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Leben im Umbruch

Einst liefen in Wittenberge die Veritas-Nähmaschinen vom Band, doch nach der Wende wurde die Fabrik geschlossen, Arbeitsplätze gingen verloren, junge Leute zogen weg. Drei Jahre lang untersuchen Wissenschaftler den Alltag in dieser Umbruchgesellschaft und präsentieren nun ihre Ergebnisse.

Von Barbara Leitner |
    " ... bilden eine Stadt. Menschen bilden eine Stadt. Mit der Stadt zerfällt die Beziehungsstruktur. Es ist eine Krankheit. Dann geht es ihr noch nicht lange genug schlecht. Menschen bilden eine Stadt."

    "Wir wollen wissen, wie leben Menschen in dieser Gesellschaft."

    Andreas Willisch vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung in Bollewick, in Mecklenburg, einem Verein für sozialwissenschaftliche Forschung.

    "Wir wollen nicht mehr wissen, dass die Gesellschaft schrumpft, dass es einen demografischen Wandel gibt, dass es die Deindustrialisierung gibt. Das sind alles Prozesse, die sind aber in einer gewissen Weise abgeschlossen. Heute gibt es keine großen Unternehmen mehr, die noch geschlossen werden können. Und trotzdem richten sich die Menschen ein, mit ihren Leben, in dieser Gesellschaft. Und das wollten wir erforschen."

    Was ist das soziale Kapital, auf das Menschen im Umbruch zurückgreifen? Um das für Ostdeutschland exemplarisch zu erforschen, entschied sich die Projektgruppe, ihre sozialwissenschaftlichen Tiefenbohrungen in Wittenberge vorzunehmen, einer traditionsreichen Industriestadt. Bekannt ist sie zunächst für Singer- später Veritas-Nähmaschinen. Diese Fabrik allerdings wurde 1990 geschlossen, ebenso ein Zellstoffwerk und eine Ölmühle. Nur ein Instandhaltungswerk der Bahn blieb erhalten. Die Stadt verlor in den zurückliegenden 20 Jahren ein Drittel ihrer Bevölkerung. Fakten, die aus der Ostdeutschlandforschung bekannt sind und auch im wissenschaftlichen Diskurs eher langweilen. Wie schafft man es, Aufmerksamkeit für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über den Transformationsprozess und zugleich eine andere öffentliche Wahrnehmung der Umbrüche in der globalisierten Welt zu erzielen? Ein Dutzend Wissenschaftler der Projektgruppe "Soziales Kapital" arbeitete und lebte in Wittenberge und suchte zugleich die Kooperation mit Theaterautoren.

    ""Wir wissen, warum das Fieber ausgebrochen ist, weil zu viel erinnert an einen Zustand, der nicht mehr zurückkommt. Es handelt sich um eine Infektion. Es ist nicht meine Schuld. Ich glaube, ich bin einfach inkompatibel mit meiner Umwelt."

    Denen stellten sie ihre qualitativen Interviews als Material für neue Stücke zur Verfügung. Auf der Bühne nun in der einstigen Mitropa-Gaststätte in Wittenberge entdecken auch die Wissenschaftler dadurch einzigartige Figuren und erleben ihr Wissen in einer neuen Gestalt. Der Soziologe Professor Heinz Bude von der Universität Kassel:

    "Es ist zunächst die Erkenntnis, dass die Begrifflichkeit, die wir mit sozialen Kapital verbinden, hier keine Resonanz finden. Wenn sie sich die letzten Untersuchungen zum bürgerschaftlichen Engagement angucken, dann merken sie, dass der Osten noch immer ziemlich weit hinter dem Westen zurückliegt. Was wir allerdings dabei herausgefunden haben, ist, dass es sich dabei möglicherweise um ein semantisches Problem handelt. Denn wenn die Leute hier bürgerschaftliches Engagement hören, dann sagen die Leute, es ist irgendwas, da werden wir über den Tisch gezogen. Sie haben die Idee, dass ihnen damit ein Modell von Zusammenleben aufgezwungen wird, dass nicht ihres ist. Und wir haben die interessante Erkenntnis, dass es Formen von Aktivitäten gibt, für die wir gar keine richtigen Begriffe haben."

