. 1000 Kilometer insgesamt, mit zwei abendfüllenden Stücken im Gepäck, nur die Requisiten werden im Lastwagen transportiert.
Molière
Daignac, 420 Einwohner. Eine Kirche, eine Grundschule, eine Kneipe, die auch Zigaretten verkauft, eine Metzgerei und eine gelbe Allzweckhalle. Die Häuser des Dorfes liegen verstreut zwischen Gemüsebeeten, Weinbergen und einem Bach. Fenster und Türen sind geschlossen, kein Mensch ist zu sehen. Auf der Hauptstraße rast hin und wieder ein Auto durch das Dorf. Plötzlich taucht eine bunte Truppe auf.
Junge Frauen in weiten Kleidern mit Miedern, Schürzen und Spitzen; die Männer tragen helle Hemden mit bauschigen Ärmeln. Einige haben rote Schärpen um die Taille gebunden. Sie laufen durch alle Straßen und Gassen. Sie trommeln, flöten, singen, lassen bunte Bänder flattern. Laut sind sie, stören die Ruhe des Dorfes. Ein junger Mann hält den orange leuchtenden Signalkegel einer Baustelle als Flüstertüte vor den Mund.
"Heute Abend um 20 Uhr, im Festsaal von Daignac, führen die Schauspieler der Kompanie Pierre Debauche ein Kabarett auf, Le Voyage Imaginaire, die imaginäre Reise, Texte, Lieder, Gedichte ... Heute Abend für Sie, Mesdames et Messieurs, der Eintritt ist frei!"
Ein Fenster geht auf, ein alter Mann lehnt sich heraus. Kinder laufen in die Gärten, schauen dem wilden Zug verwundert nach. Der Umzug endet vor dem gelben Gemeindesaal. Thierry Jennaud lässt sich auf den Rasen fallen, gähnt. Der junge Mann mit den zerzausten schwarzen Haaren ist schmal und feingliedrig. Bei der Parade schlug er energisch die Trommel. Jetzt wirkt er wie ausgepumpt. Seit fünf Wochen ist er unterwegs, seit über 30 Tagen geht er zu Fuß von Dorf zu Dorf, um das Theater zu den Menschen zu bringen. Allein heute hat die Truppe 22 Kilometer in den Knochen. Knapp zwei Stunden bleiben ihm jetzt, um Kraft zu tanken. Am Abend steht Thierry wieder auf der Bühne, singt, tanzt und verbreitet Charme wie Yves Montand, sein großes Vorbild.
Thierry ist kein Sportler. Den jungen Schauspieler kostet es jeden Morgen Überwindung, die schweren Wanderschuhe zuzubinden und aufzubrechen. Und dennoch hat ihn diese Tournee nur deshalb gereizt, weil sie zu Fuß stattfindet. Er will spüren, wie sein Körper auf diese Anstrengung reagiert und wie sie sein Spiel beeinflusst.
"Die Wanderung ... mal ganz ehrlich: Wenn es sich darum gehandelt hätte, im Auto auf Tournee zu gehen, dann hätte ich nicht mitgemacht. Mir ging es um diese körperliche Erfahrung: Laufen - 25, 30 km am Tag ... Manche sagen, für sie sei es einfacher zu spielen, wenn sie körperlich erschöpft sind. Dass die Müdigkeit den Stress wegnimmt. Für mich gilt das nicht, ganz im Gegenteil. Vor allem zu Beginn der Tournee, da hatten wir den Rhythmus noch nicht im Griff, sind zu langsam gegangen und kamen erst spät an. Dadurch blieb uns keine Zeit zum Ausruhen, wir mussten uns sofort kostümieren und proben ... Mir fiel es schwer, dann noch aufzutreten, aber wir haben natürlich trotzdem gespielt. "
20 Uhr, die Bühne steht: ein langes Podium aus alten Dielenbrettern, so hoch wie ein Tisch, umgeben von wackeligen Bänken. Dahinter ragt ein Mastbaum hoch bis unter die Decke. Mit seinem Aussichtskorb erinnert er an ein Schiff.
"Man hat uns nicht auf die Straße geworfen, nein, wir haben die Straße erobert, sie gehört uns. Abrakadabra, ein Wunder: Wir verwandeln Daignac in eine große Theaterbühne. Wir spielen heute Abend für Sie! Freier Eintritt für jedermann. Alle finden Platz."
Ein neuer Tag, eine neue Strecke. Das Ziel heißt: Château Montlau. Auf dem Weingut werden sie am Abend das Theaterstück "Alienor" aufführen. Die Schauspieler beugen sich über ihre Wanderkarten, jeder einzelne sucht und markiert sich seinen Weg. Einige nehmen Umwege in Kauf, um befahrene Straßen zu vermeiden, andere wollen dem Ufer der Dordogne folgen, die hier breit und gemächlich dem Atlantik entgegenfließt.
Es ist eine langsame Reise, voller Ungewissheit, gar nicht zeitgemäß. Sie wissen nicht, ob das Wetter hält, ob sie draußen spielen oder drinnen, wie viel Publikum kommt. Sie ahnen nicht einmal, ob sie wirklich willkommen sind, denn nicht immer ist der Empfang so herzlich wie in Daignac. Willy Michardière erzählt - während er die Straße verlässt und einen Weg durch die Weinberge einschlägt - von einem katastrophalen Abend: Vier Erwachsene und drei Kinder saßen im Saal und zu essen gab es auch nichts.
"Wir machen diese Arbeit, um Menschen zu treffen. Unser Beruf besteht darin, dass wir uns von Begegnungen nicht nur inspirieren lassen, nein, wir ernähren uns davon, damit wir die Personen, die wir verkörpern, auch lebendig machen können. Wenn wir zu Hause bleiben, uns als Künstler abschotten, nur um den eigenen Bauchnabel kreisen, dann werden wir es nicht weit bringen. Diese Tournee gibt uns die Möglichkeit, aus uns heraus zu gehen. Wir sind jetzt ohne Orientierungspunkte, ohne festen Wohnsitz. Täglich ziehen wir weiter, bauen unser Bett woanders auf. Oft hausen wir in schäbigen Räumen, in Sporthallen, Festsälen. Da ist nur noch eins wichtig: die Begegnung. ...- Jetzt bin ich ganz außer Atem!"
Willy bleibt stehen, schaut sich um. Der Wind ist kühl. Zwischen den Weinstöcken tuckert ein Traktor. Am Horizont zeichnen sich helle Gebäude ab, die Stadtmauern und die Kirche von Saint-Emilion. Diese Tournee ist für ihn ein wahres Geschenk, sagt er, eine Erfahrung, die in seinem Leben vielleicht einmalig bleiben wird.
