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Leben mit der Atomanlage Tricastin

Die französische Atomanlage Tricastin bei Avignon vereint auf sechs Quadratkilometern nicht nur ein Kernkraftwerk mit vier Reaktoren, sondern auch über ein halbes Dutzend weiterer Atombetriebe. Die Bevölkerung lebt seit über vier Jahrzehnten mit der Atomindustrie, die mehr als 6000 Menschen Arbeit gibt und die Gemeinden Bollène, Pierrelatte und Saint Paul Trois Chateaux, sowie zwei Departements mit Gewerbesteuern geradezu überhäuft. Hans Woller ist einer knapp 30-jährigen Gewerkschafterin, begegnet, die im Atomkraftwerk von Tricastin arbeitet.

    Virginie Neumayer, die junge Delegierte der Gewerkschaft CGT im AKW Tricastin, ausgebildet als Strahlenschutzspezialistin, schaut ohne besondere Aufregung auf den Güterzug, der gerade auf das Gelände der gegenüber liegenden Urananreicherungsanlage rollt, beladen mit Stahlcontainern, die verbrauchte oder wiederaufgearbeitete Brennstäbe enthalten. Die Störfälle dieses Sommers haben Spuren hinterlassen, sie sieht erschöpft aus und sagt, nun sei noch dringender, was ihre Gewerkschaft neuerdings fordert: eine Langzeituntersuchung über den Gesundheitszustand der Atomarbeiter in ganz Frankreich.

    In der Baracke, die den Gewerkschaften zwischen dem überfüllten Mitarbeiterparkplatz und dem streng bewachtem Eingang des AKWs als Büro dient, verfinstert sich ihr Blick wenn sie auf die Ursachen der Störfallserie des Sommers zu sprechen kommt.

    "Seit einigen Jahren wird die Dauer der Reaktorstopps für Wartungsarbeiten immer kürzer. Und man hat immer weniger Mittel zur Verfügung, weil die Kosten für die Wartung drastisch reduziert werden. Diese Politik bringt im Betrieb der AKWs eine Reihe von Problemen mit sich. Der Störfall vom 23. Juli 2008 ist ein schlagender Beweis dafür. Um Zeit zu gewinnen, hat man bei Wartungsarbeiten Pressluft durch den Kreislauf geblasen, was radioaktiven Staub freigesetzt und zu einer leichten Kontaminierung von rund 80 Arbeitern geführt hat, die noch im Reaktor tätig waren."

    Ihre größte Sorge, was die Sicherheit im Atomkraftwerk angeht, ist, dass immer mehr Arbeiten von schlecht bezahlten Zeitarbeitern, die bei Subunternehmen angestellt sind, ausgeführt werden - sie weiß, wovon sie spricht. Vor ihrer Festanstellung beim französischen AKW Betreiber EDF hat sie selbst bei einem Subunternehmen gearbeitet, das seine Angestellten wochenweise in den unterschiedlichsten Kernkraftwerken quer durch Frankreich einsetzte. Außerdem stört sie eine andere Entwicklung der letzten Jahre in Frankreichs Atomkraftwerken, die sie hier in Tricastin auch erlebt:

    "Das AKW Tricastin ist wie andere auch seit fast 30 Jahren in Betrieb. Die Generation des Babybooms geht jetzt massiv in Rente und was Aus- und Weiterbildung angeht, ist man nicht auf der Höhe. Es mangelt an Fachkräften für die Wartungsarbeiten in einem langsam alternden AKW, an spezialisierten Schweißern zum Beispiel, um die Kompetenzen an die nachfolgende Generation weitergeben zu können."

    Die rundliche Frau mit der angekratzten Stimme sagt, das Misstrauen der Kollegen sei nach den jüngsten Störfällen nicht größer geworden, aber die Atomindustrie sei eben nicht eine Industrie wie jede andere auch. Auch sie ist, wie die allermeisten französischen Gewerkschafter durchaus nicht gegen die Kernenergie, ja ihre Gewerkschaft hat sich erst jüngst offiziell sogar für den Bau eines zweiten europäischen Druckwasserreaktors ausgesprochen. Und doch ist Virginie Neumayer persönlich nicht ganz frei von Skepsis

    "Fragen stellt man sich immer im Alltag, wenn man in einem Risikobetrieb arbeitet, und die Fragen werden sich für mich vielleicht in 20 oder 30 Jahren verstärkt stellen. Ich habe die Wahl, die ich getroffen habe, nie bereut, aber ich stelle mir in der Tat ständig Fragen über meine berufliche Tätigkeit und die Probleme dabei."