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Leben mit der Angst

Ein Blick in den Irak blicken, zu jenem "alten Kriegsschauplatz", von dem sich US-Präsident Barack Obama am liebsten schon gestern verabschiedet hätte. Doch wäre der Irak damit stabilisiert, befriedet? Wie steht es um die Menschen im Land, die in einer Woche ein neues Parlament wählen sollen?

Eine Sendung von Susanne El Khafif | 27.02.2010
    Die Informationen, die uns heute erreichen, sind spärlich. Weil es für ausländische Journalisten noch immer gefährlich ist, dort zu arbeiten. Und weil die Welt heute auf andere Kriege blickt, der Irak aus dem Blickfeld gerät - in dem Maße auch, in dem die amerikanischen Truppen das Land verlassen.

    Wir wollen heute versuchen, Einblicke zu geben in das, worüber man nur selten erfährt, über den Zustand, in dem sich die irakische Gesellschaft befindet; über den Alltag der Menschen, ihr Lebensgefühl, ihre Hoffnungen und Ängste. Wir haben einen Gast im Studio, Ali Taha Yassin, er wird uns berichten, er ist Arzt, war Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes, derzeit hält er sich in Berlin auf - er hat vor dem Sturz Saddam Husseins in Bagdad gearbeitet, während des Krieges und in den Jahren danach. Und wir werden Beiträge einspielen, um bestimmte Aspekte zu vertiefen.

    Im Irak haben die schweren Bombenattentate gerade in jüngster Zeit wieder zugenommen, im Oktober, im Dezember, und jetzt in den Tagen vor den Wahlen. Mit Hunderten von Toten und Verletzten. Es sind Blutbäder, die angerichtet werden - nur so kann beschrieben werden, was da passiert, Dr. Ali. Für uns hier in Deutschland ist es schwer, sich vorzustellen, wie Menschen unter solchen Umständen zurechtkommen. Können Sie erklären, wie die Menschen diesen Alltag meistern?

    Ali Taha Yassin: "Ja, Sie müssen sich das so vorstellen: Die Menschen wissen, dass sie weitermachen müssen, um zu überleben: Deshalb gehen Sie zur Arbeit. Zur Universität. Zur Schule. Die Kinder brauchen die Eltern: Deshalb kümmern sich die Eltern um sie, versorgen sie, schicken sie zur Schule. Die Menschen funktionieren. Sie leben in der "roten Zone", die Politiker in der "grünen", einem abgeriegelten Hochsicherheitsareal. Die Menschen müssen weitermachen, sie passen sich an. Ich zum Beispiel bin morgens sehr sehr früh zur Arbeit gefahren, um die rush-hour zu umgehen. Denn die Attentäter gehen immer an die belebten Ecken und Plätze. Als meine Mutter noch bei mir lebte, sagte sie immer: 'Paß auf Dich auf!' Erst später begriff sie, dass das gar nicht geht. Denn es passiert einfach, irgendwo, irgendwann."

    Susanne El Khafif: "Also sind es Hilflosigkeit, ständige Angst, die den Alltag prägen? Gewöhnt man sich auch daran?"

    Ali Taha Yassin: "Die Angst ist groß. Doch die Menschen leben seit langem damit. Und deshalb haben sie sich daran gewöhnt, auch daran, dass sie immer wieder Angehörige verlieren. Das ist unser Leben. Die Iraker machen weiter, weil sie weitermachen müssen. Sie sind in dieser "roten Zone" gefangen. Sie haben keine Wahl."

    Susanne El Khafif: "Der Alltag muss also weitergehen, trotz der Angst. Dr. Ali, wie steht es heute um die Versorgung mit Substantiellem, mit Strom, mit Trinkwasser?"