Eine Lindenallee führt zum Schloss. Hinter einem hohen schmiedeeisernen Gitter erstreckt sich das alte Gebäude mit runden Türmen und Torgängen. Ein Lippizaner streckt seinen Kopf über die halb geöffnete Stalltür. Obwohl es kalt ist, strömen die Zuschauer in den Hof, viele hüllen sich in Wolldecken. Theater ist in dieser Gegend ein seltenes Ereignis.
"Zwischen Geschichte und Legende: wir erzählen auf unsere Weise das Leben von Aliénor von Aquitanien.
... reine de France, reine d´Angleterre, reine des troubadours...
... Königin von Frankreich, Königin von England, Königin der Troubadoure"
... Mit Schwung und Humor inszeniert die Truppe das wechselvolle Leben einer außergewöhnlichen Frau, die im 12. Jahrhundert in Aquitanien lebte und das Herzogtum durch ihre zweite Heirat an England vermachte. Das Spiel packt die Schauspieler, alle Müdigkeit ist verscheucht, niemand scheint die Kälte zu spüren.
Die Spannung fällt langsam ab. Die Schauspieler sind glücklich. Es war ein gelungener Auftritt, vor einer prächtigen Kulisse und zahlreichen Zuschauern. Am kommenden Morgen brechen sie wieder auf, marschieren weiter, in ein anderes Dorf. Doch jetzt wird gegessen und gefeiert.
Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag: Le Bonheur en marchant oder: das Glück beim Wandern – Frankreich zu Fuß. Eine Sendung von Bettina Kaps. Mit Ausflügen in die Normandie, in die Calanques von Marseille, in die Umgebung von Paris, ins Burgund und nach Aquitanien. Die Ausschnitte aus den "Bekenntnissen" von Jean-Jacques Rousseau las Josef Tratnik – und am Mikrofon verabschiedet sich im Namen des ganzen Teams Simonetta Dibbern.
Literatur:
Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse
1996 Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich
Übersetzer: Alfred Semerau (58 Zeilen / Länge 5'01)
" Die Wanderung... mal ganz ehrlich: Wenn es sich darum gehandelt hätte, im Auto auf Tournee zu gehen, dann hätte ich nicht mitgemacht. Mir ging es um diese körperliche Erfahrung: Laufen - 25, 30 km am Tag..."
Und ein Schriftsteller und Philosoph über Momente des Glücks in der Natur:
" Mein Ziel ist nicht der Sport. Mein Ziel ist die (...) Lust, beim Wandern mit der Welt in Kommunikation zu treten und alle fünf Sinne zu schärfen."
Gesichter Europas: Le Bonheur en marchant oder: das Glück beim Wandern – Frankreich zu Fuß. Eine Sendung von Bettina Kaps. Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Simonetta Dibbern.
Le Bonheur
Der Wind bläst vom Meer, fegt über die grüne Hochebene, biegt Gräser und Pflanzen landeinwärts. Vor einem Kraut mit bläulich schimmernden Blättern bleibt Yves Paccalet stehen. Der hagere Mann mit der hohen Stirn und dem grauweißen Vollbart zieht einen kleinen Spiralblock aus der Tasche seines gelben Anoraks, notiert: chou maritime. Dann geht er vor dem Seekohl in die Hocke. Nachdenklich betrachtet er die unscheinbare Pflanze.
"Dieser Seekohl ist ein Vorfahre aller Kohlsorten, die wir heute essen. Unsere Urahnen aus der Zeit des Neolithikum haben festgestellt, dass die Blätter dieser wild wachsenden Pflanze gut essbar sind und haben sie dann angebaut. Das war ungefähr vor 7000 Jahren."
Der Seekohl blüht leuchtend gelb. Das ist nicht der beste Zeitpunkt für eine Kostprobe, macht ihn strenger im Geschmack. Paccalet rupft dennoch ein junges Blatt ab, zerreibt es zwischen den Fingern, riecht. Dann beißt er hinein.
"Wenn ich so eine ursprüngliche Pflanze sehe, dann mache ich eine Zeitreise und stelle mir vor, wie unsere Ahnen die ersten Schritte zur ihrer Kultivierung unternommen haben. Wer mag wohl damals zuerst ein solches Kohlblatt in den Mund genommen haben, voller Spannung: Ist es gut oder nicht, wird es mich vergiften? Oder werde ich es mit Genuss essen?"
Paccalet steht auf, geht weiter mit dem langsamen, aber gleichmäßigen Schritt des unermüdlichen Wanderers.
"Mein Ziel ist nicht der Sport. Mein Ziel ist die Lust. Natürlich vermittelt auch die körperliche Anstrengung Lustgefühle, aber mir geht es vor allem um die Lust, beim Wandern mit der Welt in Kommunikation zu treten und alle fünf Sinne zu schärfen."
Von den Klippen starten weiße Möwen zum Flug. Schwarze Dohlen gleiten mit weit ausgestreckten Schwingen im Wind. Paccalet greift wieder zum Stift, notiert: Goeland und Chouca. Armeria, Orchis Buffon, Löwenzahn ... Die Namen von Fauna und Flora der normannischen Landschaft füllen die Seiten. Paccalet kennt sie alle, erzählt ihre Herkunft, ihre Geschichte. Vor fast 40 Jahren hat er die Pariser Elitehochschulen absolviert, dort vor allem Philosophie studiert. Der 57-Jährige besitzt ein enzyklopädisches Wissen. Doch statt Karriere zu machen, hat er sich einer Leidenschaft verschrieben, die ihn schon als Kind in den französischen Alpen begeistert hatte: dem Wandern in der Natur.
"Mir macht es Freude, das leidenschaftliche Insekt auf der Haut der Erde zu spielen, in allen Winkeln des Planeten, den ich als Mutter betrachte. Ich erforsche die Erde mit meinen zwei Füßen. Überall gibt es Schönheit - und natürlich auch Hässlichkeit. Wenn ich abends am Ufer der Seine durch Paris laufe, bin ich begeistert. Wenn ich in Tibet zwischen dem Jangtsekiang und dem Mekong ins Gebirge steige, bin ich glücklich. Ebenso wenn ich in Amazonien laufe, dabei Kaimane und Riesenottern beobachte. Das sind Augenblicke des Glücks beim Wandern."
"Le Bonheur en marchant", das Glück beim Wandern – das ist der Titel eines der zahlreichen Bücher von Yves Paccalet, Schriftsteller und passionierter Wanderer – er ist einer von rund 15 Millionen Franzosen, ein Viertel der Bevölkerung also, die regelmäßig ihre Stiefel schnüren und den Rucksack packen. Regelmäßig, das heißt: zwei- bis dreimal im Monat; eine Grande randonnée, also ein ausgiebiger Ausflug zu Fuß, dauert im Durchschnitt dreieinhalb Stunden. Und gar jeder zweite Franzose wandert ab und zu, in der Natur, durch seine Stadt, auf den Spuren von Künstlern, aus gesundheitlichen Gründen oder zur Entspannung: Seit Mitte der 90er Jahre hat die Franzosen die Wanderlust stärker gepackt denn je – die Féderation Française de Randonnée Pédestre, die nationale französische Wandervereinigung, konnte in den letzten fünf Jahren einen Mitgliederzuwachs von zehn Prozent verzeichnen.
