Donnerstag, 02. Mai 2024

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Leben mit dem Atommeiler

Während in Deutschland in letzter Zeit der beschlossene Atomausstieg immer wieder in Frage gestellt wird, hat im Nachbarland Frankreich überhaupt noch nie eine ernsthafte Diskussion über einen Ausstieg stattgefunden. Kein Wunder, denn 58 Atommeiler liefern 80 Prozent des Stroms. In der Normandie sind die meisten Atomanlagen angesiedelt. Wie sich die Menschen dort mit der allmächtigen Atomindustrie arrangieren, weiß Hans Woller.

20.10.2006
    Annähernd 5000 Menschen arbeiten in der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage La Hague. Und wer hier arbeitet, der sagt von sich : " Je suis Cogema" , ich bin Cogema , nach dem früheren Namen der Betreiberfirma. Bruno Blanchot hat gleich nach dem Militärdienst hier angefangen, ist heute für die Gewerkschaft CGT im Betriebsrat:

    "Ich kann sagen: liebe diese Fabrik . Dass mag merkwürdig erscheinen , aber wenn man 20 Jahre in einer Fabrik gearbeitet und dazu beigetragen hat, dass sie zu dem wurde, was sie heute ist, dann entsteht da schon eine starke Bindung. "

    Bedenken kennt er nicht, schließlich hätten sie doch alle Familien und seien nicht so verrückt hier zu arbeiten, wenn es wirklich gefährlich wäre. Als Gewerkschafter stört ihn lediglich, dass immer mehr auswärtige Betriebe immer mehr Aufgaben übernehmen, auch in seinem Spezialgebiet, dem Strahlenschutz:

    "Der Strahlenschutz war immer das Rückrat der nuklearen Sicherheit hier , mit Kollegen, die einen Status hatten und sehr gut ausgebildet waren. Nach und nach sieht man, dass die Anzahl der Arbeiter in diesem Bereich zurückgeht, dass immer mehr Aufgaben ausgelagert werden und da stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen arbeiten die Beschäftigten der auswärtigen Firmen . Nicht dass sie inkompetent wären, aber ihre sozialen Bedingungen sind so schlecht und der Druck auf diese Leute ist so groß, dass man zwangsläufig nicht mehr die gleiche Qualität des Strahlenschutzes hat ."

    Seine Gewerkschaft , die CGT, ist seit jeher offensiv für die Atomenergie . Arbeiter aus ihren Reihen waren es auch, die während des Europawahlkampfs 99 einem Besuch der französischen Grünen und des Spitzenkandidaten Cohn Bendit in der Wiederaufarbeitungsanlage mit Gewalt und einer Flut von Schimpfworten begegneten. . Und Michel Laurent, der Bürgermeister des Städtchens Beaumont-Hague, wo die Wiederaufarbeitungsanlage steht, befand sich damals ebenfalls in vorderster Reihe, rief Daniel Cohn Bendit mit hochrotem Kopf zu, er solle dahin verschwinden, wo er herkomme:

    "Die kommen her, in eine Gegend , die sie kaum kennen , und sagen : man muss die Fabrik schließen. Die spinnen wohl, machen sich über uns Lokalpolitiker, die Bürger und die Arbeitnehmer hier lustig . Sie hatten ein Diskurs, der nicht akzeptabel war . Und wenn sie seitdem nicht wieder gekommen sind , so dank unseres Empfangs. "

    Michel Laurent hat früher selbst in der Wiederaufarbeitungsanlage gearbeitet. Heute ist er der Prototyp des Bürgermeisters dieser Region, der jede Distanz zur Atomlobby verloren hat. Die Dörfer wissen vor Steueraufkommen nicht wohin mit dem Geld: Straßenlampen sind selbst im kleinsten Ort aus Kupfer, die Gemeindehallen vom feinsten. Michel Laurent ist auch Mitglied der Sicherheitskommission des Atomkraftwerks Flamanville . Und als solches hat er sich natürlich auch dafür stark gemacht, dass der künftige EPR Reaktor auch noch hier gebaut wird:

    "Ich gehöre zu den Lokalpolitikern , die hier beim Departement und beim Vorstand des Stromkonzerns EDF vorstellig wurden. Wir sind 3, 4 Mal nach Paris gefahren, alle gemeinsam, ob links oder rechts . Wir haben Einheit demonstriert , um den Bau des EPR hier bei uns zu fordern. "

    Didier Anger, der prominenteste Atomkraftgegner der Region seit über drei Jahrzehnten, kann dem wenig abgewinnen:

    "Frankreich braucht diesen neuen Reaktor nicht, aber der Atomkonzern Areva hat das Patent für den EPR und möchte ihn an möglichst viele Länder verkaufen. Bisher hat nur Finnland unterschrieben, aber man hofft auch auf China, Indien oder sogar die USA, vielleicht auch Großbritannien. Man braucht also eine Vitrine. Das hier dient nur als Vitrine. Man muss eben im eigenen Land einen Reaktor gebaut haben, um ihn im Ausland verkaufen zu können "

    Bei aller Gewöhnung an die Atomanlagen und bei aller Abhängigkeit von der Atomindustrie , sind viele Menschen dieser Region in ihrem innersten skeptisch geblieben. Wie sonst hätte Didier Anger, der AKW-Gegner , bei Parlamentswahlen, auch noch als Kandidat der Grünen gerade hier 42 Prozent der Stimmen bekommen. können. Und Nathalie Garnier , die als Mutter zweier Kinder seit Jahren für mehr Information über Strahlenschäden kämpft , meint
    "" In den Familien, in den eigenen vier Wänden, haben viele Menschen die Schnauze voll von der Atomwirtschaft. Sie haben genug davon, alles mit sich machen zu lassen, zu allem Ja und Amen sagen zu müssen. Die Leute möchten, dass sich hier etwas bewegt."