    Ali Taha Yassin: "Seit 2003, also seit dem Sturz Saddam Husseins, hat es eigentlich nie genug Strom gegeben. Die Regierung kann noch nicht einmal Bagdad ausreichend versorgen. Ich spreche für Bagdad, denn dort bin ich zuhause. Es gibt maximal zwei Stunden Strom, dann vier Stunden gar keinen, dann, wenn es gut aussieht, gibt es vielleicht nochmals zwei Stunden Strom. So geht das jeden Tag. Im Sommer ist es noch schlimmer. Manchmal gibt es tagelang keine öffentliche Stromversorgung. Und das ist hart. Denn die Sommer sind sehr heiß, mit mehr als 55 Grad Celsius. Die Menschen brauchen klimatisierte Räume. Sie leiden sehr unter der Hitze, und haben trotzdem Angst, nachts auf den Dächern zu schlafen, wo es kühler ist. Sie können sich nicht vorstellen, was da nachts an Geschossen auf Sie niederfallen kann."

    Susanne El Khafif: "Und wie steht es um das Trinkwasser?"

    Ali Taha Yassin: "Das Leitungswasser ist nicht sauber. Die meisten Iraker trinken daher Wasser aus der Flasche. Doch das ist teuer, viele können es sich's nicht leisten. Manche haben Filter. Die Regierung bemüht sich, doch der Irak hat unter vielen Kriegen gelitten, unter dreizehn Jahren Embargo, die Infrastruktur ist marode, vieles ist kaputt, das Abwasser und das Trinkwasser vermischen sich, der Wasserpegel des Tigris ist enorm gefallen. Und die Menschen wollen auch das Flußwasser nicht mehr trinken. Denn in den letzten Jahren, in denen die konfessionsbedingte Gewalt so zugenommen hat, gab es viele Leichen, die im Tigris trieben, vor allem im Raum Bagdad."

    Susanne El Khafif: "Lassen Sie uns über die öffentliche Atmosphäre sprechen, in Bagdad, wie verhalten sich die Menschen zueinander, in den Stadtvierteln, trauen sich die Menschen, ist so etwas wie Friede eingekehrt?"

    Ali Taha Yassin: "Die konfessionsbedingte Gewalt, die es vor allem in der Zeit zwischen 2005 und 2008 gab, hat Auswirkungen gehabt, auf die Bevölkerung Bagdads, gerade auf die demographische Verteilung innerhalb der Stadt. Wir haben jetzt rein sunnitische und rein schiitische Viertel, anders als früher, und die Menschen vermeiden den Kontakt miteinander. Ich kann nicht glauben, dass die Iraker sich wirklich feindlich gesonnen sind, doch die Politiker, sie nutzen die Spannungen, auch mit Blick auf die anstehenden Wahlen. Ich habe einmal in einem solchen abgetrennten Viertel gewohnt. Es war völlig isoliert, umgeben von einer mehrere Meter hohen schweren Betonwand. Nur die Bewohner, die dort wohnen und sich ausweisen können, durften das Viertel betreten. Und auch sie müssen stundenlanges Warten in Kauf nehmen, bis sie reinkönnen, bis das Auto von Soldaten durchsucht ist. Das bedeutete für mich, dass ich sehr früh zur Arbeit aufbrechen musste und sehr spät zurückkam. All das strengt an, es zermürbt die Menschen."

    Susanne El Khafif: "Der Vergleich hinkt - aber bei Ihren Beschreibungen denkt man unweigerlich an Gefängnismauern?"

    Ali Taha Yassin: "Ja, so fühlt es sich's irgendwie auch an. Ich konnte zwar raus, nach langen Kontrollen, aber keiner meiner Verwandten konnte zu mir rein. Es ist eine total militarisierte Zone. Die Regierung hat im letzten Jahr einiges für die Sicherheit leisten können, aber die großen Attentate im August, im Oktober, im Dezember haben uns alle zurückgeworfen. Die Situation jetzt vor den Wahlen ist enorm angespannt. Die Menschen haben Angst vor den Wahlen. Alles befindet sich in einer Art Stillstand, man kann kein Haus kaufen oder mieten, kein Auto, die Preise für Lebensmittel sind gestiegen - all das wegen der Wahlen."

