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Leben mit dem Stigma

Ihre Augen in maskenartig erstarrten Gesichtern leuchten; rasch legen die Frauen Hacke und Spaten zur Seite, strecken dem Besucher fingerlose Hände entgegen. – Bisidimo in der südäthiopischen Provinz Oromia, ein Rehabilitationszentrum für Lepraopfer, gegründet vor fast 50 Jahren von der "Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe", DAHW. Seini Abrahim lebt seit 40 Jahren hier.

von Thomas Kruchem |
    "Schon mein Vater hatte die Krankheit; ich bekam sie mit vier Jahren. Ich weiß noch, dass kein anderes Kind mit mir spielen wollte; alle stießen mich nur herum. Als dann mein Vater starb, beteten die Nachbarn, dass auch ich sterben würde. Aber ich lebte weiter – mit meiner Mutter, die ein paar Münzen damit verdiente, dass sie für Nachbarn Feuerholz sammelte und Wasser holte. – Auch mit der Mutter aber trank, obwohl sie gesund war, niemand Kaffee. Schließlich – da war ich schon 15 – hörte meine Mutter von Bisidimo und brachte mich hierher."

    Lepra, der so genannte Aussatz, befiel bis in die frühe Neuzeit auch Hunderttausende Europäer. Eine bakterielle Infektion der hautnahen Nerven, die wegen der Entstellungen, die sie verursacht, stets Angst und Abscheu auslöste. Europäische Lepraopfer mussten – mit der Klapper die Bevölkerung warnend – um Almosen betteln; sie waren stigmatisiert, quasi gebrandmarkt. Stark ausgeprägt ist das Lepra-Stigma bis heute in der konservativen Gesellschaft Äthiopiens, berichtet Mohammed Getahun, Chefarzt in Bisidimo.

    "Das Stigma der Krankheit macht sich an den Deformierungen fest; vor allem verstümmelte Leprakranke werden von ihrer Dorfgemeinschaft ausgegrenzt. Die Krankheit sei Folge eines Fluchs, heißt es; sie sei erblich; auch die Familie des Lepraopfers wird gemieden – ein Grund dafür, dass viele Erkrankte vom Ehepartner verlassen werden. Man nimmt ihnen überdies ihr Ackerland weg und jagt sie fort – in eine so genannte Leprakolonie."

    Ausgegrenzt wurde auch Mohammed Gobu, ein am Stock gehender, extrem verstümmelter Mann aus der Wüstenprovinz Afar, der gleichwohl Autorität und Charisma ausstrahlt. Jahrelang hütete Mohammed die Kamele seiner Eltern, derweil ihm Zehen und Finger verfaulten. Erst mit 30 Jahren fand er den Weg nach Bisidimo, wurde mittels moderner Medikamente von der Lepra geheilt, wusste dann aber nichts mit sich anzufangen. Mohammed verfiel in Apathie – bis Ato Ahmed, der so dynamische wie einfühlsame Chef des DAHW in Äthiopien, ihn wachrüttelte.

    "Jahrelang hatte ich nur herum gesessen, geschlafen und gegessen. Irgendwann aber kam Ato Ahmed auf mich zu und sagte: "Du kannst nicht einfach die Zeit verplempern, die Gott Dir geschenkt hat, Mohammed. Du musst Dein Leben in die Hand nehmen." Mir fiel es damals wie Schuppen von den Augen; ich schämte mich und begann mit einigen Anderen, ein Stück Land zu bebauen. Sorghum und Gemüse pflanzten wir, Mango- und Papayabäume. Mit Hilfe des Zentrums haben wir jetzt ein Bewässerungssystem installiert; für unser Obst bekommen wir gute Preise. Das Wichtigste aber ist: Ich weiß jetzt, dass ich, obwohl ich entstellt bin, kein Bettler sein muss. Im Gegenteil: Irgendwann möchte ich ein schönes Haus haben – und vielleicht ein Auto. Mit dem Laden meiner Frau verdienen wir ja zusätzliches Geld."

    Seina Bayuyu, eine hübsche Frau von 23 Jahren, bei der die Lepra keine sichtbaren Schäden hinterließ, die deshalb bald nach der Behandlung in ihr Heimatdorf zurückkehrte. Seina jedoch erlitt, wie 20 Prozent aller Leprakranken, eine so genannte "Reaktion": eine Auseinandersetzung ihres Immunsystems mit Lepra-Antikörpern, die noch Jahrzehnte nach der Heilung zu Nervenentzündungen führen kann – mit Folgen wie Sehnenverkürzungen, die die Hände zu Klauen verkrümmen, oder Taubheit an Händen und Füßen, die dann sehr anfällig sind für Geschwüre. Weil die "Reaktion" langwieriger Kortison-Therapie unter ärztlicher Aufsicht bedarf, kehrte Seina schließlich ins Lepradorf zurück und heiratete den doppelt so alten Mohammed.

    "Jahrelang habe ich davon gelebt, für andere Leute die schmutzige Arbeit zu machen. Nirgendwo war ich wirklich zuhause; und immer wieder belästigten mich Männer, die nichts wollten als Sex. – Es ist besser, verheiratet zu sein, habe ich schließlich gedacht. Und warum nicht mit Mohammed? Er ist wohlhabend und außerdem ein kluger und fürsorglicher Mann. Bei ihm weiß ich, dass er immer für mich und unsere Kinder sorgen wird."

    Immer mehr Lepraopfer wie Seina und Mohammed bauen sich eine Existenz auf; sie ernten, dank klug angelegter Bewässerung, mehr Sorghum als Bauern der Nachbardörfer, sie betreiben kooperativ Getreidemühlen und lassen ihre Kinder in Bisidimo zu Elektrikern, Automechanikern und Maurern ausbilden. Bescheidener Wohlstand breitet sich aus – der die Bewohner der Nachbardörfer Vorurteile hinterfragen lässt. Sie treiben Handel mit der Leprakolonie, feiern dort Feste, schicken ihre Kinder auf die Schule von Bisidimo. Ali Bogu zum Beispiel, Bürgermeister des Dorfes Abayi, ist erkennbar stolz auf seine guten Beziehungen zu den Lepraopfern.

    "Wir kennen das Zentrum von Bisidimo, seit es vor fast 50 Jahren gegründet wurde. Den Deutschen, die damals dort arbeiteten, haben wir sogar von unserem Land abgegeben. Eine gute Entscheidung aus heutiger Sicht: Wir haben ein Krankenhaus ganz in der Nähe; in Dürrezeiten hilft uns das Zentrum mit Getreide; wenn wir Probleme haben beim Anlegen eines Brunnens, schicken sie uns technische Hilfe. – Heute sind die Leute von Bisidimo unsere Brüder. Keiner von uns hat mehr Angst vor ihrer Krankheit; mein Cousin dort ist sogar mit einer Frau aus Bisidimo verheiratet."

    Bisidimo-Chef Ato Ahmed tut, was er kann, für die soziale Integration seiner Schützlinge. Die Erfolge jedoch, sagt er, seien lokal begrenzt.

    "Kürzlich war ich bei einer Fortbildung für Lepra- und Tuberkulose-Fachkräfte – mit Experten aus Äthiopien und mehreren anderen Ländern. Wir tranken nach einem Vortrag gerade Kaffee, als einer der Kursteilnehmer ganz verliebt eine junge Frau anblickte. 'Pass lieber auf', sagte da ein anderer. 'Sie stammt aus einer Leprakolonie'."