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Leben!

Mit der modernen Literatur aus der Volksrepublik China war das von jeher so eine Sache. Entweder, sie bejubelte den sozialistischen Aufbau unter Mao, oder sie beklagte den hohen persönlichen Preis und die Opfer, die dieser Aufbau in zahllosen Kampagnen gefordert hat. Ersteres geschah im Stile des "Sozialistischen Realismus", letzteres in einer autobiographisch geprägten, oft larmoyanten "Wundenliteratur" aus der Perspektive der Geschundenen, vor allem im Anschluß an die Kulturrevolution. Sonderliche literarische Qualität eignete zumeist weder der einen noch der anderen Gattung. Auch derzeit herrscht auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eine eher einfach gestrickte Bekenntnisliteratur insbesondere von Auslandschinesinnen vor: Neben Chang Jungs Familiensaga "Wilde Schwäne" aus dem Jahr 1991 beispielsweise der an sensationsgeilen Voyeurismus und exotistische Neugier appellierende Softporno "Der verratene Sommer" über das 89er-Massaker in Peking von Hong Ying oder die unsäglichen Klischees der Lulu Wang über die Kulturrevolution in ihrem 500-Seiten-Wälzer "Das Seerosenspiel", beide 1997 erschienen.

Christiane Hammer |
    Da muß die Frage erlaubt sein, was uns nun wohl das Ausrufezeichen im deutschen Titel des Romans "Leben!" von Yu Hua signalisieren will: Ist es eine Apostrophe an das Leben an und für sich, oder steht es für das trotzige "Weiter so!" einer vom Leben nicht eben verwöhnten Kreatur? Sowohl das eine wie das andere - und doch auch viel weniger. Es markiert schlicht die Übernahme des Filmtitels, den der chinesische Starregisseur Zhang Yimou 1994 seiner Kino-Adaption des Buches gegeben hat. Diese weicht in etlichen Punkten von der Romanvorlage aus dem Jahre 1992 ab, und der Vergleich mit dem nun in deutscher Übersetzung nachgereichten "Buch zum Film" fällt nicht unbedingt zu Gunsten des Buches aus: Yus Text konfrontiert sein Publikum mit einer geballten Ladung an Schicksalsschlägen, ohne jedoch reflektierende Distanz des Erzählers zum Erzählten erkennbar werden zu lassen.

    Der Autor Yu Hua ist 1960 in der südchinesischen Stadt Hangzhou geboren und auf dem Lande aufgewachsen. Von seiner Ausbildung her eigentlich Zahnarzt, publiziert er seit den achtziger Jahren Prosatexte. In der Rahmenhandlung von "Leben!" führt er eine unbedarfte Taugenichts-Existenz nach Eichendorffschem Muster als Erzählerfigur ohne Namen ein, die als Sammler mündlich überlieferter Literatur umherzieht und sich geschickt von körperlicher Arbeit fernzuhalten versteht: "Als ich noch zehn Jahre jünger war, hatte ich einen richtigen Faulenzerjob: Ich sollte übers Land fahren und bäuerliche Volksdichtung sammeln. Wie ein umherflatternder Sperling führte ich den ganzen von Grillengezirp und Sonnenlicht erfüllten Sommer lang ein lustiges Vagabundenleben zwischen Bauernhütten und Ackern."

    Bei seinen Recherchen stößt dieser Erzähler auf einen alten Bauern mit seinem Ochsen - ein alter Topos und ein bewährtes literarisches Gespann, dem Shen Congwen bereits 1929 seine berühmt gewordene Erzählung "Der Ochse" gewidmet hat. In Yu Huas Text erzählt der verschmitzte Alte im Laufe eines langen Arbeitstages während häufig eingelegter Pausen in Rückblenden seine erschütternde Lebensgeschichte, die den Hauptanteil des Buches ausmacht: "An dieser Stelle sah Fugui mich schmunzelnd an - vor vierzig Jahren ein Schwerenöter, jetzt ein alter Mann, der mit nacktem Oberkörper im Gras saß und wegen des Sonnenlichts, das durch die Blätter auf ihn fiel, mit den Augen blinzelte. (...) Den Alten hatte ich schon sehr bald nach Beginn meines Wanderlebens getroffen. Ich war jung und unbekümmert, jedes neue Gesicht erregte mein Interesse, und alles, was ich nicht kannte, zog mich mächtig an. Genau zu dieser Zeit stieß ich auf Fugui, der so anschaulich und lebendig von sich erzählte."

    Mit diesem einfachen narrativen Kunstgriff unternimmt Yu den ehrgeizigen Versuch, das halbe Jahrhundert Geschichte der Volksrepublik China vom Ende des Bürgerkriegs 1949 bis in die neunziger Jahre in Form der oral history exemplarisch am Leben von Xu Fugui, seiner Frau Chen Jiazhen und ihren beiden Kindern, der stummen Fengxia und ihrem Bruder Youqing, darzustellen.