    Das Land befindet sich in einer Art Stillstand, alles wartet auf den nächsten Sonntag, an dem die Iraker wählen sollen. Wie wichtig sind diese Wahlen? Wer wählt und wer wird gewählt? Felix de Cuveland hat für uns das Wichtigste zusammengestellt:

    Fakten zur Parlamentswahl im Irak

    6.000 Kandidaten treten an. 300 Parteien, Parteienbündnisse und Einzelpersonen stellen sich zur Wahl. Stimmberechtigt sind 15 Millionen der 27 Millionen Iraker.

    Im Ausland leben schätzungsweise zwei Millionen irakische Flüchtlinge und Vertriebene. In 16 Ländern werden sie Gelegenheit zur Stimmabgabe haben, darunter Deutschland, die Niederlande und die USA. Binnenflüchtlinge - ihre Zahl wird auf zweieinhalb Millionen geschätzt - müssen diesmal nicht in ihre Heimatprovinz zurückkehren, sie können ein Wahllokal an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort im Irak besuchen.

    Gute Aussichten, die stärkste Fraktion im neuen Parlament zu stellen, hat der schiitische dominierte Block Irakische National-Allianz von Ammar al-Hakim.

    Hakims Hauptkonkurrent ist der amtierende Ministerpräsident Nuri al-Maliki, dessen Dawa-Partei sich mit einer Reihe anderer Parteien zu einem Wahlbündnis namens "Rechtsstaat" zusammengeschlossen hat. "Rechtsstaat" präsentiert sich säkular, also nicht in erster Linie religiös definiert.

    Schwer angeschlagen - schon vor der Wahl - ist die mehrheitlich sunnitische Irakische Nationalbewegung Iraqija, nachdem ihrem Spitzenpolitiker Saleh al Mutlaq die Teilnahme untersagt wurde - unter dem Vorwurf zu enger Verbindungen zur verbotenen früheren Baath-Partei Saddam Husseins. Das weckt Befürchtungen vor einem Wiederaufflammen sunnitischer Gewalt.

    Schließlich die Kurdistan-Allianz, ein Wahl-Zusammenschluss, dem hauptsächlich die beiden großen Kurden-Parteien KDP und PUK angehören.

    Anders als 2005 stehen diesmal nicht nur Parteien und Parteibündnisse auf den Stimmzettel, sondern auch die Namen einzelner Kandidaten. Diese so genannten "offenen Listen" ermöglichen es den Wählern, korrupte und unfähige Politiker direkt abzustrafen - und anderen, die keine politische Hausmacht haben, eine Chance zu geben. Damit verbinden sich Hoffnungen auf mehr Glaubwürdigkeit, mehr Transparenz und weniger Korruption.

    Hauptthemen dieser zweiten Parlamentswahl nach dem Sturz Saddam Husseins sind die Sicherheit, die Korruption, die schlechte Versorgungslage und der Streit zwischen den Befürwortern eines starken Zentralstaats und denen, die mehr Unabhängigkeit für Provinzen und Regionen fordern.

    Begleitet werden die Wahlen von scharfen Sicherheitsvorkehrungen. Die Gewalt ist zwar seit 2007 zurückgegangen, aber die einzelnen Anschläge sind schwerer und spektakulärer als früher - so die Bombenschläge auf drei Ministerien und die Provinzverwaltung in Bagdad im Herbst vergangenen Jahres. 14 Armeedivisionen und hunderttausende Polizisten und Angehörige von Spezialeinheiten werden Wähler und Wahllokale schützen.

    Es sind die wichtigsten irakischen Wahlen seit dem Sturz Saddam Husseins. Bis Ende des Jahres sollen die amerikanischen Truppen den Irak komplett verlassen haben. Mehr denn je seit dem Sturz des Saddam-Regimes wird die Regierung also auf sich selbst gestellt sein - angesichts zahlreicher ungelöster Probleme, wie dem kurdisch-arabischen Streit um die Verwaltung des ölreichen Gebiets der ethnisch gemischten Stadt Kirkuk. Die Frage ist, ob die künftige Führung stark genug sein wird, die auseinanderdriftenden Kräfte im Inneren zu bändigen und sich im Spannungsfeld zwischen den USA, dem Iran und den sunnitisch geprägten arabischen Staaten zu behaupten.

