Jedes Mal, wenn Paul Tillo auf sein Feld hinausgeht, wird er daran erinnert, dass er nicht freiwillig in das estnische Dorf Värska gezogen ist. Direkt hinter dem Acker erhebt sich ein hoher Stacheldrahtzaun, der mit gelben Schildern das Betreten des Waldes verbietet.
"Dort ist die russische Grenze. Ich habe immer hier in Värska gearbeitet, und bin früher durch den Wald nach Hause gegangen. Mein Dorf liegt vier Kilometer entfernt, das sind gerade mal 20 Minuten zu Fuß. Aber als Estland unabhängig wurde, durfte ich nur noch den Grenzübergang benutzen, und benötigte jedes Mal ein Visum. Das war zu teuer und ein Umweg von 40 Kilometern. Deshalb musste ich mir hier eine Bleibe suchen."
Paul Tillo kann so leicht nichts aus der Ruhe bringen. Er ist ein Mann Mitte 60, schlank, trägt Gummistiefel und Wetterjacke, und hat das weiße, kurz geschorene Haar unter seiner grauen Schirmmütze versteckt. Er sei froh, dass er für wenig Geld den kleinen Hof habe kaufen können, meint er. Mittlerweile hat er die völlig heruntergekommenen Wirtschaftsgebäude zu einem schmucken Anwesen renoviert.
Aber wenn er beginnt, von seinem estnischen Dorf Birste zu erzählen, das heute in Russland liegt, kann es sein, dass er schon Mal das Gesicht verzieht:
"Wir sind "Setu" und haben schon zu Zeiten der Zaren in Birste gelebt. Mehr als 60 "Setu"-Familien gab es dort. Ich bin 1939 geboren, da lag unser Dorf noch in Estland. Aber als ich in die Schule ging, 1948, gehörten wir plötzlich zur Sowjetunion. Im Alltag spürten wir davon ja nichts. Sonntags kamen wir hierher nach Värska zum Gottesdienst, wo unser Priester sowohl russisch, als auch estnisch sprach."
Noch immer findet Sonntagmorgens in der kleinen Kirche von Värska ein orthodoxer Gottesdienst statt. Und die meisten Gläubigen sind wie Paul Tillo so genannte "Setu": So nennen sich die christlich-orthoxen Esten, die schon seit Generationen im Südosten Estlands zu Hause sind.
Im Sozialismus hatten die Kommunisten die ehemalige Grenze der Estnischen Republik weiter in Richtung Moskau verlegt. Und als Estland sich vor 16 Jahren die Freiheit erkämpfte, ließ der Kreml sofort einen Grenzzaun durch die Siedlungen der "Setu" ziehen. Wer sich plötzlich auf der russischen Seite wieder fand, setzte alles daran, die Seiten zu wechseln. Wie die Tillos zum Beispiel.
Pauls Frau Lena arbeitete auf der russischen Seite in einer Hühnerfarm. In den ersten Jahren der estnischen Unabhängigkeit gab es noch keinen kleinen Grenzverkehr und so konnte Lena Tillo ihren Mann nur sehen, wenn sie alle Grenzformalitäten hinter sich gebracht hatte:
"Dort zu leben, wurde immer bedrückender. Manchmal kamen nachts russische Grenzsoldaten in unseren Garten, stahlen Beeren und Früchte. Sie waren zu sechst oder zu acht mit großen Hunden. Ich war ja immer allein und hatte furchtbare Angst. Und Paul durfte mich nur einmal im Monat kostenlos besuchen. Mich musste er einladen, es dauerte lange bis ich ein Visum bekam, aber endlich erhielt ich meinen estnischen Pass."
Den Hof, auf der russischen Seite, mussten die Tillos unter Wert verkaufen, weil er im unattraktiven Grenzgebiet liegt. Und auch ihr Wunsch nach einem sorglosen Leben in einem Estland, das heute zur Europäischen Union gehört - und über eine rasch wachsende Wirtschaft verfügt - hat sich für Paul und Lena Tillo nicht erfüllt:
"Natürlich sind die Gehälter in Russland viel kleiner als hier. Aber meine Rente reicht auch für Estland nicht. Im ersten Jahr waren es 50 Euro, heute sind es 120. Die Estnische Regierung rechnet meine Arbeitsjahre auf der Kolchose einfach nicht an, weil sie nach dem neuen Grenzverlauf in Russland gelegen hatte. Ich habe mein ganzes Leben lang Hühner versorgt und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet. Aber eine Rente geben sie mir nicht. Zum Glück war ich noch zwei Jahre in der Mineralwasserfabrik von Värska angestellt, sonst wäre ich völlig leer ausgegangen."
Heute haben sich Paul und Lena Tillo mit der neuen Grenze arrangiert. Regelmäßig besuchen sie die Gräber ihrer Verwandten auf dem Friedhof von Värska - wie es sich für einen gläubigen "Setu" gehört. Und froh sind die Tillos über ihr kostenloses Jahresvisum, das ihnen sogar die Grabpflege in Russland erlaubt.