Rund 300.000 Kilometer im Sinne des Wortes ausgezeichnete Wanderwege überziehen das Land, neben regionalen gibt es die nationalen, die GR, Sentiers de Grandes Randonnées, rot-weiß markiert und durchnummeriert, vom Elsass bis nach Korsika, von der Bretagne bis in die Alpen. 120.000 Kilometer sind es insgesamt, nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet und bis heute zentral verwaltet vom FFRP in Paris – instand gehalten werden die Wege von Freiwilligen vor Ort. Sie sorgen dafür, dass die Natur sich die Pfade nicht zurückerobert, sie schneiden Büsche und Ranken zurück und malen die Markierungen nach. Zum Beispiel auf dem sentiers des douaniers, dem alten Küstenpfad der Zöllner bei Marseille.
"Diese Drahtbürste dient dazu, den Felsen zu säubern. Den Staub putze ich mit einem Lappen weg und dann kommt der Pinsel dran.
Wenn die Markierungen zu lang sind, verkürzen wir sie ein bißchen -
- mit dem Riffelhammer.
Wir setzen die Markierungen nicht auf Bäume, denn die können verschwinden, weil es hier oft Brände gibt."
Henriette, Raymond und Henri. Drei Spezialisten für die Auszeichnung von Wanderwegen. Henriette trägt Stahlbürste und Putzlumpen im Rucksack. Ihr Mann packt Meissel und Riffelhammer ein, nimmt noch zwei grobe Sägemesser und eine Heckenschere. Henri, der Hobbymaler, kümmert sich um Farben und Pinsel. Es ist Donnerstag. Das ist der Tag, an dem die Rentner des Wandervereins von Marseille die Wege im Reich der Calanques instand halten. Woche für Woche. Das karstige Bergmassiv im Süden der Stadt kennen sie wie ihre Westentaschen. Aber an der Richtungstafel machen sie dennoch Halt.
Das hier ist also ein Zugang zu den Calanques. Die Tafel zeigt vier Wege an: Der blaue Weg führt in das Fischerdorf Morgiou, der braune zum Col Moutte, der schwarze nach Callelongue und dann geht hier noch der GR ab in rot und weiß, das ist der große Wanderweg, der Marseille mit Cassi verbindet.
Raymond betrachtet das sandfarbene Schild, fährt die Inschriften mit dem Finger nach. Die Tafel ist sein Werk. Zusammen mit seinen Freunden hat er den massiven Sockel aus Zement gegossen, sorgfältig verputzt, dann die Ortsnamen eingraviert und farbig ausgemalt. Perfekte Arbeit. Wer hier los geht, kann seinen Weg nicht verfehlen.
Raymond nimmt den braun markierten Pfad, der zum Pass führt. Er trägt ein schwarz-rot-kariertes Holzfällerhemd, blaue Kniebundhosen, nackte Waden. Die silberweissen Haare im Borstenschnitt lassen sein wettergegerbtes Gesicht dunkel erscheinen. Der ehemalige Bankangestellte wohnt in einer Parterrewohnung im Zentrum von Marseille. Das Küstenmassiv ist sein riesengroßer Garten. 17 Jahre schon pflegt er die Wege. Früher wurden sie nur markiert. Raymond fing an, sie auch freizuräumen, Büsche und Bäume zu beschneiden, die Seiten zu befestigen. Heute ist er der Motor der Gruppe: Der 75-Jährige überlegt, was zu tun ist, teilt seinen Freunden die Arbeit zu.
"In den Calanques gehen viele Menschen spazieren, die nicht auf den Wegen bleiben. Sie laufen kreuz und quer. Dadurch entstehen unzählige Pfade. Wer sich nicht auskennt, verliert die Orientierung. Wir versuchen, jeweils einen Weg auszuwählen. Den machen wir etwas breiter und zeichnen ihn aus, weil wir die Leute auf die Wege ziehen wollen. Denn wenn sie blindlings alles zertrampeln, dann bilden sich Rinnen und die Erde wird weggeschwemmt."
Zwischen rosa blühenden Tamarisken und dunkelgrünen Seekiefern führt der Pfad deutlich erkennbar über den felsigen Boden. Alle paar Meter taucht die Markierung auf: ein brauner Strich auf einem Felsblock. Weg und Auszeichnung - alles haben sie geschaffen. Hin und wieder säumen Felsblöcke den Pfad. Auf einmal schauen die Wanderer besorgt.
"Das ist jetzt Mode: die Leute wollen schnurstracks gehen. Wenn der Weg eine Kurve macht, schneiden sie ab und gehen quer. Das beschädigt die Wege. Oh la la! Ohlalalala! Et voilà. Da müssen wir wieder von vorn anfangen."
Die Steine sind weggerutscht. Der Pfad franst aus. Die Drei bücken sich, räumen Geröll zur Seite, rollen große Steine an den Rand. Nächstes Mal werden sie Schaufeln mitnehmen, um die Blöcke tiefer im Boden zu verankern. Henri sorgt sich um die Zukunft der empfindlichen Landschaft.
"Wenn man auf eine junge Kiefer tritt, erdrückt man den kleinen Stamm. Der Baum geht ein. Es reicht schon, dass es in dem Massiv so oft brennt. Der Hang dort vorne war früher ganz bewaldet, da gab es einen wunderbaren Weg mit großen Kiefern. Das Feuer hat alles vernichtet, da wächst jetzt nichts mehr. Das ist jetzt eine Wüste, leider."
Henri ist der älteste in der Gruppe. Der ehemalige Geografielehrer geht mühsam, zwei lange Wanderstöcke geben ihm Halt. Der Mann hat seinen Stolz: Niemand darf ihm helfen, während er als letzter den Gipfel erklimmt. Zufrieden betrachtet er die sauberen Markierungen auf dem Fels. Das ist seine Arbeit: zehn Zentimeter lang, zwei Zentimeter breit. Ganz nach Vorschrift. Die hat der Dachverband der Wandervereine in Paris definiert. Früher, da wurde ganz unbefangen markiert: mit breitem Pinsel, die Striche bis zu einem halben Meter lang. Wenn Henri, Henriette und Raymond alte Wegmarken sehen, juckt es ihnen in den Fingern.
"Erst gehen wir mit der Bürste rüber, um alle Felssplitter zu entfernen. Dann übermalen wir die alten Markierungen. Es sieht nicht schön aus, wenn wir nur die Hälfte übermalen. Da kommt dann Raymond und verkürzt sie unerbittlich mit seinem Riffelhammer."