    Susanne El Khafif: "Zurück in den Alltag der Menschen. Strom aus öffentlicher Hand gibt es nur sehr begrenzt, das Leitungswasser ist nicht trinkbar, Dr. Ali, Sie sind Arzt aus Bagdad, derzeit in Berlin, wie steht es um die medizinische Versorgung in einem Land, in dem so viele öffentliche Sektoren brachliegen. Wie würden Sie die Zustände in den Krankenhäusern beschreiben, die Kapazitäten der Ärzte..."

    Ali Taha Yassin: "Ich will mit den Ärzten anfangen, denn ohne sie kann es im Irak kein funktionierendes Gesundheitssystem geben, eines, das auch gerade die vielen Notfälle aufnehmen muss. Wir haben hier eine spezielle Situation. Die Krankenhäuser müssen jederzeit damit rechnen, dass sie eine große Zahl von Verletzten behandeln müssen. Also, was die Ärzte angeht, sind seit dem Sturz Saddam Husseins und dem Einmarsch der Amerikaner 7000 Ärzte aus dem Land geflohen, die meisten, weil sie bedroht wurden. Und mehr als 260 erfahrene Kollegen sind ermordet worden, nachdem sie gekidnappt worden waren."

    Susanne El Khafif: "Warum werden gerade sie so bedroht?"

    Ali Taha Yassin: "Weil sie zur Bildungsschicht gehören. Sie zu entführen und zu töten, hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Wir haben sehr bekannte und gute Mediziner verloren. Und wenn ein solcher Kollege umgebracht wird, dann sind 500 andere Ärzte verängstigt und wollen das Land verlassen. Auf diese Weise kann man eine ganze Gesellschaft von innen zerstören."
    Susanne El Khafif: "Und ein solch erfahrener Mediziner kann auch andere nicht mehr unterrichten und ausbilden..."

    Ali Taha Yassin: "Fast alle meine Lehrer sind mittlerweile geflohen. 90-95 Prozent von ihnen. Sie arbeiten in den Nachbarstaaten, oder in England. Übrigens auch viele Krankenschwestern. Und Sie haben recht, wenn die meisten erfahrenen Ärzte und Spezialisten außer Landes oder tot sind, dann gibt es keine Lehrer mehr für den Nachwuchs. Für die, die heute in den Krankenhäusern arbeiten müssen. Sie brauchen Anleitung und Unterstützung. Denn sie müssen jeden Tag neu zurechtkommen."

    Susanne El Khafif: "Dr. Ali, Sie haben auch in der Notaufnahme gearbeitet. Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen?"

    Ali Taha Yassin: "Die Explosionen finden jeder Zeit, in irgendeiner Straße statt. Meistens am Tage, weil dann die Zahl der Opfer größer ist. Innerhalb einer halben Stunde kommt die Polizei, die Menschen stehen unter Schock, die Situation ist chaotisch. Sie bluten, schreien, schreien um Hilfe. Dann beginnen Umstehende zu helfen, sie bringen die Verletzten ins Krankenhaus. So wie auch die Rettungswagen, die von einer Zentrale aus koordiniert werden. Das heißt, dass anfangs alle Verletzten zu dem Krankenhaus kommen, das am nächsten liegt. Und jetzt stellen Sie sich die Situation für die Ärzte vor, die überhaupt nicht wissen, was an diesem Tag auf sie zukommt, weder, wie viele Menschen kommen, noch welche Verletzungen sie haben. Ich habe in einer solchen Notaufnahme gearbeitet, und ich habe mich schrecklich hilflos gefühlt. Die Ärzte tuen alles, um die Patienten zu retten, obwohl sie so wenig technische Ausstattung haben, so wenig Schulung, und wenig Medikamente. Und so sind - wenn 100 Unfallopfer kommen - in der Regel 50 von ihnen am nächsten Tag nicht mehr am Leben."