"Dort ist die russische Grenze. Ich habe immer hier in Värska gearbeitet, und bin früher durch den Wald nach Hause gegangen. Mein Dorf liegt vier Kilometer entfernt, das sind gerade mal 20 Minuten zu Fuß. Aber als Estland unabhängig wurde, durfte ich nur noch den Grenzübergang benutzen, und benötigte jedes Mal ein Visum. Das war zu teuer und ein Umweg von 40 Kilometern. Deshalb musste ich mir hier eine Bleibe suchen."
Paul Tillo kann so leicht nichts aus der Ruhe bringen. Er ist ein Mann Mitte 60, schlank, trägt Gummistiefel und Wetterjacke, und hat das weiße, kurz geschorene Haar unter seiner grauen Schirmmütze versteckt. Er sei froh, dass er für wenig Geld den kleinen Hof habe kaufen können, meint er. Mittlerweile hat er die völlig heruntergekommenen Wirtschaftsgebäude zu einem schmucken Anwesen renoviert.
Aber wenn er beginnt, von seinem estnischen Dorf Birste zu erzählen, das heute in Russland liegt, kann es sein, dass er schon Mal das Gesicht verzieht:
"Wir sind "Setu" und haben schon zu Zeiten der Zaren in Birste gelebt. Mehr als 60 "Setu"-Familien gab es dort. Ich bin 1939 geboren, da lag unser Dorf noch in Estland. Aber als ich in die Schule ging, 1948, gehörten wir plötzlich zur Sowjetunion. Im Alltag spürten wir davon ja nichts. Sonntags kamen wir hierher nach Värska zum Gottesdienst, wo unser Priester sowohl russisch, als auch estnisch sprach."
Noch immer findet Sonntagmorgens in der kleinen Kirche von Värska ein orthodoxer Gottesdienst statt. Und die meisten Gläubigen sind wie Paul Tillo so genannte "Setu": So nennen sich die christlich-orthoxen Esten, die schon seit Generationen im Südosten Estlands zu Hause sind.
Im Sozialismus hatten die Kommunisten die ehemalige Grenze der Estnischen Republik weiter in Richtung Moskau verlegt. Und als Estland sich vor 16 Jahren die Freiheit erkämpfte, ließ der Kreml sofort einen Grenzzaun durch die Siedlungen der "Setu" ziehen. Wer sich plötzlich auf der russischen Seite wieder fand, setzte alles daran, die Seiten zu wechseln. Wie die Tillos zum Beispiel.
Pauls Frau Lena arbeitete auf der russischen Seite in einer Hühnerfarm. In den ersten Jahren der estnischen Unabhängigkeit gab es noch keinen kleinen Grenzverkehr und so konnte Lena Tillo ihren Mann nur sehen, wenn sie alle Grenzformalitäten hinter sich gebracht hatte:
"Dort zu leben, wurde immer bedrückender. Manchmal kamen nachts russische Grenzsoldaten in unseren Garten, stahlen Beeren und Früchte. Sie waren zu sechst oder zu acht mit großen Hunden. Ich war ja immer allein und hatte furchtbare Angst. Und Paul durfte mich nur einmal im Monat kostenlos besuchen. Mich musste er einladen, es dauerte lange bis ich ein Visum bekam, aber endlich erhielt ich meinen estnischen Pass."
Den Hof, auf der russischen Seite, mussten die Tillos unter Wert verkaufen, weil er im unattraktiven Grenzgebiet liegt. Und auch ihr Wunsch nach einem sorglosen Leben in einem Estland, das heute zur Europäischen Union gehört - und über eine rasch wachsende Wirtschaft verfügt - hat sich für Paul und Lena Tillo nicht erfüllt:
"Natürlich sind die Gehälter in Russland viel kleiner als hier. Aber meine Rente reicht auch für Estland nicht. Im ersten Jahr waren es 50 Euro, heute sind es 120. Die Estnische Regierung rechnet meine Arbeitsjahre auf der Kolchose einfach nicht an, weil sie nach dem neuen Grenzverlauf in Russland gelegen hatte. Ich habe mein ganzes Leben lang Hühner versorgt und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet. Aber eine Rente geben sie mir nicht. Zum Glück war ich noch zwei Jahre in der Mineralwasserfabrik von Värska angestellt, sonst wäre ich völlig leer ausgegangen."
Heute haben sich Paul und Lena Tillo mit der neuen Grenze arrangiert. Regelmäßig besuchen sie die Gräber ihrer Verwandten auf dem Friedhof von Värska - wie es sich für einen gläubigen "Setu" gehört. Und froh sind die Tillos über ihr kostenloses Jahresvisum, das ihnen sogar die Grabpflege in Russland erlaubt.