"Bewundert mal die Arbeit unseres Künstlers Henri. Schaut, wie gut das geschrieben ist."
"Es ist nicht einfach, auf diesem unförmigen Felsen zu schreiben. Gar nicht einfach. Aber mit Geduld schafft man es."
Malen ist seine Leidenschaft: zuhause kopiert Henri seine Lieblingsmaler, Cezanne, Pissaro oder Baselitz. Wenn über die Calanque der Mistral bläst, legt er sich schon mal bäuchlings auf die Felsen, damit die Ortsangaben auch ganz sauber werden.
Der Weg wird immer felsiger, die Wanderer nehmen die Hände zur Hilfe. 400 Höhenmeter sind wir gestiegen. Wir erreichen ein Plateau, suchen einen windgeschützen Platz für die Mittagspause. Zwischen lila blühendem Thymian und stark duftendem Rosmarin packen wir das Picknick aus.
"Das ist sehr sehr wichtig, das Mittagessen darf man nicht verpatzen. Als Aperitif gibt es einen kleinen Pastis, außerdem habe ich meinen Orangenwein mitgebracht, dazu essen wir Radischen und Oliven. Dann probieren wir reihum unsere Weine. Später trinken wir dann Kaffee und reichen die Plätzchen herum..."
Raymond streckt die Beine aus, legt sich aufs Moos, pfeift ein Chanson. Hinter uns ist Marseille zu sehen, mit seinen Hochhäusern, dem Hafen und der Kirche Notre-Dame-de-la-Garde, die wie ein Leuchtturm über die Stadt wacht. Vor uns erstreckt sich die gezackte Küste mit ihren tief eingeschnittenen Meeresbuchten, den Calanques. Drei Inseln liegen im blaugrünen Wasser, grobe Klötze, menschenleer.
Henriette und Henri schauen in die Weite. Für diese Landschaft, diesen Blick wollen sie noch oft ausrücken mit all ihrem Werkzeug im Rucksack.
Bevor der Mensch wanderte, ging er. Er ging zur Kirche, zur Arbeit, musste anstrengende Fußmärsche in Kauf nehmen, um von einem Ort zum anderen zu kommen – und war froh, wenn er sich ein Pferd oder einen Wagen leisten konnte und später glücklich über die Erfindung der Eisenbahn. Freiwillig ging kaum einer zu Fuß – ausgenommen Künstler und Philosophen vielleicht auf der Suche nach Visionen und Inspirationen. Wie Dante Alighieri und wie Petrarca, als Erster freiwillig den Mont Ventoux erklomm, um die Welt von oben zu sehen: der Beginn des Humanismus. Erst 400 Jahre später entdeckte der aufklärende Denker Jean-Jacques Rousseau die Schönheit der Natur, fand auf den Bergen Weitblick und Raum für freies Denken, rühmte Klima und Luft: sein Credo "Retournons à la nature" wurde zum Grundsatz der Romantiker und hallt bis in unser Jahrhundert. Rousseau ist der erste überzeugte Fußwanderer – und ein Suchender auch. Lange bevor er in seinen melancholisch-düsteren "Träumereien des einsamen Spaziergängers" über das Fremdsein in der Welt philosophiert, beschreibt er in den Bekenntnissen weniger die Wanderungen, die er als junger Mann unternommen hat: von Genf nach Paris, später auch nach Lyon – als vielmehr die Lust am unterwegs sein: zu Fuß.
Rousseau: Bekenntnisse
Was ich im Hinblick auf die Einzelheiten meines Lebens, die ich aus der Erinnerung verloren habe, am meisten bedauere, ist, dass ich keine Tagebücher über meine Reisen geführt habe. Nie habe ich so viel nachgedacht, nie war ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewusst, nie war ich sozusagen mehr ich selbst als auf den Reisen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe. Im Wandern liegt etwas meine Gedanken Anfeuerndes und Belebendes, und ich kann kaum denken, wenn ich mich nicht vom Platz rühre; mein Körper muss in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll. Der Anblick des freien Feldes, der Wechsel angenehmer Aussichten, die frische Luft, der gute Appetit, das Wohlbefinden, das sich beim Wandern einstellt, die Ungebundenheit des Gasthauslebens, die Entfernung von allem, was mich meine Abhängigkeit fühlen lässt, von allem, was mich an meine Lage erinnert – all das befreit meine Seele, gibt mir eine größere Kühnheit der Gedanken, schleudert mich gewissermaßen hinein in die unendliche Mannigfaltigkeit der Wesen, mit der Kraft, sie zu verbinden, sie auszuwählen, sie mir nach Gefallen, ohne Scheu und Furcht, anzueignen. Ich verfüge als Herr über die ganze Natur; mein Herz, von Gegenstand zu Gegenstand gaukelnd, verbindet sich verschmilzt sich mit denen, die ihm zusagen, umgibt sich mit reizenden Bildern, berauscht sich an seligen Empfindungen. Oh, hätte man die Gedanken meiner ersten Jugend sehen können, die während meiner Reisen entstanden, die ich gestaltete und niemals niederschrieb ...! Warum, wird man sagen, schriebst du sie nicht nieder? Und warum hätte ich sie niederschreiben sollen? Gebe ich zur Antwort. Warum mich der Lust des gegenwärtigen Genusses berauben, um andern von vergangenem Genusse zu sprechen? Was bedeuteten mir Leser, Publikum, die ganze Welt, indes ich in den Himmeln schwebte? Im Übrigen: Trug ich denn Papier und Feder bei mir? Wenn ich an das alles gedacht hätte, wäre mir nichts eingefallen. Ich sah nicht voraus, dass mir Gedanken kommen würden; sie erscheinen, wenn es ihnen, nicht, wenn es mir gefällt. Sie kommen entweder gar nicht oder in Menge, sie erdrücken mich durch ihre Zahl und ihre Kraft. Zehn Bände täglich, würden nicht genügt haben. Woher sollte ich die Zeit nehmen, sie zu schreiben? Bei der Ankunft dachte ich nur an eine gute Mahlzeit, beim Aufbruch nur daran, frisch drauflos zu marschieren. Ich wusste, dass vor dem Tore ein neues Paradies meiner warte, und dachte nur daran, es zu suchen.
Jean-Jacques Rousseau blieb gar nichts anderes übrig als frisch drauflos zu marschieren – in der Hoffnung, sich nicht zu verirren und vor Einbruch der Nacht eine Herberge zu finden: Topografische Karten für Wanderer gab es Anfang des 18. Jahrhunderts noch nicht, die uralte Form der Wegbeschreibungen dagegen längst nicht mehr. Früher nämlich wurden auch in Europa Landkarten in Liedern gezeichnet: der Gesang entsprach dem Rhythmus des Gehens, Flussläufe konnten in Melodien beschrieben werden, ebenso Blätterrauschen, Vogelstimmen, polternde Steine. Entwickelt von Druiden und Schamanen, tradiert von fahrenden Sängern.