    Susanne El Khafif:´"Wenn bei uns die Nachricht von einem neuen Attentat in Bagdad, Mosul, Kirkuk oder Kerbela über den Sender geht, dann denkt der eine oder andere sicher, "Gott sei Dank, viele haben überlebt!" Aber was heißt es, im Irak zu überleben?"

    Ali Taha Yassin: "Ich habe festgestellt, dass die meisten Überlebenden schwere Verwundungen haben, es sind typische 'Kriegswunden', sie treffen das Gesicht, die Gliedmaßen, den Bauch. Das heißt, diese Menschen brauchen viele, viele Operationen danach. Die Ärzte tun, was sie können, aber wir haben diese exzellenten Spezialisten nicht mehr, so dass viele - auch viele Kinder - mit den Verbrennungen leben müssen, mit entstellten Gesichtern, mit Amputationen, mit dem Verlust des Augenlichts."

    Susanne El Khafif: "Wir sprachen über die öffentliche Sicherheit, die Korruption ist ebenfalls ein ganz wichtiges Thema - wie viel können staatliche Stellen verbessern, wie viel die Menschen?"

    Ali Taha Yassin: "Die Iraker können eine Menge tun. Um das, was seit 2003, aber auch das, was vor dem Einmarsch der Amerikaner geschah, zu überwinden. Sie müssen vor allem daran arbeiten, ihre Akademiker und Fachleute zu halten. Sie müssen das Land wieder aufbauen. Es ist hart, mit ansehen zu müssen, wie jeder nur das Land verlassen will. Alles zurücklässt, die Arbeit, das Haus, um woanders zu leben, um zumindest in Sicherheit zu leben."

    Susanne El Khafif: "Und das steht im krassen Widerspruch zur Zeit früher, in der der Irak auch für andere attraktiv war. Das irakische Gesundheitssystem war einmal sehr weit entwickelt..."

    Ali Taha Yassin: "Das ist richtig. In den 70er-Jahren hatten wir das beste Gesundheitssystem im Mittleren Osten. Viele kamen, um sich bei uns behandeln zu lassen. Für die Einheimischen war die Behandlung umsonst. Wir waren so stolz auf unsere medizinischen Fakultäten, auch ich war es. Aber wenn ich jetzt meine Verwandten frage, die gerade studieren, dann erzählen sie mir, dass sie noch nicht einmal Ärzte haben, die sie unterrichten."

    Die medizinischen Fakultäten im Irak liegen brach. Doch es trifft nicht nur sie. Es trifft die gesamte akademische Lehre. Und das stellt auch den Wiederaufbau des Landes in Frage. Denn aus akademischen Kreisen müssen Impulse kommen, die den Aufbau voranbringen. Mona Naggar über die Zustände an den Universitäten heute:

    Hochschulen im Irak

    Die Universitäten im Irak sind längst zu einem weiteren Schauplatz der politischen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen und Anhängern des ehemaligen Regimes geworden. Mit Einschüchterung, Todesdrohungen, Bomben- und Mordanschlägen terrorisieren sie den Lehrbetrieb.

    Unter dem früheren Regime kontrollierten der Studentenverband und der Geheimdienst das Leben auf dem Campus. Als diese totale Überwachung verschwand und demokratische funktionstüchtige Institutionen fehlten, brach das Chaos aus. Falih Abdaljabbar ist Soziologe und Direktor des Zentrums für Irakische Studien in Beirut. Er beschreibt die Vorkommnisse an den Universitäten im Zweistromland als systematische politische Gewalt, an der alle Seiten beteiligt sind:

    "Die islamistischen Parteien sind sehr mächtig geworden, auch an den Hochschulen. Die Milizen, Ableger dieser Parteien, tragen sogar auf dem Gelände einiger Universitäten Waffen und erzwingen die Herausgabe der Prüfungsfragen. Es kommt auch vor, dass sie sich gegenseitig bekämpfen. Das ist etwa an der Mustansiriya Universität im letzten Herbst passiert. Die Studierenden richten auf dem Campus sunnitische oder schiitische religiöse Feiern aus. An diesen Tagen ist kein Unterricht möglich. Überall hängen Bilder von religiösen und politischen Führern. Obwohl das alles gegen die Regeln auf dem Unigelände verstößt, sind Studierende und Professoren, die diese Zustände kritisieren, machtlos. Die Hochschulverwaltungen gehören entweder einer Partei an oder sind derart eingeschüchtert, dass sie sich nicht durchsetzen können."