    Da ist zunächst die Frage, wie Menschen in einer mobilen Gesellschaft ihre Familie und den Zusammenhalt zwischen den Generationen organisieren. Für die einen ist es eher eine feste Burg, die sie abschotten. Die anderen halten ihre Familienbande wie ein Netzwerk zusammen - inzwischen nicht nur als Pendler zwischen Ost und West, sondern auch nach Norden. Darin, so ergab der europäische Vergleich der Sozialwissenschaftler, unterscheiden sich die Umbrüche in einer ostdeutschen Stadt kaum von denen in Großbritannien, Dänemark, Polen.

    Zugleich erfahren die Wissenschaftler, wie fragil der Wert der Bildung in einer globalisierten Welt geworden ist. Welches Wissen ist es denn, das den Kindern auf ihrem Weg wirklich hilft? Und auf welches soziale Kapital greifen jene Menschen zurück, die sich teilweise seit dem Ende der DDR am Rande der Gesellschaft befinden?

    "Was wir Interessantes herausgefunden haben, ist, dass zu den Formen des Überlebens die eigentätige Suche nach Gelegenheitsstrukturen gehört; dass man versucht, durch alle möglichen Aktivitäten den Bezugsraum der Lebenspraxis zu erweitern, bis zu merkwürdigen, irrwitzigen Formen der Erweiterung und gleichzeitig eine enge Methodisierung der Lebensführung vornehmen. Das heißt, mit den wenigen Ressourcen, die man hat, was Geld betrifft, was soziale Beziehungen betrifft, aber auch was Prestige angeht, außerordentlich berechnend, kalkulierend umzugehen, weil man auch keine andere Chance hat."

    Anders als das medial vermittelte Bild zeigt, erleben die Sozialwissenschaftler dabei viele von Hartz IV abhängige Menschen unglaublich organisiert. Sie wissen genau, wie viel etwas kostet, wann es wo Sonderangebote gibt, was sie tun können, um sich doch einen - gewiss illegalen - Zuverdienst zu sichern. In gewisser Weise leben und überleben sie in ihrer eigenen Welt. Von außen an sie herangetragene Vorstellungen der Integration in die Gesellschaft funktionieren nicht: beispielsweise die Idee, ihnen Unterstützung und Sinn durch einen Kleingarten zu geben. Andreas Willisch.

    "Diese Art von Subsistenz funktioniert nicht für die Leute. In prekären Lebenslagen ist es gerade wichtig, dass sie Anteil haben am Konsum, und dass sie ihre Sachen selber kaufen können in diesen Billigdiscountern, um so Teil der Gesellschaft zu bleiben, um es gerade nicht herzustellen. Was man so in Mittelschichten ganz gern macht, dass man selbst gemachte Marmelade verschenkt, ist bei denen ein Stigma. Ach, kannst du dir keine Marmelade leisten."

    Auch wenn es der Stadt Wittenberge in den Nachwendejahren nicht gelang, an die globalen Märkte anzuschließen - dennoch gibt es auch hier neue Karrieren. Ostdeutschland als Synonym für den Umbruch, wie es in den ersten Jahren nach der Wende verstanden wurde, existiert nicht mehr. Abstieg steht neben Aufstieg, Innovation und Aufbruchsgeist. Die Soziologin Inga Haese interessierte, wer in der brandenburgischen Stadt an der Elbe jene sind, die andere mitreißen und begeistern, das soziale Kapital Charisma einbringen:

    "Es hat sich herausgestellt, dass all diese Leute einen ganz bewahrenden Aspekt in ihrer charismatischen Performance aufweisen. Entgegen diesen Theorien, dass man denkt, Charisma ist immer das Hervorbringen von etwas ganz Neuem, Revolutionärem, ist es hier so, dass die Charismatiker vor allem mit einem Rückgriff auf eine alte Tradition spielen. Also sei es, dass da jemand ein DDR-Museum aufmacht und alte Autos konserviert oder ein Laden aufmacht mit ganzen vielen Konsumartikeln aus der DDR. Und auch der mit der Idee vom Wachstumskern spielt mit der Idee von dem Alten. Wahrscheinlich werden die Leute da abgeholt, wo sie stehen. Wahrscheinlich ist das der Punkt, warum die Menschen, sich diese Charismatiker suchen."

    Jene allerdings, die radikal neue Ideen über das Zusammenleben miteinander und ein ökologisches Wirtschaften realisieren wollen, haben es in Wittenberge eher schwer. Gerade in solchen Erkenntnissen zeigt sich der Wert der Forschung. Sie macht deutlich, dass es im Interesse des sozialen Zusammenhaltes der Gesellschaft dringend notwendig ist, Strukturen der Wertschätzung auch für Verlierer zu finden.