Gesungen wird heute nur noch während des Gehens, der moderne Wanderer kann sich auf die gut ausgezeichneten Wegweiser verlassen – wenn er sie denn sieht. Im Wanderverein "La Patte Agile" aus Paris ist jeder Zweite auf seine Ohren angewiesen, und auf seine Füße.
La Patte agile
Ein Zug hält in Ozoir – la Ferrière. Wanderer steigen aus. Viele werden von ihren Hunden geführt. Vier, acht, zwölf, 14, 15 große Tiere trotten durch die Sperren, fast alles Labradors mit rundem Kopf und hell- oder dunkelbraunem Fell. Sie tragen Glöckchen am Halsband und bimmeln wie Ziegen auf einer Bergwiese.
Die Hunde gehen bei Fuß. Sie wirken aufgeregt, schnüffeln erregt, aber keiner zieht und einer, der bellt, fällt auf wie ein Mensch, der sich daneben benimmt. Herren und Hunde sammeln sich auf dem Vorplatz. Die Frauen und Männer zögern einen Augenblick, horchen, dann drehen sie sich nach rechts, folgen dem Klang einer Frauenstimme.
Die Wanderer scharen sich um die Frau, die sie zählen will, doch es gelingt ihr nicht. Es sind zu viele und die Nachzügler haben den Bahnhof noch immer nicht verlassen. Elisabeth hat die Tour organisiert, fühlt sich verantwortlich. Sie ist groß und schlank, hat blaue Augen und lange blonde Haare, die bis in den Rücken fallen. Elisabeth sieht. Aber ihre Stimme trägt nicht weit. Michel Rossetti übernimmt das Kommando. Er überragt sie um einen Kopf. Mit seinem krausen Vollbart und den grau gelockten Haaren, die er zu einem kleinen Zopf zusammengebunden hat, erinnert er an Moustaki. Nur die Augen, die erkennt man nicht. Der 54-Jährige verbirgt sie hinter einer hellbraunen Sonnenbrille.
"Wir sind... ich weiß nicht, wie viele wir sind. Jetzt laufen wir erst mal ein Stück, und dann zählen wir uns ganz in Ruhe. Wir kommen sofort in den Wald, 200 Meter von hier. Wir machen einen Spaziergang von rund 15 Kilometern. Dabei müssen wir nur eine einzige Straße überqueren. Wir sind heute eine große Gruppe. Deshalb appelliere ich an die Sehenden unter uns: Bitte schaut noch aufmerksamer als sonst, benutzt beide Augen, um die Hunde zu überwachen. Wir werden sie hin und wieder zurückrufen. Weil es so viele sind, machen wir das ein bisschen öfter als sonst. "
Nicht nur die Hunde, auch die Wanderer sind aufgeregt. Sie lärmen so fröhlich wie eine Schulklasse beim Ausflug. Michel greift nach Elisabeths Arm, das Paar geht voran, die Gruppe folgt. Hinter dem Bahngleis beginnt der Wald. Elisabeth schaut sich um. Jetzt geht´s, sagt sie leise. Auf diesen Augenblick haben die Blinden und ihre Hunde gewartet. Michel gibt das Kommando: "Ihr könnt das Geschirr abnehmen und die Hunde laufen lassen."
Das Rudel jagt los. Die Hunde stürzen sich in die Wasserläufe links und rechts des Wegs, suhlen im Schlamm, krabbeln wieder raus, schütteln das Fell, bis die Tropfen nach allen Seiten spritzen, streifen mit dem nassen Körper vertrauensvoll um ihre Besitzer, und rennen wieder fort, japsend vor Freude. Michel schnürt das Geschirr an seinem Rucksack fest: ein breiter Lederriemen mit weißem Plastikbügel zum Festhalten. Den braucht er jetzt nicht mehr. Im Wald haben die Hunde frei. Das ist der Zweck des Ausflugs.
"Oft lehnen es die Wandervereine ab, wenn sich ein Blinder allein mit seinem Hund einschreiben will. Sie schieben Probleme vor, mit den Versicherungen und so. Klar, wenn der Blinde seinen Hund laufen lässt, braucht er jemanden, der ihn führt. Aber das ist nicht kompliziert. Wir wissen nicht, ob sie die Hunde ablehnen oder die Blinden. Nun ja, die Hunde stellen wirklich ein kleines Problem dar. Manch einer mag es nicht, wenn sie vollkommen nass aus dem Wasser kommen und sich an den Beinen reiben."
Vor acht Jahren bekam Michel seinen ersten Blindenhund - Icare. Damals suchte er einen Ausgleich, um den Stress abzubauen, den der Alltag in der Großstadt verursacht. Weil die beiden nirgends willkommen waren, gründete er den Wanderverein "Die flinke Pfote". Seither machen sich die blinden Wanderer gemeinsam mit ihren sehenden Freunden alle 14 Tage auf die Socken, denn dass, so sagen sie, sind sie ihren Hunden schuldig.
"Heute habe ich einen neuen Hund dabei, den ich bislang nur am Wochenende nehme, eine Hündin. Sie heißt Sixteen und ist dort drüben im Wasser, ich höre ihr Glöckchen. Wir wandern heute gute 15 km, aber die Hunde, die laufen mindestens das Doppelte."
Der große Mann beugt sich nach unten, streckt die Hand aus, hält sie erwartungsvoll ins Leere, wartet geduldig. Ein paar Sekunden vergehen, dann kommt die Hündin angerannt, schmiegt sich gehorsam an die offene Hand. Sie ist 20 Monate alt, wird noch in der Schule für Blindenhunde dressiert. Im Juni soll Sixteen den Job des alten Icare übernehmen.
Michel gibt dem Hund einen liebevollen Klaps, das Tier rennt fort, er geht allein weiter. Der Weg ist matschig. Die Sehenden weichen den Pfützen aus, die Blinden tappen hinein. Michel hat schon nasse Füße.
"Unser Problem besteht darin, dass wir nicht antizipieren können. Wir spüren die Art des Bodens erst, wenn ihn der Fuß berührt. Vorhin waren die Wege sehr schlammig. Ein Sehender kann im Voraus überlegen, welchen Weg er wählt. Wir tappen rein. Und müssen alle Stöße auffangen, hauen uns die Füße an. Das schlaucht. Ich merke den Unterschied zu vorher, als ich noch sehen konnte. Jetzt tun mir abends die Füße weh."
Michel hat sein Augenlicht vor 13 Jahren verloren. Netzhautablösung. Elisabeth beschreibt ihm den Laubwald, das frische Grün der Büsche, den wolkenlosen Himmel, erzählt, dass ein Zitronenfalter vorbeiflattert.