    Aber der Terror ist nur ein Problem an irakischen Hochschulen. Besorgniserregend ist auch das Niveau der akademischen Lehre. In den 70er- und 80er- Jahren galt das irakische Hochschulsystem, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften, als Vorbild für den Nahen Osten. Zu Beginn der 90er-Jahre mit dem Embargo infolge des zweiten Golfkrieges, dem Bankrott des Staates und der massiven Auswanderung begann der Abstieg. Der wissenschaftliche Austausch mit dem Ausland kam zum Erliegen. Der Bücherbestand der Universitätsbibliotheken und die Lehrpläne sind völlig veraltet. Falih Abdaljabbar hat mit einer Gruppe Wissenschaftlern die Qualität einiger geisteswissenschaftlicher Fächer untersucht. Das Ergebnis ist katastrophal:

    "Die Philosophie hört in den 50er-Jahren mit Sartre auf. Für die meisten Soziologiestudenten sind Foucault und Habermas unbekannte Namen. Die Textbücher, die den Studierenden ausgehändigt werden, sind 30 Jahre alt."

    Der Irak ist zurückgeworfen, um Jahrzehnte, was seine akademische Lehre betrifft - und das hat Auswirkungen auch auf die Schulen und Kindergärten. Wir wollen uns jetzt den Frauen und Mädchen im Land zuwenden, von ihnen ist nur selten zu hören - gleichwohl ihre Situation aussagekräftig ist für den Zustand, in dem sich die irakische Gesellschaft heute befindet.

    Susanne El Khafif: "Dr. Ali, wie ergeht es den Frauen und Mädchen in Ihrem Land?

    Ali Taha Yassin: "Die meisten Frauen haben jemanden verloren, der für ihren Unterhalt aufgekommen ist. Und jetzt sind sie von entfernteren Verwandten oder anderen abhängig. Der Staat hilft kaum, vor allem reicht die staatliche Unterstützung nicht, um im Irak leben zu können. Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten Jahren explodiert. Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher. Hinzu kommt: Als die Amerikaner die irakische Armee auflösten, wurden von heute auf morgen eine Million Männer arbeitslos, das heißt, sie saßen, sie sitzen zuhause herum und das läßt die Spannungen in den Familien zunehmen. Es gibt kein Geld. Jetzt sind es die Frauen, die rausgehen, die Arbeit suchen, die versuchen, sich weiterzubilden. Viele haben auch ihre Kinder verloren, ihre Mutter oder ihren Bruder - das alles bedrückt sie und belastet sie in großem Ausmaß. Gerade habe ich in den Nachrichten gehört, dass die Regierung ein neues Gesetz durchsetzen will, zum Schutz der Frauen vor Gewalt. Und das heißt doch, dass wir heute eine Menge schlimmer Vorfälle haben."

    Frauen im Irak - Suzanne Krause hat für uns zusätzliche Informationen zusammengestellt:

    Gewalt gegen Frauen

    Von einem Gesetz gegen Häusliche Gewalt träumen auch Frauen im Irak. Denn sie haben - hinter verschlossenen Türen - immer mehr unter ihr zu leiden. Weil wegen der mangelnden Sicherheit, der katastrophalen Wirtschaftslage im Alltag viele Männer zunehmend die Beherrschung verdienen und gewalttätig werden. Häusliche Gewalt gilt weiterhin als Privatsache. Über die eine gute Ehefrau nichts nach aussen trägt, wie viele Mütter ihren Töchtern vor der Hochzeitsnacht vorbeten. Und dass es der Regierung wirklich ernst ist mit einem Gesetz gegen häusliche Gewalt, bezweifelt nicht nur die Frauenrechtlerin aus Bagdad, die anonym bleiben möchte.

