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Leben für eine Idee

Mustafa Kemal, der sich später Atatürk (Vater der Türken) nannte, wurde 1923 der erste Präsident der türkischen Republik. In den 15 Jahren seiner Herrschaft war er der Motor einer gewaltigen Kulturrevolution in der Türkei. Er schaffte das Kalifat ab und die Verschleierung für die Frau; er führte das Zivilgesetzbuch ein und die lateinische Schrift. Jetzt ist die erste von einem deutschen Historiker verfasste Biographie Atatürks erschienen.

    Die Welt, in die Mustafa Kemal anno 1881 hineingeboren wurde, war das Osmanische Reich - und sein Geburtsort war die Hauptstadt der Provinz Makedonien: Saloniki. Das war damals eine multiethnische und multireligiöse Hafenstadt, in der jedoch jeder Einwohner, ganz gleich, ob er Jude war oder Muslim, ob Grieche, Türke oder Armenier, die Knie zu beugen hatte vor Abdülhamid dem Zweiten, dem Sultan und Kalifen in Istanbul, dem Schatten Allahs auf Erden.

    Doch die Herrschaft des orientalischen Monarchen wackelte. Die Balkankriege kündigten sich an; der feudale Vielvölker-Staat war dabei, auseinanderzubrechen. In dieser Zeit wuchs Mustafa Kemal in bescheidenen Verhältnissen auf.

    "Der Vater war in der Zollverwaltung, konnte aber davon alleine nicht leben, und hat sich mit einem Brennstoffhandel durchgeschlagen, die Mutter konnte nicht lesen und schreiben, aber das war eher normal in dieser Schicht. "

    Nur knapp beleuchtet Biograf Klaus Kreiser die Umbrüche, die Mustafa Kemals Kindheit bestimmten: Den frühen Tod des Vaters, die Schulzeit auf der Kadettenanstalt, den Abschluss als Leutnant an der Militärakademie in Istanbul. Ausführlicher beschreibt er, was den lesewütigen und bildungshungrigen jungen Mann geistig inspirierte. Das literarische Interesse des Offiziersanwärters reichte von osmanischer Dichtkunst über griechische Philosophie bis zu den Romanen der französischen Moderne. Klaus Kreiser zufolge zeigte Mustafa Kemal sich schon früh als Islamskeptiker.

    "Er war ein Lerner und ein Leser von Anfang an, fasziniert von den Schriften über den biologischen Materialismus und andere Dinge. Er hat das osmanische System engstens, vor allem den regierenden Sultan, mit den von ihm so gesehenen Defiziten des Islam verbunden; auf deutsch: Er glaubte nicht, dass man mit dem Islam einen Staat machen und verteidigen kann."

    Klaus Kreiser belegt, dass Mustafa Kemal bereits als junger Mann mit seinem Staat etwas vorhatte. So gestand er zum Beispiel 1914 in einem Brief an eine Freundin, dass er große Ambitionen habe - die aber weder hohe Positionen noch Reichtum zum Ziel hätten.

    "Ich suche die Verwirklichung dieser Ambitionen im Erfolg einer großen Idee, die mir die lebendige Befriedigung verleiht, meine Pflicht würdig erfüllt zu haben, indem ich meinem Vaterland nützte. "

    Mustafa Kemal hatte sich 1907 der jungtürkischen Opposition angeschlossen und diente dem späteren jungtürkischen Regime als Gesandter. Mit Hilfe zahlreicher, zum Teil auf deutsch bis dahin noch nicht veröffentlichter Quellen erzählt der Biograph von den politischen Rivalitäten im jungtürkischen Lager. Sowie von den militärischen Verdiensten, die sich Mustafa Kemal im ersten Weltkrieg bei der Verteidigung der Halbinsel Gallipoli erwarb. Doch die eigentliche Chance für seine große Idee sollte noch kommen. Bei Kriegsende hatte das Reich nicht nur den Verlust der Balkanstaaten zu beklagen, nach dem Willen der Siegermächte sollten außerdem große Gebiete des osmanischen Reststaates den Griechen zufallen.

    "Genau das hat er abgelehnt und hat es verstanden, in relativ kurzer Zeit alle Kräfte zu mobilisieren, die Anatolien noch bot, das war eine historische Leistung."

    Als Befehlshaber einer Befreiungsarmee besiegte Mustafa Kemal die griechischen Truppen, die ins anatolische Kernland eingedrungen waren. Nun konnte eine neue Türkei mit den Siegermächten des ersten Weltkrieges neu verhandeln und ihre Grenzen vertraglich sichern. Zielstrebig und machtbewusst betrieb General Kemal Pascha die Abschaffung des Sultanats und setzte sich an die Spitze der Republik. Vom neuen Regierungssitz Ankara aus begann er umstandslos, seine große Idee, von der er einst gesprochen hatte, umzusetzen: Die Reform der Türkei nach westlichem Vorbild. Mit einem bürgerlichen Gesetzbuch und der lateinischen Schrift; mit einem staatlichen Grundschulwesen und dem Schleierverbot sowie schließlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

    Im Oktober 1933 gratuliert der Mann, der inzwischen den Beinamen Atatürk trägt - Vater der Türken - seinen Landeskindern zum 10. Jahrestag der Republik.
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    "In kurzer Zeit haben wir Großes erreicht. Das Größte und Grundlegendste jedoch ist die Republik Türkei. Aber wir müssen noch Vieles und Großes in Angriff nehmen. Wir werden unser Land auf ein Niveau bringen, das dem moderner Zivilisationen entspricht. "

    Biograph Klaus Kreiser hat sich die Darstellung von Atatürk-Anekdoten, -Legenden und -Klatsch untersagt. Strikt hält er sich an belegte Zeugnisse aus dem Leben Mustafa Kemals. Auch Atatürks Fehler werden nicht verschwiegen. Dem Leser wird also kein idealistisches Heldenstück aufgeführt. Diese enge Bindung an den geschichtlichen Kontext und seine Quellen ist zugleich die Stärke und Schwäche des Buches. Denn der Autor vermeidet geradezu ängstlich, eine gefühlsmäßige Haltung zur Person Atatürks einzunehmen; er behandelt ihn nüchtern, wie ein Forschungsobjekt. Dadurch fehlt dem Buch eine innere Struktur der Empathie, die das Interesse über die Fülle des historischen Materials hinweg leichter wach gehalten hätte. Oft fehlen auch sprachliche, historische und geografische Erklärungen. Dennoch ist diese Biographie lesenswert, weil sie einen Eindruck davon vermittelt, mit welcher Wucht die Ideen Atatürks in die osmanische Gesellschaft eingeschlagen sind - und warum zahlreiche Türken meinen, dass der Respekt vor Mustafa Kemal Atatürk der Schlüssel zum Verständnis ihres Landes ist.

    Dorothea Jung über Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie. Im C.H. Beck Verlag, 304 Seiten für 24 Euro und 90 Cent.