"Eins ist sicher: Seit ich nicht mehr sehen kann, habe ich viel weniger Freude am wandern. Heute scheint die Sonne, das spüre ich immerhin. Aber wie ist das Unterholz in dieser Jahreszeit, wie sieht die Landschaft aus ... Obwohl unsere Begleiter manches beschreiben, empfinde ich nicht mehr dasselbe Vergnügen. Aber mal abgesehen davon: Ein Blinder kann ohne Probleme wandern gehen."
Die Statistik des FFRP, des französischen Wandervereins, besagt, dass zwei Drittel der aktiven Wanderer Frauen sind, das Durchschnittsalter liegt bei Mitte 50 - meistens sind es die Großeltern, die die Wanderlust an ihre Enkel weitergeben.
Nicht eingerechnet bei dieser Rechnung sind die professionellen Wanderer, die Cheminots zum Beispiel. Cheminot – so heißen alle Angestellten der Eisenbahn in Frankreich, nach dem französischen Wort für Schienen: chemin de fer, wörtlich: Weg aus Eisen. Doch unter den cheminot gibt es einige, die tatsächlich langsam ihres Weges ziehen. Schritt für Schritt gehen sie regelmäßig die Gleise ab, überprüfen den Zustand von Schwellen und Böschungen – sie sind Garanten der Sicherheit. Auch im Zeitalter von Satellitenbeobachtung und Videoüberwachung kann die Bahn auf den Fußmarsch ihrer Kontrolleure nicht verzichten.
Cheminot
Jean-Christophe zieht eine zitronengelbe Weste über den Wollpullover, steckt einen Kreidestift in die Hosentasche, befestigt sein Maßband am Gürtel. Zuvor hat er die Schuhe gewechselt: Neben der reflektierenden Weste sind Sicherheitsschuhe mit Kappen und Sohlen aus Metall vorgeschrieben. In der Hand hält er ein schwarzes Notizbuch. Das ist die Ausrüstung des Streckenläufers.
Der junge Mann mit der drahtigen Figur arbeitet im Bahnhof von Auxerre. Zu Füßen des Büros erstreckt sich seine Marschroute: die Gleise bis Cravant, dann gabelt sich die Strecke, führt westlich nach Clamecy und östlich nach Avallon. 90 Kilometer Schotter, Schwellen, Schienen. Der Streckenläufer geht sie in kleinen Etappen ab, den Blick nach unten gerichtet. Sieben Kilometer pro Kontrollgang, mehr ist nicht möglich bei dieser Arbeit.
"Ich schaue mir das Bahngleis im Ganzen an, ob es Probleme mit den Halterungen gibt, die das Gleis auf der Schwelle fixieren. Wenn mal eine fehlt, ist es nicht schlimm, aber zwei oder drei hintereinander – das ist nicht so gut. Außerdem kontrolliere ich die gesamte Infrastruktur, achte darauf, ob Bäume gestutzt werden müssen, beobachte die Oberfläche des Schotterbetts und die Schwellen. Das ist eine ganze Menge ..."
Jean-Christophe macht große Schritte, unter seinen Füßen geben die Steine nach. Es ist Frühling, ein warmer Tag. Graugrüne Eidechsen zucken zusammen, huschen im letzten Augenblick zur Seite. Der Streckenläufer lässt den Blick schweifen, denn das Stück, das er heute kontrollieren will, beginnt erst einen Kilometer weiter.
"Dort hinten beginnen die Weinberge. Da wächst ein Saint Brie, Weißwein und Rotwein. Die Yonne fließt bis Clamecy parallel zur Bahnlinie, und wenn ich nach Avallon gehe, begleitet mich erst die Curé und dann noch ein anderer Bach, der Cousin. Außerdem sehe ich den Felsen von Saussoi, da fährt der Zug direkt dran vorbei. Das ist auch mein Abschnitt. Da werden sie jetzt bald wieder klettern. Und dann all die Kanäle zu beiden Seiten der Strecke mit den Ausflugsbooten ... bei gutem Wetter bekomme ich da so was wie ein Feriengefühl."
Fünf Jahre schon läuft er diese Strecke ab. Alle neun Monate beginnt er von vorn, den roten Kuli in der Hand, notiert Dellen, misst Risse aus, zählt fehlende Schrauben ... Wenn es nieselt, spricht er die Mängel in ein Diktiergerät. Nur bei starkem Regen verschiebt er die Tour. Im letzten Winter war es manchmal hart, da musste er auch bei Minusgraden ausrücken.
Für die Bahn ist diese Gegend Hinterland: die Anlagen sind alt, an der Wartung wird gespart. Deshalb muss Jean-Christophe seine Strecke öfter kontrollieren als die Kollegen in anderen Regionen. Plötzlich tritt er vom Gleis.
Der Schienenbus von Clamecy. 110 Stundenkilometer. Jean-Christophe hat sein Kommen gehört. Er vertraut seinen Ohren. Nur wenn auf den Feldern neben der Bahn Traktoren lärmen, guckt Jean-Christophe manchmal hoch, um zu sehen, ob ein Zug anrollt, von vorn oder von hinten. Die Linie ist eingleisig und wenig befahren.
14 Jahre war Jean-Christophe in einer Brigade, die bei Paris die Gleisanlagen repariert. In dieser Zeit hat er sich hochgearbeitet, erzählt er stolz, Prüfungen bestanden, wurde Streckenläufer. Der Eisenbahner geht in die Knie, schaut flach über das Gleis, entdeckt eine Unebenheit: Da drückt der Lehm hoch.
Im Büro wird er später eine Brigade anweisen, den Kollegen mitteilen, was er bei seinem Fußmarsch gesehen hat, was repariert werden muss.
"Es ist eine interessante Arbeit, weil sie an der Luft stattfindet. Ich bin in der Natur, zu jeder Jahreszeit. Das gefällt mir, da kann ich dem Alltag entfliehen mit seinen Problemen. Ich bin draußen und ich bin allein. So bekomme ich Abstand von den Sorgen meiner Kollegen und auch von meinen eigenen Sorgen. Hier kann ich meinen Rhythmus selbst bestimmen, meine Arbeit weitgehend allein organisieren. Ich bin freier."