    "2003 noch hofften wir Irakerinnen, wir hätten keine Probleme zu befürchten. Wir wurden schnell enttäuscht. Kaum waren die amerikanischen Besatzer einmarschiert, kaum war die Übergangsregierung im Amt, wurde klar: die neue irakische Führungsschicht ist gegen die Frauen, gegen unsere Teilhabe am täglichen Leben. Nicht nur in der Politik, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die damalige Übergangsregierung zählte 25 Mitglieder, darunter gerade mal drei Frauen. Es waren die schwächsten Politikerinnen, die sie auftreiben konnte."

    Als Saddam Hussein 2003 gestürzt wurde, blickten 90 Prozent der Irakerinnen optimistisch in die Zukunft ihres Landes. Das dokumentiert eine Umfrage der Frauenhilfsorganisation "Women for Women International". 2007, bei einer erneuten Befragung, teilten nur noch 27 Prozent diesen Optimismus, während die Mehrheit fürchtete, dass sie selbst oder ihre Familie Opfer von Gewalt werden könnte. Und jede zweite Befragte gab an, sich nicht von der Polizei beschützt zu fühlen; im Landesinneren meinten das sogar fast alle befragten Frauen.

    Als vor fünf Jahren die neue irakische Verfassung ausgearbeitet wurde, waren die Rechte von Frauen noch ein wichtiges Thema. Im endgültigen Text ist davon so gut wie nichts mehr zu finden. Das hat Folgen:

    Frauen fühlen sich heute nicht nur bedroht und ihre Hoffnungen sind fast gänzlich geschwunden. Ungeschützt durch eine adäquate Verfassung hat die Realität ihre Befürchtungen längst überholt: Die Gewalt für Frauen ist nachweislich rapide gestiegen. Das bestätigt auch eine Bilanz, die die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" bereits im vergangenen März zieht. Zitat:

    "Im Irak erleiden Frauen und Mädchen systematische Gewaltakte sowie die konstante Beschneidung ihrer Rechte. Neben Attentaten und anderen Angriffen, die im Alltagsleben viele Menschen bedrohen, sind die Irakerinnen zudem Zielscheibe spezieller Gewaltakte- weil sie Frauen sind."

    Dazu gehört, dass die Zahl der sogenannten "Ehrenmorde" nach oben schnellt. Dazu gehört, dass mittlerweile sogar Mädchen in der Grundschule den Ganzköperschleier anlegen, aus Angst vor Übergriffen radikaler Fundamentalisten. Wobei: drei von vier Familien schicken ihre Töchter gleich gar nicht mehr zum Unterricht. Fundamentalisten nehmen ebenfalls Frauen in "Männerjobs" ins Visier: Politikerinnen, Journalistinnen, Beamtinnen. Gefahr droht allen Irakerinnen längst nicht nur von religiösen Eiferern. Die Zahl der Vergewaltigungen ist stark gestiegen. Die Täter: Mitglieder der bewaffneten islamistischen Armeen, der Milizen, der Regierungstruppen, Soldaten der ausländischen Besatzungstruppen, listet "Amnesty International" auf. Zudem gelten, laut Schätzungen der "Vereinten Nationen", 2.000 Irakerinnen als verschollen, die Dunkelziffer ist höher. Potentielle Opfer von Menschenhändlerringen. Denn in den vergangenen Jahren zwingen Kriminelle oder auch die wirtschaftliche Not mehr und mehr Frauen in die Prostitution, in die sexuelle Ausbeutung.

    Faheema Rzaij, Soziologin an der Universität in Bagdad, forscht dazu. Und hält fest: das Thema ist ein Tabu, für die Regierung wie auch für die Gesellschaft. Seit 2003 hat sich im Land viel verändert, sagt sie, für die Frauen zum Schlechten:

    "Der Einmarsch der Amerikaner löste das schlimmste Desaster aus. Und er hatte massive Korruption und den Abbau der sozialen Beziehungen zur Folge. Dabei brachen die sozialen Netzwerke und Hilfseinrichtungen im Land zusammen. Damit gibt es für Hilfsbedürftige kaum mehr offizielle Anlaufstellen, die sie unterstützen würden."

