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Le grand froid: Eiszeit für Clochards

Obdachlose Menschen sind der eisigen Kälte fast schutzlos ausgeliefert. In keiner westeuropäischen Stadt leben so viele auf der Straße wie in Paris, selbst für Angestellte kann der Lohn zu gering sein, um in der französischen Hauptstadt ein Zimmer zu mieten.

Von Burkhard Birke |
    Heißer Kaffee oder Brot und Käse sind höchst willkommen - die Gitter über den Metrostationen besonders gesucht an diesen Tagen zwischen den Tagen. Harte Zeiten für Clochards und geschäftige Zeiten für Hilfsorganisationen und die 59 Personen starke Obdachlosenbrigade der Stadt. Die Seine führt jetzt auch noch Hochwasser und schwemmt endgültig jede Illusion von Romantik von unter den Brücken nächtigenden Clochards davon.
    Auf 10 bis 12.000 wird die Zahl der Obdachlosen allein in der Hauptstadt Paris, auf über 100.000 in ganz Frankreich geschätzt: Gescheiterte Existenzen, Asylsuchende, psychisch Kranke, Berufstätige, deren Lohn nicht für ein Dach über'm Kopf reicht.

    Bei nächtlichen Temperaturen unter Null wird's kritisch für sie: Der vor einigen Jahren ins Leben gerufene Plan Grand Froid – der Kältenotfallplan greift: Sogar Turnhallen werden in zusätzliche Schlafplätze verwandelt. Nicht jeder Obdachlose folgt freilich dem guten Rat der Helfer.

    "Die brauchen warme Kleidung, meint Joseph Terrasse vom Malteserhilfsdienst, die geben wir ihnen auch, aber diese Leute wollen sich nicht vom Platz rühren."

    Und das, obwohl viele Obdachlose die Kälte nicht überleben. Einer stirbt pro Tag in Frankreich, lautet die statische Faustregel.

    "Tiere dürfen nicht ins Heim. Wir haben keine Wahl und schlafen draußen. Wenn wir eine Wohnung mieten wollen, werden drei Monatsmieten im Voraus und drei Monatsmieten Kaution verlangt. Das ist verrückt. Das können wir nicht bezahlen."

    Deshalb schlafen Christophe und Emily auch bei Minustemperaturen im Freien. Und wie sie gibt es viele. In einigen Obdachlosenheimen sind Pärchen nicht willkommen, in fast allen Hunde, andere wiederum sind hoffnungslos überfüllt.

    Frankreich leidet unter Wohnungsmangel. 800 000 Wohnungen fehlen, rechnet Christophe Robert von der Stiftung Abbé Pierre vor, allein 150 000 in Paris. Erst kürzlich haben Christophe Robert und Vertreter der einem Kollektiv angeschlossenen Organisationen mit einer Art Sitzstreik auf der Künstlerbrücke im Herzen Paris auf die prekäre Wohnungssituation aufmerksam gemacht.

    Das Resultat war nicht das gewünschte. Es bleibt bei achtprozentigen Budgetkürzungen im kommenden Jahr für die Unterbringung in Notunterkünften, ergab ein Gespräch bei Premierminister Francois Fillon.
    Jetzt denken Christophe Robert und die anderen über weitere Protestaktionen nach, während die Mitglieder der Organisationen damit beschäftigt sind, die größte Not der Obdachlosen zu lindern. Erste Hilfe leistet dabei In Paris auch die in den 50er-Jahren zunächst als Mannschaft zum Einsammeln von Vagabunden gegründete Obdachlosenbrigade. Ihr Leiter Jean Philippe Servet:

    "In der Periode des Kältenotfallplans sind wir bis drei Uhr nachts im Einsatz, um eine soziale Notwache sicherzustellen. Viele der Obdachlosen sind isoliert, ohne jeden Sozialkontakt: Unsere Aufgabe ist es da, auf diese Menschen zuzugehen, um einen Kontakt, eine Beziehung aufzubauen."

    Und sie zu überreden, bei extremen Klimaverhältnissen eines der Zentren oder die Hilfsorganisationen aufzusuchen, die auch bei einer sozialen Reintegration behilflich sein können.

    "Eine Heimunterbringung erlaubt es mir, sauber zu bleiben, ich kann mich waschen, kann schlafen und essen."

    Und anfangen, an ein normales Leben zu denken, statt bei Minustemperaturen draußen gegen Unterkühlung und Tod zu kämpfen.