Kurz nachdem die ersten Eisenbahnen durch Europa fuhren, gab Karl Baedeker 1839 seinem ersten Reiseführer den Untertitel "Handbuch für Schnellreisende". Mit der Industrialisierung wurde das Reisen bequemer, die Gefährlichkeit der Natur schien zähmbar – und damit zum ersten Mal reizvoll. Ebenso wie die Langsamkeit. Der erste Alpenwanderverein wurde 1857 in England gegründet, in Deutschland 12 Jahre später. Um 1900 wird das Wandern zur Massenbewegung und zur Ideologie in vielen Ländern Europas, verbunden mit Körperkultur, Volksliedern und Sagen - die Wander- und Jugendbewegungen erfassen alle gesellschaftlichen Schichten. Auch in Frankreich – hier allerdings einige Jahrzehnte später. In den Städten flanierten zwar schon im 19. Jahrhundert die Flaneure, bei Ausflügen aufs Land erfanden sie das Pique-nique - die zum größten Teil arme Landbevölkerung aber wollte sich in ihrer Freizeit nicht auch noch körperlich ertüchtigen. Erst mit der Einführung des bezahlten Urlaubs 1936 gab es erste Anfänge einer Wanderbewegung in Frankreich, in der Bevölkerung wuchs das Bedürfnis nach frischer Luft und Naturerlebnissen. Und immer zahlreicher wurden die Touristen im eigenen Land, in Alpen und Mittelgebirgen vor allem - auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseau.
Wenn ich von meinen Reisen erzähle, geht's mir wie beim Reisen selbst; ich komme nie zum Ziel. Ich wandre gern nach meinem Gefallen und mache halt, wenn es mir passt. Ein Wanderleben ist das, was ich brauche. Zu Fuß meinen Weg machen, bei schönem Wetter, (...) in schöner Landschaft, ohne Eile, als Ziel meiner Reise vor mir etwas Angenehmes, diese Lebensweise ist am meisten von allen nach meinem Geschmack. Man weiß ja, was ich unter einer schönen Landschaft verstehe. Niemals erschien mir ebenes Land so, mochte es an sich noch so schön sein. Ich brauche Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, bergauf und bergab holpernde Wege, Abgründe neben mir, dass ich Angst bekomme. Dies Vergnügen kostete ich in seinem ganzen Reiz aus, als ich mich Chambéry näherte. Nicht weit von einem steil abfallenden Berg unterhalb der großen Straße schießt in schauerlichen Abgründen zischend ein kleiner Fluss hinab, der Tausende von Jahren gebraucht haben muss, um sich Bahn zu brechen. Man hat die Straße, um Unfälle zu verhüten, mit einer Brustwehr versehen, daher konnte ich bis auf den Grund blicken und mich ganz nach Gefallen vom Schwindel packen lassen; denn das Lustige an meiner Vorliebe für abschüssige Stellen ist eben, dass ich schwindlig davon werde und dass mir dieser Schwindel sehr angenehm ist, wenn ich dabei nur in Sicherheit bin. Fest auf meine Brustwehr gestützt, streckte ich die Nase vor, und so blieb ich ganze Stunden, in denen von Zeit zu Zeit der Gischt und das blaue Wasser hinaufschimmerten, dessen Gebrüll ich durch die Schreie der Raben und Raubvögel hindurch vernahm, die sich hundert Klafter unter mir von Fels zu Fels und von Busch zu Busch schwangen. An den Stellen, wo der Abfall steil und das Strauchwerk licht genug war, dass man Steine hinunterwerfen konnte, suchte ich mir solche von weit her und so groß, wie ich sie zu schleppen vermochte, trug sie auf der Brustwehr zu einem Haufen zusammen, und dann, einen nach dem andern hinabschleudernd, ergötzte ich mich daran, zu sehen, wie sie rollten, aufprallten und in tausend Splittern zerbarsten, ehe sie den Grund der Schlucht erreichten.
Die Wahrnehmung der Natur, verbunden mit freiwilliger körperlicher Anstrengung – das romantische Ideal des Wanderers, wie es Rousseau propagierte, ist ein Privileg der Neuzeit. Und heute, im Zeitalter der permanenten technischen Beschleunigung ein notwendiger Gegenentwurf zum globalen Geschwindigkeitsrausch. Zu Fuß unterwegs zu sein ist schick – dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass solche Vagabunden, ob sie nun Fahrende oder Gehende waren, ob reisende Kaufleute, Handwerksgesellen oder Künstler, zur untersten Stufe der Gesellschaft gehörten. Zeigten sie doch, dass sie nichts hatten, angewiesen waren auf die Gastfreundschaft der Sesshaften. Schon die alten Griechen unterschieden zwischen den geachteten Schauspielern der antiken Komödie und den geächteten Mimen, die über die Jahrmärkte zogen. Im Hochmittelalter waren es die Vaganten, die in ihren Liedern vom Leben auf der Straße erzählten – Molière griff im 17. Jahrhundert diese Tradition auf und zog acht Jahre lang mit seiner Wandertruppe durch die französische Provinz.
Aus Elementen der Commedia dell`Arte und immer in engem Kontakt zum Publikum entwickelte er dabei die französische Komödie. Auf den Spuren von Molière machen sich auch die jungen Schauspieler des "Théâtre de Jour" aus Agen regelmäßig auf: 6 Wochen lang wandern sie zu Fuß durch Aquitanien, spielen in kleinen verschlafenen Dörfer zwischen Bordeaux und der spanischen Grenze. 1000 Kilometer insgesamt, mit zwei abendfüllenden Stücken im Gepäck, nur die Requisiten werden im Lastwagen transportiert.
Molière
Daignac, 420 Einwohner. Eine Kirche, eine Grundschule, eine Kneipe, die auch Zigaretten verkauft, eine Metzgerei und eine gelbe Allzweckhalle. Die Häuser des Dorfes liegen verstreut zwischen Gemüsebeeten, Weinbergen und einem Bach. Fenster und Türen sind geschlossen, kein Mensch ist zu sehen. Auf der Hauptstraße rast hin und wieder ein Auto durch das Dorf. Plötzlich taucht eine bunte Truppe auf.
Junge Frauen in weiten Kleidern mit Miedern, Schürzen und Spitzen; die Männer tragen helle Hemden mit bauschigen Ärmeln. Einige haben rote Schärpen um die Taille gebunden. Sie laufen durch alle Straßen und Gassen. Sie trommeln, flöten, singen, lassen bunte Bänder flattern. Laut sind sie, stören die Ruhe des Dorfes. Ein junger Mann hält den orange leuchtenden Signalkegel einer Baustelle als Flüstertüte vor den Mund.
"Heute Abend um 20 Uhr, im Festsaal von Daignac, führen die Schauspieler der Kompanie Pierre Debauche ein Kabarett auf, Le Voyage Imaginaire, die imaginäre Reise, Texte, Lieder, Gedichte ... Heute Abend für Sie, Mesdames et Messieurs, der Eintritt ist frei!"