    Susanne El Khafif: "Frauen müssen in Kriegs- und Krisenzeiten besonders zurückstehen, und: sie sind zusätzlichen Gefahren ausgesetzt. Dabei haben viele, nach dem Ende des Embargos und dem Regimewechsel, auf Besserung gehofft. Dr. Ali, können Sie sich noch daran erinnern, was Sie erhofften, als die Amerikaner kamen - waren Sie optimistisch?"

    Ali Taha Yassin: "Ja, ich war optimistisch. Dass das Regime abgesetzt wird, dass die Amerikaner einen sehr guten Plan haben, die Situation unter Kontrolle zu bringen, dass sie die Ministerien schützen, ja, dass alles besser werden würde. Für uns Ärzte, für die Iraker. Nach 13 Jahren Embargo. Die Menschen waren verzweifelt, sie sehnten sich nach Bildung, nach einem Anschluss an die Welt - so wie in den 70er-Jahren. Doch ich musste feststellen, dass die Amerikaner überhaupt keinen Plan hatten. Sie haben sogar zugelassen, dass die Ministerien ausgeraubt und niedergebrannt wurden. Sie haben nur das Ölministerium geschützt. Es war schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sogar unser Nationalmuseum den Plünderern zum Opfer fiel. Und wir Ärzte, was hatten wir von unserer neuen rosaroten Zukunft geträumt, doch dann kamen die Attentate, die Explosionen, die Spannungen zwischen den Religionsgruppen."

    Susanne El Khafif: "Die Erwartungen waren hoch. Lassen Sie uns einen realistischen Blick in die Zukunft werfen. Die Amerikaner haben die Städte verlassen, 2011 sollen die meisten Soldaten das Land verlassen haben. Es wird in einer Woche Wahlen geben."
    Ali Taha Yassin: "Ich werde versuchen, optimistisch zu bleiben. Bei jedem Attentat hoffe ich, dass es das Letzte war. Und dann stelle ich fest, dass es immer weitergeht. Ich frage mich oft, was aus unserem Land wird, wohin es geht? Wie wir Iraker uns schützen können, was die Politiker tun, wie es den Armen ergeht, den zwei Millionen Flüchtlingen im Ausland, den vielen anderen, die im Land kein Zuhause mehr haben. Und wo ich dabei bleibe. Der Irak ist mein Heimatland, Bagdad mein Zuhause. Die Iraker müssen sich selbst schützen, das ist es, was ich weiß. Sie können die Amerikaner nicht im Land lassen. Der Irak gehört den Irakern. Sie wissen am besten, wie sie sich und die Situation kontrollieren können. Die Amerikaner dürfen nicht für immer bleiben."

    Susanne El Khafif: "Und die Wahlen? Sind Sie ein Schritt in die richtige Richtung?"

    Ali Taha Yassin: "Nach den letzten Wahlen war ich sehr enttäuscht. Denn die Leute hatten sich für überwiegend für Kandidaten der jeweiligen Religionsgemeinschaften entschieden. Ich wünsche mir, dass die Iraker aus den letzten Jahren gelernt haben, dass sie gelernt haben, Politikern, die religiös daherreden, nicht mehr zu trauen. Die Politiker leben in der "green zone", sie haben gute Gehälter und werden von den Amerikanern geschützt. Die anderen aber kämpfen jeden Tag neu um's Überleben. Die Iraker sollten sich diesmal genau überlegen, wem sie ihre Stimme geben. Die gebildeten Leute müssen das Land retten. Ja, das ist es..."

    Das war unsere Sendung "Eine Welt", das Thema: "Leben mit der Angst: Alltag im Irak". Unser Gesprächspartner war Dr. Ali Taha Yassin, er kommt aus Bagdad, er ist Arzt und hat in den vergangen Jahren im Irak gearbeitet.