    So erfahren die Leser in den einfachen Worten und aus der Sicht des Bauern, wie der Grundbesitzersohn einst Haus und Hof des väterlichen Erbes verspielte, wie er dann als Kleinbauer zunächst von Chiang Kaisheks Bürgerkriegstruppen zwangsrekrutiert und später aus deren Händen von Mao Zedongs Volksbefreiungsarmee befreit wurde. Aus Xus naiver Perspektive erlebt man später die Landreform und die Einführung der Volkskommunen in den fünfziger Jahren mit und wird alsdann Zeuge der Hungerkatastrophe nach dem absurden "Großen Sprung nach vorn", den Mao 1958/59 in seinem Autarkie-Wahn einer bäuerlichen Bevölkerung als Mittel zur Zwangsindustrialisierung verordnete. Schließlich wird man auch noch Zuschauer der Brutalitäten während der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" ab 1966 und der Reformen von Deng Xiaoping seit 1978.

    Diese historischen Ereignisse böten wohl Stoff genug für ein halbes Dutzend Romane, doch Yu Hua packt alles in ein einziges Buch, das dadurch leider nicht an Überzeugungskraft gewinnt. Schlag auf Schlag, im Gleichklang mit den Schrecken der Politik in der Volksrepublik China, folgen auch die Leiden der Familie Xu: Dem Sohn wird beim Blutspenden für eine Funktionärsgattin der letzte Tropfen Lebenssaft ausgezogen, die von Knochenerweichung aus Mangelernährung gezeichnete Ehefrau schuftet sich zu Tode, die Tochter stirbt im Kindbett und der Schwiegersohn bei einem Arbeitsunfall. Als der Enkel sich schließlich an Saubohnen zu Tode ißt, weil er derartige "Leckerbissen" nicht gewohnt ist, bleibt der Alte ganz allein zurück. Seine naive Weitsicht ist dem bedauernswerten Xu aber wunderbarerweise über alle Zeitläufte hinweg erhalten geblieben, und die persönlichen Folgen der politischen Desaster nimmt er stoisch als unvermeidliche Schicksalsschläge hin. Der Erzähler bestaunt seinen lnformanten deswegen, ihm erscheint der seelisch allem Anschein nach vollkommen unversehrte Xu Fugui als Inbegriff des genügsamen chinesischen Menschen schlechthin. Er wird zudem als Vaterfigur mit erstaunlicher Weltweisheit geschildert: "Jedoch traf ich nie wieder einen Menschen, der sich an sein vergangenes Leben so klar erinnerte und obendrein so fesselnd davon zu berichten wußte wie er. Fugui war ein Mann, der sich so zu sehen vermochte, wie er einmal gewesen war (...), der sich sogar selbst beim Altwerden beobachtet hatte. Menschen wie ihm begegnete man auf dem Lande wirklich selten."

    Yu Hua wirkt als Autor, der es eigentlich besser wissen müßte, freilich nicht sehr glaubwürdig, wenn er nirgendwo durchschimmern läßt, er habe mehr Einblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge als die Erzählerfigur und sein Held, oder er halte es angesichts der immanenten Komik, die in der schieren Unzahl schrecklicher Vorkommnisse liegt, wenigstens mit höheren Instanzen wie Ironie und Verfremdung. Anders als Zhang Yimous Film, und anders auch als beispielsweise Su Tong mit seiner zynischen Dekonstruktion chinesischer Familien- und Geselischaftsideale in dem Roman "Reis" läßt der eher versöhnlerisch anmutende Roman "Leben!" von Yu Hua aller geschilderten Katastrophen zum Trotz keine grundlegenden Zweifel am sozialistischen Herrschaftssystem anklingen. Nach so viel Unglück, das ein namenloses und nur hie und da vorsichtig auch als Kommunistische Partei Chinas dingfest gemachtes "Schicksal' über den Mitgliedern verschiedener Generationen einer einzigen Familie abgeladen hat, schreckt Yu Hua nicht davor zurück, seine Legende über das Leben an und für sich in Sonnenuntergangs-All-Einigkeit enden zu lassen. Der letzte Satz des Buches lautet: "Bald würde die Dämmerung weichen und die Nacht sich vom Himmel herabsenken. Ich sah, wie die weite Erde ihre starke Brust entblößte - ein Ruf war das. Wie die Frauen ihre Söhne und Töchter, so tief die Erde die Nacht."

    Der ausgesprochen aktive Übersetzer Ulrich Kautz, der Lesern hierzulande erst im vergangenen Jahr Wang Shuos anarchische Pekinger Szene-Prosa in dem Erzählungsband "Oberchaoten" in einer deutschen Version präsentierte, hat sich bei der Auswahl von Yu Huas Familien-Chronik "Leben!" auf sprachlich weniger gewagtes Terrain begeben. Dabei ist es ihm gelungen, die traurige Mär mit all ihren Facetten und tragikomischen Einzelepisoden angemessen stimmungsvoll und werkgerecht zu übertragen. Ob dieser Roman allerdings auch ohne vorherige Verfilmung und Übersetzung ins Englische einen deutschsprachigen Verleger gefunden hätte, ist durchaus fraglich.