Ein Fenster geht auf, ein alter Mann lehnt sich heraus. Kinder laufen in die Gärten, schauen dem wilden Zug verwundert nach. Der Umzug endet vor dem gelben Gemeindesaal. Thierry Jennaud lässt sich auf den Rasen fallen, gähnt. Der junge Mann mit den zerzausten schwarzen Haaren ist schmal und feingliedrig. Bei der Parade schlug er energisch die Trommel. Jetzt wirkt er wie ausgepumpt. Seit fünf Wochen ist er unterwegs, seit über 30 Tagen geht er zu Fuß von Dorf zu Dorf, um das Theater zu den Menschen zu bringen. Allein heute hat die Truppe 22 Kilometer in den Knochen. Knapp zwei Stunden bleiben ihm jetzt, um Kraft zu tanken. Am Abend steht Thierry wieder auf der Bühne, singt, tanzt und verbreitet Charme wie Yves Montand, sein großes Vorbild.
Thierry ist kein Sportler. Den jungen Schauspieler kostet es jeden Morgen Überwindung, die schweren Wanderschuhe zuzubinden und aufzubrechen. Und dennoch hat ihn diese Tournee nur deshalb gereizt, weil sie zu Fuß stattfindet. Er will spüren, wie sein Körper auf diese Anstrengung reagiert und wie sie sein Spiel beeinflusst.
"Die Wanderung ... mal ganz ehrlich: Wenn es sich darum gehandelt hätte, im Auto auf Tournee zu gehen, dann hätte ich nicht mitgemacht. Mir ging es um diese körperliche Erfahrung: Laufen - 25, 30 km am Tag ... Manche sagen, für sie sei es einfacher zu spielen, wenn sie körperlich erschöpft sind. Dass die Müdigkeit den Stress wegnimmt. Für mich gilt das nicht, ganz im Gegenteil. Vor allem zu Beginn der Tournee, da hatten wir den Rhythmus noch nicht im Griff, sind zu langsam gegangen und kamen erst spät an. Dadurch blieb uns keine Zeit zum Ausruhen, wir mussten uns sofort kostümieren und proben ... Mir fiel es schwer, dann noch aufzutreten, aber wir haben natürlich trotzdem gespielt. "
20 Uhr, die Bühne steht: ein langes Podium aus alten Dielenbrettern, so hoch wie ein Tisch, umgeben von wackeligen Bänken. Dahinter ragt ein Mastbaum hoch bis unter die Decke. Mit seinem Aussichtskorb erinnert er an ein Schiff.
"Man hat uns nicht auf die Straße geworfen, nein, wir haben die Straße erobert, sie gehört uns. Abrakadabra, ein Wunder: Wir verwandeln Daignac in eine große Theaterbühne. Wir spielen heute Abend für Sie! Freier Eintritt für jedermann. Alle finden Platz."
Ein neuer Tag, eine neue Strecke. Das Ziel heißt: Château Montlau. Auf dem Weingut werden sie am Abend das Theaterstück "Alienor" aufführen. Die Schauspieler beugen sich über ihre Wanderkarten, jeder einzelne sucht und markiert sich seinen Weg. Einige nehmen Umwege in Kauf, um befahrene Straßen zu vermeiden, andere wollen dem Ufer der Dordogne folgen, die hier breit und gemächlich dem Atlantik entgegenfließt.
Es ist eine langsame Reise, voller Ungewissheit, gar nicht zeitgemäß. Sie wissen nicht, ob das Wetter hält, ob sie draußen spielen oder drinnen, wie viel Publikum kommt. Sie ahnen nicht einmal, ob sie wirklich willkommen sind, denn nicht immer ist der Empfang so herzlich wie in Daignac. Willy Michardière erzählt - während er die Straße verlässt und einen Weg durch die Weinberge einschlägt - von einem katastrophalen Abend: Vier Erwachsene und drei Kinder saßen im Saal und zu essen gab es auch nichts.
"Wir machen diese Arbeit, um Menschen zu treffen. Unser Beruf besteht darin, dass wir uns von Begegnungen nicht nur inspirieren lassen, nein, wir ernähren uns davon, damit wir die Personen, die wir verkörpern, auch lebendig machen können. Wenn wir zu Hause bleiben, uns als Künstler abschotten, nur um den eigenen Bauchnabel kreisen, dann werden wir es nicht weit bringen. Diese Tournee gibt uns die Möglichkeit, aus uns heraus zu gehen. Wir sind jetzt ohne Orientierungspunkte, ohne festen Wohnsitz. Täglich ziehen wir weiter, bauen unser Bett woanders auf. Oft hausen wir in schäbigen Räumen, in Sporthallen, Festsälen. Da ist nur noch eins wichtig: die Begegnung. ...- Jetzt bin ich ganz außer Atem!"
Willy bleibt stehen, schaut sich um. Der Wind ist kühl. Zwischen den Weinstöcken tuckert ein Traktor. Am Horizont zeichnen sich helle Gebäude ab, die Stadtmauern und die Kirche von Saint-Emilion. Diese Tournee ist für ihn ein wahres Geschenk, sagt er, eine Erfahrung, die in seinem Leben vielleicht einmalig bleiben wird.
Eine Lindenallee führt zum Schloss. Hinter einem hohen schmiedeeisernen Gitter erstreckt sich das alte Gebäude mit runden Türmen und Torgängen. Ein Lippizaner streckt seinen Kopf über die halb geöffnete Stalltür. Obwohl es kalt ist, strömen die Zuschauer in den Hof, viele hüllen sich in Wolldecken. Theater ist in dieser Gegend ein seltenes Ereignis.
"Zwischen Geschichte und Legende: wir erzählen auf unsere Weise das Leben von Aliénor von Aquitanien.
... reine de France, reine d´Angleterre, reine des troubadours...
... Königin von Frankreich, Königin von England, Königin der Troubadoure"
... Mit Schwung und Humor inszeniert die Truppe das wechselvolle Leben einer außergewöhnlichen Frau, die im 12. Jahrhundert in Aquitanien lebte und das Herzogtum durch ihre zweite Heirat an England vermachte. Das Spiel packt die Schauspieler, alle Müdigkeit ist verscheucht, niemand scheint die Kälte zu spüren.
Die Spannung fällt langsam ab. Die Schauspieler sind glücklich. Es war ein gelungener Auftritt, vor einer prächtigen Kulisse und zahlreichen Zuschauern. Am kommenden Morgen brechen sie wieder auf, marschieren weiter, in ein anderes Dorf. Doch jetzt wird gegessen und gefeiert.
Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag: Le Bonheur en marchant oder: das Glück beim Wandern – Frankreich zu Fuß. Eine Sendung von Bettina Kaps. Mit Ausflügen in die Normandie, in die Calanques von Marseille, in die Umgebung von Paris, ins Burgund und nach Aquitanien. Die Ausschnitte aus den "Bekenntnissen" von Jean-Jacques Rousseau las Josef Tratnik – und am Mikrofon verabschiedet sich im Namen des ganzen Teams Simonetta Dibbern.
Literatur:
Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse
1996 Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich
Übersetzer: Alfred Semerau (58 Zeilen / Länge 5'01)